Schatten und Zweifel |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 31.07.2010
Vor 30 Jahren forderte ein Bombenanschlag im Bahnhof von Bologna 85 Tote. Wer ihn verübt hat, ist trotz rechtskräftiger Urteile höchst umstrittenEs ist Ferienzeit. Am Hauptbahnhof von Bologna, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Italiens, herrscht reges Treiben, als am Samstag, dem 2. August 1980, morgens um 10.25 Uhr, ein im Wartesaal zweiter Klasse abgestellter Koffer explodiert. 23 Kilogramm Sprengstoff. Ein Flügel des Bahnhofsgebäudes stürzt über dem Ancona-Chiasso-Express auf Gleis 1 und einem Taxiparkplatz zusammen. 85 Tote und 200 Verletzte werden gezählt. Ärzte und Krankenschwestern eilen aus dem Urlaub zu Hilfe. Ein öffentlicher Bus wird für den Transport der Leichen eingesetzt. Staatspräsident Sandro Pertini fliegt umgehend im Hubschrauber an den Ort der Katastrophe und besucht die Verwundeten in den Krankenhäusern. 30 Jahre nach dem blutigsten Attentat der italienischen Nachkriegsgeschichte wird am Montag ganz Italien erneut der Toten gedenken. Ministerpräsident Francesco Cossiga sprach
schon zwei Tage nach der Explosion von einem "eindeutig faschistischen"
Anschlag. Der Verdacht einer rechtsradikalen Urheberschaft lag auf der
Hand. 1969 hatte auf der Mailänder Piazza Fontana ein Bombenanschlag 17
Todesopfer gefordert, in Brescia hatte auf der Piazza della Loggia 1974
ein Sprengsatz acht Menschen getötet, und im selben Jahr starben bei
einer Explosion im Italicus-Express zwischen Florenz und Bologna zwölf
Personen. In all diesen Fällen stand nach Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft fest: Die Bombenleger stammten aus militanten
neofaschistischen Gruppen, und der Geheimdienst war in den Terror
zutiefst verstrickt. Ihr gemeinsames Ziel war es, ein Klima der Angst zu
erzeugen, in dem sich - auch angesichts der Wahlerfolge der KPI, der
größten kommunistischen Partei Westeuropas - die Ablösung der
parlamentarischen Republik durch eine autoritäre Präsidialrepublik
durchsetzen ließe. Schon wenige Wochen nach dem Attentat von
Bologna werden 47 Haftbefehle ausgestellt - die meisten gegen Mitglieder
der NAR. Hinter dem Kürzel, das für "Revolutionäre bewaffnete Kerne"
steht, verbirgt sich eine rechtsradikale Gruppe von Killern, die aus dem
Schoß der parlamentarischen neofaschistischen MSI hervorgegangen ist.
Im Februar 1981 wird Valerio Fioravanti, einer der Gründer der NAR und
ihr ungekrönter Chef, nach einem Feuergefecht verhaftet, das zwei
Polizisten das Leben kostet. Seine Freundin, Francesca Mambro, geht der
Polizei bei einem Raubüberfall ins Netz. Fioravanti und Mambro
wurden 1995 wegen des Attentats von Bologna rechtskräftig zu einer
lebenslänglichen Strafe verurteilt. Später bekam für dieselbe Tat noch
ein drittes Mitglied der NAR 30 Jahre Haft aufgebrummt. Die Prozesse
über die Bombenanschläge auf der Mailänder Piazza Fontana, auf der
Brescianer Piazza della Loggia und auf den Italicus-Express sind alle im
Sande verlaufen. Wenigstens blieb also das größte aller italienischen
Massaker jenes bleiernen Jahrzehnts nicht ungesühnt. Aber waren
Fioravanti und Mambro wirklich die Täter? Es gibt erhebliche Zweifel,
noch immer. Fioravanti, geboren 1958, war noch keine 20 Jahre alt,
als er einen Kommunisten per Genickschuss tötete. Bei der Armee stahl
er 144 Handgranaten. Er überfiel bewaffnet ein linkes Radio und ein
Lokal der KPI, ermordete mindestens einen Polizisten, zwei Carabinieri,
einen Studenten, einen Richter und einen Führer einer konkurrierenden
