Zwischen Mosesberg und Ararat |
Thomas Schmid, Frankfiurter Rundschau, 20.04.2015
Musaler,
Mosesberg, heißt auf türkisch Musa Dagh. Und dieser Name ist in die
Weltliteratur eingegangen. In seinem 1933 erschienenen Roman „Die vierzig Tage
des Musa Dagh“ schildert der Prager Jude Franz Werfel, der als österreichischer
Schriftsteller Karriere machte, den Überlebenskampf von sechs armenischen
Dörfern am Fuß des Musa Dagh, eines Berges, der sich in der südlichsten Ecke
der heutigen Türkei, kurz vor der syrischen Grenze befindet. Als die Jungtürken
1915 – vor hundert Jahren - im
ganzen Osmanischen Reich die Deportation und anschließende Vernichtung von über
einer Million Armenier organisierten, mussten auch die christlichen Bewohner
der Dörfer am Musa Dagh um ihr Leben bangen. Von den 6.000 Einwohnern kam etwa
ein Drittel dem Deportationsbefehl nach. Die übrigen stiegen den Berg hoch und
verschanzten sich. Sie hatten sich bewaffnet und schlugen mehrere türkische
Angriffe zurück, bis sie nach 53 Tagen von französischen Kriegsschiffen, die am
Fuß des Bergs vor Anker gingen, gerettet wurden. Einige Dutzend ihrer
Nachkommen haben sich nach einer Odyssee durch verschiedene Länder hier bei
Eriwan niedergelassen – am Rand der damaligen Sowchose Mikojan. Ihre Siedlung
nannten sie Musaler, Mosesberg.
Die Geschichte
des heroischen Abwehrkampfs der Dörfler auf dem Musa Dagh erzählt das kleine
Museum von Musaler. Fotos der 18 bei der Verteidigung gefallenen Armenier –
Märtyrer - sind ausgestellt sowie
vergilbte Bilder von bärtigen Männern und einer Frau mit Pistole im Gürtel.
Eine weiße Fahne mit rotem Kreuz hängt an der Wand. „Es ist die authentische
Fahne, mit der die verzweifelten Bergler die französischen Marinesoldaten auf
sich aufmerksam machten“, behauptet Naira, die junge Frau, die die wenigen
Besucher, die sich hierher verirren, durchs Museum führt. Das Schild mit der
englischen Aufschrift „the christians are in danger, save“ (die Christen sind
in Gefahr, retten) sei allerdings nur eine Kopie des Schildes, das den
Franzosen damals entgegengestreckt wurde.
In einer
Glasvitrine werden über ein Dutzend Bücher vorgestellt: „Die vierzig Tage des
Musa Dagh“ auf armenisch, russisch, persisch, deutsch, französisch, hebräisch….
Werfel, der auf einer Reise durch Palästina und Syrien 1930 in Damaskus mit
Überlebenden des Genozids an den Armeniern gesprochen hatte, hat einen Roman
verfasst, der sich an den historischen Tatsachen orientierte. Den 53-tägigen
Widerstand hat er allerdings auf 40 Tage reduziert. Denn so lange hatte dem
Alten Testament zufolge auch Moses auf dem Berg Sinai ausgeharrt, nichts
gegessen und nichts getrunken, bis ihm Gott erschien und die Steintafeln mit
den zehn Geboten aushändigte.
Gevorg
Vrtanesyan war zwölf Jahre lang Direktor des Museums von Musaler. Der
88-Jährige ist noch durchaus rüstig. Er kommt federnden Schritts zum Gartentor
und bittet gleich in die Stube. Hunderte von Büchern, alle in armenischer
Sprache, stehen in den Regalen, dazwischen Fotos der 18 Märtyrer vom Musa Dagh.
In der Ecke türmen sich auf einem Schreibtisch lose Blätter, Manuskripte,
Hefte, Briefe, Dokumente. „600 Seiten meines Buches über die Geschichte des
Musa Dagh sind fertig“, sagt der alte Mann und knallt die Hände auf die
Papiere, „aber ich suche noch immer einen Verlag.“
Vrtanesyan ist
1927 in Kabussieh, einem der sechs Dörfer am Musa Dagh, geboren. „Ich erinnere
mich noch gut an das Leben auf dem Berg“ beginnt er seinen Bericht, „an die
frische Luft, die Wälder, den Blick auf das Meer.“ Seine Eltern hatten sich 1915 dem Deportationsbefehl
gebeugt, waren in die syrische Wüste getrieben worden, konnten aber aus dem
berüchtigten Todeslager von Deir ez-Zor, wo Zehntausende völlig entkräftet an
Durst und Hunger starben, dank der Hilfe eines türkischen Soldaten entkommen.
Sie wurden in die unter britischer Kontrolle stehende ägyptische Hafenstadt
Port Said gebracht, wo bereits die von der französischen Marine geretteten 4.058 Armenier in einem
Zeltlager lebten.
