Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 21.06.2014
Ein christliches Dorf im Irak nimmt unter dem Schutz
kurdischer Soldaten muslimische Flüchtlinge auf.
ALQOSH. Es herrscht eine andächtige Stille. Man würde eine
Nadel fallen hören. Dann fällt der Mann auf die Knie und beginnt zu singen,
bald klagend, bald jubilierend. Es ist ein Jahrhunderte alter Psalm. Im Chorgestühl
der kleinen Kirche des Heiligen Georg nehmen 15 Männer die Melodie auf,
verstummen schon bald und werden von den Frauen abgelöst, die auf den hinteren
Bänken Platz genommen haben. Vorne, am Altar, schwenkt ein Ministrant ein
Weihrauchfass und nebelt die ganze Apsis ein. Alqosh, ein christliches Dorf im
Norden des Irak, feiert Fronleichnam.
Es sind nur 30 Kilometer hinüber nach Mossul, der
Dreimillionenstadt am Tigris, die seit bald zwei Wochen von den Dschihadisten
des Isis (Islamischer Staat in Syrien und im Irak) kontrolliert wird. In Alqosh
fühlt man sich trotzdem sicher. Schwer bewaffnete Peschmerga, kurdische
Soldaten, bewachen den Zugang zum Dorf, das sich mit seinen eng verschachtelten
Steinhäusern an den Berg anschmiegt. Auf der Überlandstraße, die unten im Tal
längs führt, haben die Peschmerga Checkpoints eingerichtet. Ein junger Kurde
mit umgehängter Kalaschnikow bringt den Besucher zum Priester.
Ghazwan Baho, 43 Jahre alt, erscheint in schwarzer Hose und
schwarzem Hemd mit weißem Kollar, dem ringförmigen Stehkragen. Jeden Tag um
6.30 Uhr hält er seinen Frühgottesdienst. Außer im Oktober und im November.
Dann doziert er an der Päpstlichen Universität Urbaniana in Rom semitische Sprachen:
Arabisch und auch die Sprache, die hier in Alqosh alle sprechen, weil es ihre
Muttersprache ist: Aramäisch, das in einer eigenen Schrift geschrieben wird. „Das
älteste Evangelium, dasjenige von Matthäus, wurde auf Aramäisch verfasst“, sagt
der Pater und Professor. Es ist die Sprache, in der – gewiss in einer älteren
Variante – wahrscheinlich Jesus gesprochen hat. Es ist auch heute noch die
Alltagssprache der chaldäischen Katholiken, der größten der fünf christlichen
Gemeinschaften des Irak. Sie erkennen den Papst im Vatikan als ihr Oberhaupt an,
haben aber ihre eigene, orientalische Liturgie.
„Es gibt hier drei Kirchen und fünf Klöster, das älteste
stammt aus dem Jahr 627“, sagt Ghazwan Baho, der selbst aus dem Ort stammt, in
Alqosh leben ausschließlich Chaldäer.“ Lebten. Denn die 6.000 Christen - im
wesentlichen Bauern- und Hirtenfamilien, Industrie gibt es keine - haben 1.500
Flüchtlinge aufgenommen, vier Fünftel von ihnen Muslime. Sie sind in einem der
beiden Schulhäuser untergekommen oder eben bei Familien. Die UNHCR, das Internationale Rote Kreuz und die deutsche
Caritas liefern Lebensmittel.
„Wir leiden keinen Hunger“, sagt der 70-jährige Ahmed, der
wie alle Flüchtlinge hier seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung sehen
will, „es geht uns gut. Man hilft uns.
Aber wir sind hier eben doch Fremde. Sie haben hier eine andere Kultur. Wir
wollen nicht stören. Wir gehen wieder zurück. Wir danken für die Aufnahme.“
Sein Sohn, Mohammed, ein Ingenieur, der eine rot-weiße Kefija um seinen Kopf
geschlungen hat, ist gesprächiger. Er berichtet, wie die 14-köpfige Großfamilie
am Tag, an dem die Dschihadisten in Mossul einfielen und überall Schüsse
fielen, Lebensmittel und Kleider zusammenrafften und in drei Autos nach Alqosh
flüchteten. Und Loqman, Ahmeds 20-jähriger Enkel, Student, sagt, er habe zehn
erschossene Polizisten gesehen, die ersten Toten in seinem Leben.