rechtsradikalen Gruppe. Mambro, seine 1959 geborene Freundin, kann auf
eine ähnliche terroristische Karriere zurückblicken. Beide sind
gnadenlose Killer. Aber anders als die Neofaschisten zu Beginn der
70er-Jahre haben sie nie Bomben gelegt. Sie haben gezielt getötet. Und
während die "alten" Neofaschisten mit dem Staatsapparat verkungelt
waren, haben die NAR im Staat einen Feind gesehen - ähnlich wie die
damaligen Linksterroristen. Ihr Terror richtete sich gegen Polizisten
und Richter, später auch gegen Altfaschisten, denen sie vorwarfen, die
Jungen ins Feuer zu schicken und sich selbst ein bequemes Leben zu
machen, und zuletzt gegen die Führer der rechtsradikalen "Terza
Posizione", wo sie Verrat und Intrige witterten. Fioravanti und
Mambro, die sich zu ihren Taten sonst bekannt haben, erklärten sich im
Fall des Attentats von Bologna immer für unschuldig, obwohl er achtmal
und sie neunmal zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt waren und
ein Eingeständnis sie nichts an Freiheit gekostet hätte. Fioravanti hat
28 Jahre lang im Gefängnis gesessen, Mambro zwei Jahre weniger. Beide
sind heute frei und arbeiten in einer Organisation, die sich für die
Aufhebung der Todesstrafe einsetzt. Der Prozess gegen das
Killerpärchen war ein reiner Indizienprozess. Es gibt keinen Beweis für
die Tatbeteiligung, keine Fingerabdrücke, auch keinen Nachweis, dass die
beiden überhaupt in Bologna waren. Das ganze Gebäude der Anklage
stützte sich letztlich auf die Aussage eines einzigen dubiosen Zeugen:
Massimo Sparti, einen Mann aus dem Ganovenmilieu der Römer Vorstadt
Magliana, in dem sich auch viele Neofaschisten tummelten. Schon kurz
nach seiner Festnahme behauptete Sparti, Fioravanti habe ihm in Rom zwei
Tage nach dem Attentat in Bologna gestanden, dass er die Bombe
platziert habe. Er habe ihn auch gebeten, ihm zwei gefälschte Ausweise
zu beschaffen. Sparti aber sei damals gar nicht in Rom gewesen, gab
seine Frau zu Protokoll. Und weshalb sollte ein Terrorist sich
gefälschte Dokumente erst nach der Tat besorgen? Wie auch immer, die
Richter glaubten Sparti. Der Ganove wurde nach einem Jahr Haft wegen
Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium auf freien Fuß gesetzt und lebte
noch 20 Jahre munter weiter. An der Täterschaft der
NAR-Terroristen zweifeln in Italien in Italien inzwischen namhafte
Juristen und Politiker. Giovanni Pellegrino, der die
Parlamentskommission zur Untersuchung der Attentate der 70er-Jahre
präsidierte, sagt heute über das rechtskräftige Urteil gegen Fioravanti
und Mambro: "Es hängt in der Luft." Guido Salvini, einer der
prominentesten Staatsanwälte des Landes, der in zahlreichen Fällen von
Links- und Rechtsterrorismus die Ermittlungen führte, vermutet die Täter
im Milieu der Neofaschisten um "Ordine Nuovo", die damals gut mit den
Geheimdiensten vernetzt waren und wohl den Bombenterror zu Beginn der
70er-Jahre zu verantworten hatten. Schon 2005 hat die Bologneser
Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen aufgenommen. Anlass war der Bericht
einer parlamentarischen Untersuchungskommission, deren Mitglieder
mehrheitlich der postfaschistischen Alleanza Nazionale und der Forza
Italia Berlusconis angehörten und die sich mit den Aktivitäten des
Sowjetgeheimdienstes KGB in Italien befasste. In diesem taucht eine
gewagte Hypothese auf: Für das Attentat könnte der Deutsche Thomas Kram,
Mitglied der "Revolutionären Zellen", verantwortlich sein, der im
Auftrag des venezolanischen Superterroristen "Carlos" handelte, der