Im Sommer 1919
zogen die Dörfler auf den Berg zurück, der damals im von Frankreich besetzten
Teil des Osmanischen Reiches lag. Sie reparierten ihre Häuser und die
zerstörten Kirchen. Und auf dem Gipfel errichteten sie ein Denkmal, das an
ihren heroischen Widerstand erinnern sollte. Doch 1939 traten die Franzosen das
Gebiet an die Türkei ab, und die allermeisten Armenier flohen in den Norden
Libanons, wo sie die Stadt Anjar gründeten, die noch heute fast ausschließlich
von Armeniern bewohnt wird.
„Im Alter von
zwölf Jahren kam ich also zusammen mit meiner Familie nach Anjar, das damals
unter französischer Kontrolle stand“ setzt Vrtanesyan seinen Bericht fort, „mit
fünfzehn Jahren fuhr ich allein nach Beirut und von dort ins britische
kontrollierte Jerusalem, wo ich ins armenische Priesterseminar eintrat. Doch
Priester werden wollte ich dann doch nicht, also machte ich mich 1947 nach
Sowjetarmenien auf. Ich war 20 Jahre alt und Kommunist, Kommunist bin ich auch
heute noch.“
Ein Großteil der
Armenier des Osmanischen Reiches, die den Genozid überlebten, ließ sich in
Armenien, der kleinsten Republik der Sowjetunion, mit 30.000 Quadratkilometern
so groß wie Brandenburg, nieder. Schon unter der Herrschaft der Zaren hatte
sich das christlich-orthodoxe Russland traditionell als Schutzmacht der
christlichen Armenier im islamisch geprägten Osmanischen Reich verstanden.
Viele ältere Armenier fühlen sich auch heute noch den Russen in besonderer
Weise verbunden, haben ein geradezu sentimental begründetes Verhältnis zu
ihnen. Die städtische gebildete Jugend hingegen sieht ihre Zukunft eher im
Westen.
„Unsere Elite
ist in einen prowestlichen und einen prorussischen Teil gespalten“, sagt Marina
Grigoryan, die 56-jährige stellvertretende Chefredakteurin der
russischsprachigen Zeitung „Golos Armenii“ (Stimme Armeniens), „Armenien möchte
sich nicht entscheiden müssen. Es hat traditionelle Bande mit Russland, aber
eben auch mit dem Westen, vor allem mit Frankreich und den USA, wo es große
armenische Exilgemeinden gibt.“ Doch der armenische Präsident Sersch Sargsjan
hat sich bereits entschieden. Im September 2013 verkündete er völlig überraschend,
dass Armenien der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten werde. Es war eine
Kehrtwendung um 180 Grad und der faktische Abschied von der Perspektive einer
Assoziation mit der Europäischen Union. Danach nahm Russland die kurz zuvor
verfügte Erhöhung des Gaspreises um 50 Prozent wieder zurück. Und so ist
Armenien seit dem 1. Januar dieses Jahres Mitglied des Staatenverbunds, den der
russische Präsident Wladimir Putin als Gegengewicht zur EU aufbauen will –
zusammen mit Russland, Weißrussland, Kasachstan bildet es nun einen Binnenmarkt
mit Zollunion, obwohl es mit keinem dieser Staaten eine gemeinsame Grenze hat.
„Es war die
einzig realistische Wahl - leider“, sagt Grigoryan, „der russische Markt ist
wichtiger als der westliche.“ Russland ist Armeniens größter Handelspartner,
sowohl was Import wie Export betrifft. Zwei Millionen Armenier verdienen in
Russland als Gastarbeiter, vor allem auf dem Bau und im Dienstleistungssektor,
das Geld, mit dem sie ihre zurückgebliebenen Familien durchbringen. Bei Gjumri,
der zweitgrößten Stadt Armeniens, sind auf der einzigen russischen Truppenbasis
im Südkaukasus 5.000 Soldaten stationiert. In russischer Hand sind die beiden
größten Mobilfunkanbieter sowie die Eisenbahn Armeniens. Russland liefert Öl
und auch nuklearen Brennstoff für das einzige Atomkraftwerk des Landes, und vor
allem Gas.
Und viele
Armenier sehen in Russland weiterhin eine Schutzmacht. Die stellvertretende
Chefredakteurin zeigt ein Youtube-Video über einen toten Mann mit deutlichen
Schnittwunden. „Ein in Aserbaidschan zu Tode gefolterter Armenier“, behauptet
sie, „wie sollen wir denen trauen?“ Mit Aserbaidschan liegt Armenien im Streit
um Bergkarabach, eine armenisch besiedelte Region Aserbaidschans. Der Krieg,
den die beiden Staaten 1992 bis 1994 gegeneinander geführt haben, kostete über
40.000 Menschenleben. Seither hält Aserbeidschan die Grenze geschlossen, und
auch die Türken, die sich als Beschützer der sprachlich eng verwandten
Aserbeidschaner verstehen, haben die Grenze dicht gemacht. Der Weg in den Iran führt über hohe Bergpässe. Dem armenischen Handel bleibt nur
die Straße nach Georgien und von dort nach Russland.