Es ist eine schiitische Familie, die sich, nach
Geschlechtern getrennt, in zwei Zimmern des Schulhauses eingerichtet hat. Die
Dschihadisten von Isis, die sich selbst zu den Sunniten zählen, halten Schiiten
für Häretiker, vom rechten Glauben Abgefallene, und mit Ketzern haben sie kein
Erbarmen. Schiit ist – wie 60 Prozent der Iraker - auch Nuri al Maliki, der Ministerpräsident
im fernen Bagdad. Die Sunniten hält er von der Macht fern. Und sie werden von
Isis offenbar in Ruhe gelassen, sofern sie nicht Amtsträger, Polizisten oder
Soldaten sind. Vorerst jedenfalls.
„Wenn sie ihre Machtposition einmal gefestigt haben, werden
sie durchgreifen“, befürchtet Fadi, der mit seiner Frau und den beiden Kindern bei
einer christlichen Familie untergekommen ist, „man kennt das aus Syrien.“ In
der Tat haben die Dschihadisten dort in den von ihnen kontrollierten Gebieten,
Rauchen und Musik verboten und schon öffentliche Hinrichtungen durchgeführt.
Fadi ist Buchhalter. Als assyrischer Christ kann er nicht zurückkehren. Hilda,
seine Frau, eine Lehrerin, telefoniert täglich mit ihrem früheren Nachbar,
einem der wenigen Assyrer, die in Mossul geblieben sind. Die Frauen müssten jetzt
den Schleier tragen, habe er ihr erzählt, aber die Lebensmittelpreise seien
gefallen, und in Mossul herrsche nun Ruhe.
Als die Dschihadisten in die Stadt einfielen, flohen die
Soldaten der irakischen Armee. „Viele warfen die Uniform weg und tauchten in
der Bevölkerung unter“, berichtet Hilda, „niemand schützte uns. Und als dann
innerhalb von nur zwei Stunden sechs Autobomben hochgingen, eine direkt vor
unserem Haus, sind wir kurz nach Mitternacht aus der Stadt geflohen.“ Sie
knipst das Handy an und zeigt ein Foto ihres Autos. Sämtliche Scheiben sind
geborsten. Die Familie, bei der sie hier in Alqosh untergeschlüpft sind,
kannten sie nicht. Ein Hilfskomitee des Dorfes, in dem Kirche, Parteien und
Peschmerga zusammenarbeiten, weist den aufnahmewilligen Familien Flüchtlinge
zu.
In der kleinen Kirche singen Männer und Frauen ihre Psalmen.
Dann formieren sie sich zur Fronleichnamsprozession. Sie führen ein Banner des
Heiligen Georg mit sich, des Drachentöters, des Siegers über das Böse. Fadi und
Hilda treten mit ihren beiden Kindern vors Haus. In ihrer Stadt, in Mossul,
wird es in diesem Jahr keine Prozession der Christen geben. Aber immerhin haben
sie sich gerettet. Bei ihrer Gastfamilie jedoch ist es eng. „Es ist eine
Zumutung - für sie noch mehr als für uns“, sagt Fadi, „wir sind froh um die
Aufnahme, aber wir können hier nicht bleiben. Wir wollen nur noch weg aus dem
Irak. Wir haben hier keine Zukunft.“ Und dann fragt er, wie so viele hier, wie
denn die Chancen stünden, in Deutschland Asyl zu erhalten.
Copyright: Berliner Zeitung (Der Beitrag erschien in der "Berliner Zeitung" unter dem unpassenden Titel "In Mossul liegen die Toten auf der Straße")
|