seinerseits von der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP) um
einen Racheakt gebeten worden war. Der Hintergrund: In den
70er-Jahren hatten die italienische Regierung und die PFLP offenbar
einen Pakt geschlossen. Den Palästinensern wurde erlaubt, Waffen durch
Italien zu transportieren. Im Gegenzug versprachen diese, im Land selbst
nicht terroristisch tätig zu werden. Als drei italienische Autonome im
November 1979 beim Transport von Raketen für die Palästinenser erwischt
wurden, nahm die Polizei auch Abu Saleh, den Repräsentanten der PFLP in
Italien, fest. Ein klarer Bruch des Gentlemen Agreement. Zu den
"Revolutionären Zellen" hatte die PFLP einst gute Beziehungen. Zwei
Gründer der deutschen Terrororganisation hatten zusammen mit einem
PFLP-Kommando 1976 ein Flugzeug von Tel Aviv nach Entebbe entführt. Sie
wurden dort bei Erstürmung des Flughafengebäudes getötet. Unter den
"Revolutionären Zellen" löste das Drama offenbar eine Grundsatzdebatte
aus. Fortan lehnten sie die gezielte Tötung von Personen ausdrücklich ab
und beschränkten sich auf "Knieschuss"-Attentate. Doch sind sie wohl
auch für den Tod des früheren hessischen Wirtschaftsministers Heinz
Herbert Karry verantwortlich, den sie vermutlich bei einem
Entführungsversuch erschossen. Den "Revolutionen Zellen" gehörte
Thomas Kram seit Mitte der 70er-Jahre an. Doch erst 1987 tauchte er ab.
19 Jahre lebte er danach im Untergrund, bevor er sich im Dezember 2006
den deutschen Behörden stellte. Vor anderthalb Jahren wurde er wegen
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu zwei Jahren Haft
auf Bewährung verurteilt. Er lebt heute in Berlin. Fest steht: Kram hat
die Nacht vom 1. auf den 2. August 1980 in einem Hotel in Bologna
verbracht, 15 Minuten zu Fuß vom Hauptbahnhof entfernt. Fest steht auch:
Kram kennt "Carlos" persönlich. Mit dessen engstem damaligem
Mitarbeiter, Johannes Weinrich, hat er in den 70er-Jahren in Bochum
einen politischen Buchladen geführt. In Bologna habe er übernachtet,
weil es schon spät geworden war und er nicht mehr weiter nach Florenz
fahren wollte, um in der Toskana einen Freund zu treffen. Kram hatte vom
September 1979 bis März 1980 an der Ausländeruniversität von Perugia
studiert. Schon damals wurde er von der italienischen Polizei überwacht. Kram
reiste im Zug von Karlsruhe nach Italien. An der italienischen Grenze
wurde er fast zwei Stunden lang verhört, sein Gepäck minutiös
kontrolliert. Der Grenzpolizei legte er seinen echten Personalausweis
vor, im Hotel in Bologna seinen Führerschein, ebenfalls echt. All dies
ist in Polizeiakten festgehalten. "Reist einer, der eine Bombe legen
will, mit echten Papieren ein und übernachtet im Hotel unter seinem
Klarnamen, noch dazu in der Nähe des Tatortes?" fragt Kram
kopfschüttelnd, "von Konspiration verstanden wir ja nun wirklich viel."
In der Tat konnten sich die "Revolutionären Zellen" dem Zugriff der
Staatsschutzbehörden viel länger entziehen als etwa die "Rote Armee
Fraktion". Eine Beteiligung Krams am Attentat von Bologna scheint also unwahrscheinlich. Doch es sind noch andere Spuren im Gespräch, die die Justiz nie ernsthaft verfolgt hat. Auch Staatspräsident Giorgio Napolitano - ein Mann, der seine Worte sehr genau abzuwägen pflegt - glaubt nicht mehr, dass das Urteil von Bologna letztlich Bestand hat. "Die Schatten und Zweifel, die geblieben sind", sagte er etwas sibyllinisch am nationalen Gedenktag für die Opfer des Terrorismus, "haben zu einem neuen Strang von Ermittlungen geführt. Wohin diese führen, ist noch nicht abzusehen." © Berliner Zeitung |