Beim Stichwort
Türkei kurbelt Grigorjan die Jalousien ihres Bürofensters hoch und gibt mit
theatralischem Gestus den Blick auf den Ararat frei. Majestätisch thront der
weiße Berg über dem grauen Häusermeer Eriwans. Es ist der heilige Berg der
Armenier, auf dem vor vielen tausend Jahren einst die Arche Noahs gestrandet
ist. Es ist sozusagen der Hausberg Eriwans, dessen Bild tausendfach in den
Stuben und Büros der Stadt hängt. Er ist das Nationalsymbol der Armenier.
Ararat ist auch die Marke des besten armenischen Cognacs. Und in jeder
armenischen Stadt gibt es ein Ararat-Restaurant, ein Ararat-Hotel oder eine
Ararat-Straße. „Es ist unser Berg“, sagt Grigoryan. Bloß liegt der Berg,
leider, auf türkischem Territorium.
Bis zum Genozid
vor hundert Jahren lebte die Mehrheit der Armenier im Osten des Osmanischen
Reiches, im Osten der heutigen Türkei, und nur eine Minderheit in den armenischen
Provinzen des Russischen Reiches. Der Ararat steht für einen Traum und ein
Trauma, für den Traum eines großen armenischen Reiches und das Trauma des
Genozids. Der Traum wird nie wahr werden. Umso mehr bestehen die Armenier
darauf, dass die Türkei wenigstens den Genozid anerkennt.
An vielen
Geldautomaten Eriwans erscheinen die Worte „100 years of genocide“, sobald man
die Pin eingetippt hat. „Recognize the genocide“ (erkenne den Genozid an),
verkündet ein großes Spruchband über der Straße, die zum Völkermorddenkmal von
Eriwan führt, wo am 24. April die große Gedenkfeier zum hundertsten Jahrestag
des Völkermords stattfinden wird. Armenier beharrt darauf, dass die Türkei das
G-Wort aussprechen muss, bevor die Beziehungen normalisiert werden können. Doch
bisher hat sich noch kein türkischer Staats- oder Regierungschef den Schritt
getan und den Genozid Genozid genannt. Allenfalls war von tragischen
Ereignissen die Rede oder vom Leid, das den Armeniern zugefügt worden ist.
Am 11. Dezember
des vergangenen Jahres aber hat ein 70-jähriger Türke in Eriwan öffentlich vom
Genozid gesprochen. Im großen Saal des Lichtspielhauses „Moskau“ im Zentrum von
Eriwan geißelte Hasan Cemal vor 500 Zuhörern den Völkermord an den Armeniern. „Er
wurde ausgepfiffen“, sagt die Journalistin Marina Titizian, die das Gespräch
mit ihm organisiert hatte und auch moderierte, „es war eine sehr aggressive,
aufgeladene Atmosphäre.“ Die Pfiffe galten weniger dem Redner als seinem
Großvater: Cemal Pascha. Der gehörte dem Triumvirat der Jungtürken an, das den
Genozid an oberster Stelle zu verantworten hat. Er wurde 1922 von einem
armenischen Geheimkommando in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, erschossen.
Hasan Cemal, sein Enkel, hat 2012 ein Buch veröffentlicht, das den Titel „Der
Genozid an den Armeniern“ trägt. Herausgegeben wurde es von der Hrant-Dink-Stiftung.
Hrant Dink, ein in Istanbul lebender Armenier mit türkischer
Staatsbürgerschaft, hatte sich an vorderster Stelle für eine
türkisch-armenische Verständigung eingesetzt. Er wurde 2007 in Istanbul auf
offener Straße erschossen.
Das Gespräch mit
Hasan Cemal war Teil eines weltweiten Programms von Gesprächen zur
türkisch-armenischen Verständigung, das den Titel „Climbing the mountain“ (den
Berg erklimmen) trägt. Auch in Musaler, wo Nachfahren jener Armenier wohnen,
die einst den Mosesberg erklommen haben, um den türkischen Soldaten Widerstand
zu leisten, bereitet man sich auf den 24. April vor. Aghavi Vesinjan, seit 30
Jahren Leiterin der Franz-Werfel-Schule des Dorfs, will „Die vierzig Tage des
Musa Dagh“ des österreichischen Schriftstellers als Theaterstück aufführen. Die
Schüler üben schon fleißig. „Das größte Problem war“, sagt Vesinjan, „dass
keiner die Rolle eines Türken spielen wollte, alle wollten die eines armenischen
Helden spielen, am liebsten die eines Märtyrers.“
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