Die Gänsefüßchenrepublik im Kaukasus |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung 13.05.2015
Bergkarabach ist seit bald hundert Jahren ein Objekt des Streits
zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nach der Oktoberrevolution und der
Eroberung der beiden Staaten durch die Rote Armee wurde Bergkarabach, das
mehrheitlich von (christlichen) Armeniern besiedelt war, per Dekret ein
Autonomes Gebiet innerhalb der von (muslimischen) Aseris dominierten Aserbaidschanischen
Sozialistischen Sowjetrepublik und blieb dies fast 70 Jahre lang - bis zum
Zerfall der Sowjetunion. 1992 rückten armenische Freischärler in das Gebiet
ein. Die Armee des unabhängig gewordenen Aserbaidschans schickte Truppen in die
abtrünnige Region. Es kam zum offenen Krieg, in den 1993 auch die Armee
Armeniens eingriff. Als nach 40.000 Toten und einer Million Vertriebenen 1994
ein Waffenstillstand vereinbart wurde, hatte die armenischen Streitkräfte nicht
nur die Gebiete der früheren Autonomen Region fast vollständig unter Kontrolle,
sondern noch einmal so große Gebiete Aserbaidschans besetzt, die nie zur
Autonomen Region gehört hatten. Seither ist der Krieg eingefroren, kann aber
bei Bedarf jederzeit aufgetaut werden. Täglich kommt es zu Scharmützeln und jede
Woche auch zu Toten.
In Shushi, eine halbe Autostunde von Stepanakert, der
Hauptstadt Bergkarabachs, entfernt, sind die Spuren des Krieges noch überall zu
sehen: notdürftig geflickte Häuser, zerschossene Mauern, Ruinen. Shushi war
einst die größte Stadt zwischen Tiflis und Teheran, im 19. Jahrhundert ein
Zentrum sowohl armenischer wie aserbaidschanischer Kultur. Noch 1920 hatte sie
mehr als 40.000 Einwohner, heute sind es weniger als 4.000. Hatte die Stadt am
Ende des Ersten Weltkriegs noch eine armenische Mehrheit, wurde sie nach dem
antiarmenischen Pogrom von 1920, dem mindestens 2.000 Armenier zum Opfer
fielen, fast ausschließlich von Aseris beseiedelt. Und als nach dem Kollaps der
Sowjetunion der Krieg ausbrach, war Shushi eine Hochburg der Aseris mitten im
armenisch besiedelten Bergkarabach.
„Von Shushi aus beschossen sie mit schwerer Artillerie
Stepanakert“, sagt Samuel, „die Kathedrale hatten die Aseris zum Munitionslager
gemacht.“ Der 18-jährige armenische Student der Hochschule der Künste weiß das
nur vom Hörensagen. Er ist nach dem Waffenstillstand geboren. Aber was in der
Stadt während des Krieges passiert ist, wissen ohnehin alle hier nur vom
Hörensagen. Damals waren ja nur Aseri in der Stadt. Heute leben ausschließlich
Armenier hier. Nach der Einnahme Shushis durch armenische Freischärler wurden
alle Aseris vertrieben, die nicht schon aus Angst vor Rache geflüchtet waren. Die
Kathedrale von Shushi ist längst restauriert. Die drei vom Krieg arg
gezeichneten Moscheen aber sind nur noch steinerne Zeugen einer andern
Herrschaft. Immerhin stehen sie unter öffentlichem Schutz, um sie vor dem
weiteren Verfall zu bewahren. Kommen die Aseris je wieder zurück? „Wir werden
es nicht zulassen“, sagt Samuel, „wir können nicht zusammenleben, nie, entweder
sie oder wir.“
Von all diesem Geschehen, das noch gar nicht weit
zurückliegt, will Susana Avagjan nichts mehr hören. Die 82-jährige Armenierin steht
am Straßenrand und stützt sich auf einen Besen. Sie musste 1988 aus Sumgait, einem
Industrievorort von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans fliehen. Bei einem
antiarmenischen Pogrom kamen damaligen offiziellen (sowjetischen) Angaben
zufolge 26 Personen um. Die Armenier sprechen von weit über hundert Toten. Der
Pogrom von Sumgait war der Prolog zum Krieg um Bergkarabach. Und Susana Avagjan
kehrt nun Straßen, um ihre Rente von umgerechnet hundert Euro aufzubessern.
Einen Sohn hat sie im Krieg verloren, der andere ist krank. So muss sie in
ihren alten Tagen auch noch für ihn aufkommen. Will sie wieder zurück nach
Sumgait? „Es war dort wunderschön, ich vermisse das Kaspische Meer“, sagt sie,
„aber ich werde es nie wieder sehen. Nein, zurück kann ich nicht.“ Ein Foto
will die Rentnerin auf gar keinen Fall zulassen. Sie schämt sich wegen ihrer
löchrigen Kleider.
„Die Eroberung von
Shushi brachte die Wende im Krieg“, sagt Karen Mirzojan, Außenminister der
Republik Bergkarabach. Sein Amtssitz ist ein altes zweistöckiges Gebäude im
Zentrum von Stepanakert. Der 49-jährige Hausherr, geboren in Armeniens
Hauptstadt Eriwan, ist promovierter Orientalist. Werden sich die Armenier aus
den besetzten Gebieten außerhalb der früheren Autonomen Region Bergkarabach
zurückziehen? „Aus den befreiten Gebieten“, korrigiert Mirzojan freundlich und
holt einen historischen Atlas von Bergkarabach. Das Gebiet ist auf allen Karten
keine Enklave innerhalb von Aserbaidschan mehr, sondern hat eine lange,
gemeinsame Grenze mit Armenien. Wird sich Bergkarabach mit Armenien vereinigen?
„Wenn es die Armenier Bergkarabachs und die Armenier Armeniens eines Tages auf
demokratischem Weg beschließen, wird man das nicht verbieten können“, sagt der
Außenminister, „aber das steht jetzt nicht an. Wir wollen die Verhandlungen
nicht erschweren.“
Im Rahmen der sogenannten Minsk-Gruppe bemühen sich unter
dem gemeinsamen Vorsitz von Frankreich, Russland und den USA 13 Staaten seit über
zwei Jahrzehnten um eine Vermittlung im Konflikt. Ohne jedes Ergebnis, weil
Aserbaidschan auf seiner völkerrechtlich vom Sicherheitsrat der UNO viermal bestätigten
Souveränität über das Gebiet besteht und weil Bergkarabach, unterstützt von
Armenien, keinen Fingerbreit des besetzten, pardon: befreiten Gebietes
wiederhergeben will. „Weil keine Lösung in Sicht ist, nehmen die Spannung in
der Region seit zwei oder drei Jahren rapide zu“, warnt Mirzojan, „aber ein
offener Krieg wäre eine Katastrophe für alle Seiten, auch für uns, aber noch
mehr für Aserbaidschan. Es hat keine Chancen, Bergkarabach zurückzuerobern.“ Rund
20.000 Soldaten Armeniens sind in Bergkarabach stationiert. Im Kriegsfall, so
vermutet der Minister, würde Armenien als erster Staat der Welt die Republik
Karabach diplomatisch anerkennen. |