Thomas Schmid, Frankfurter Rundschau, 29.12.2011
Das Deutsche Reich war in den Völkermord an den
Armeniern im Osmanischen Reich verstrickt. Deutsche Militärs tragen
Mitschuld an den Massakern
Es herrscht dicke Luft zwischen Frankreich und der Türkei.
Die französische Nationalversammlung hat sich dafür ausgesprochen, die
Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen. Das
Votum des Senats steht noch aus. Aber Ankara hat bereits den
türkischen Botschafter aus Paris zurückgepfiffen und die militärische
Zusammenarbeit ausgesetzt. Bis heute hat noch jede türkische Regierung
bestritten, was unter seriösen Historikern längst geklärt und
dokumentarisch gut belegt ist: Die jungtürkische Regierung des
Osmanischen Reiches hat während des Ersten Weltkrieges die systematische
Ausrottung der Armenier betrieben. Umstritten ist allenfalls
noch, ob „nur“ 800.000 oder über eine Million Angehörige der ältesten
christlichen Staatsreligion erschlagen, erdrosselt, gekreuzigt,
erschossen oder auf die Todesmärsche in die mesopotamische Wüste
geschickt wurden.
Deportation und Ermordung
Die
damalige Regierungspartei der Jungtürken, „Ittihat ve Terakki“
(„Freiheit und Fortschritt“), hatte die Geheimorganisation „Teskilat
Mahsusa“ („Spezialorganisation“) gegründet und sie mit der Deportation
und Ermordung der Armenier beauftragt. Diese stellte Mordbanden
zusammen, die im wesentlichen aus Angehörigen aufgeputschter kurdischer
Stämme, freigelassenen Verbrechern und Flüchtlingen aus dem Balkan und
dem Kaukasus rekrutiert wurden.
Das Deutsche Reich war in den
Völkermord verstrickt, deutsche Militärs sind mitverantwortlich, tragen
Mitschuld an den Massakern. Auch dies ist gut dokumentiert. Drei
Wissenschaftler haben sich hierbei bleibende Verdienste erworben: der
armenisch-amerikanische Soziologe Vahakn Dadrian, Doyen der Erforschung
des Genozids, der türkische Historiker Taner Akcam, der die Protokolle
des Istanbuler Kriegsverbrecherprozesses (1919-1921) systematisch
erforscht hat, und der deutsche Journalist Wolfgang Gust, Herausgeber
der einschlägigen Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen
Auswärtigen Amtes.
Drei Monate nach Kriegsausbruch war das
Osmanische Reich 1914 auf Seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns in
den Krieg eingetreten. Etwa 800 deutsche Offiziere waren integraler
Bestandteil der türkischen Armee, gehörten ihrem Kommando und ihrem
Generalstab an.
Der preußische Generalmajor Fritz Bronsart von
Schellendorff, Generalstabschef des osmanisches Feldheeres und enger
Berater des jungtürkischen Kriegsministers Enver, begrüßte die
Deportationen der Armenier, die „neunmal schlimmer im Wucher wie die
Juden“ seien. Den US-Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau,
der auf die Rolle der Deutschen in der Türkei hinwies, beschimpfte er
als „Juden“ und „Gesandten der ‚Ver-un-reinigten‘ Staaten von
Nordamerika“.
Der preußische General Colmar Feiherr von der Goltz,
oberster Ausbilder der türkischen Armee, hatte schon 1913
vorgeschlagen, die christlichen Armenier zu deportieren, um ein
homogenes muslimisches Bollwerk gegen die ebenfalls christlichen Russen
zu schaffen. Oberst Otto von Feldmann, deutscher Operationschef im
osmanischen Großen Hauptquartier, bekannte, „dass auch deutsche
Offiziere – und ich selbst gehöre zu diesen – gezwungen waren, ihren Rat
dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete [...] von
Armeniern freizumachen“.
Der deutsche Konteradmiral
Wilhelm Souchon, der die türkische Flotte befehligte, vermutete 1915,
dass drei Viertel der Armenier „bereits bei Seite geschaffen“ wurden. In
seinem Tagebuch notierte er: „Für die Türkei würde es eine Erlösung
sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat.“
Und
Korvettenkapitän Hans Humann, Marineattaché an der deutschen Botschaft
zu Konstantinopel, meinte lapidar: „Die Armenier wurden jetzt mehr oder
weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“
"Mit dem Messer wurden alle erledigt.“
Deutsche
Offiziere waren auch direkt an Massakern beteiligt oder unterzeichneten
Befehle, die zur Deportation führten. So ließ der Artillerieoffizier
Graf Eberhard Wolffskeel von Reichenberg, der dem Generalstab angehörte,
im Herbst 1915 das armenische Viertel der ostanatolischen Stadt Urfa
beschießen.
Oberstleutnant Sylvester Boettrich, Direktor der
türkischen Feldeisenbahn, unterzeichnete den Befehl, der die Entlassung
und Deportation tausender Armenier zur Folge hatte, die beim Bau der
Bagdad-Bahn eingesetzt waren. Ein Schweizer Apotheker,
Augenzeuge eines Massakers an armenischen Bahnarbeitern, berichtete:
„Mit dem Messer wurden sie alle erledigt.“
In einem Fall aber
stoppte ein deutscher Offizier die Deportationen. General Otto Liman von
Sanders, Chef der deutschen Militärmission in der Türkei, war gerade
in Smyrna, dem heutigen Izmir, als dort die Armenier abgeführt werden
sollten. Er verbot die Deportation. Die türkische Provinzregierung
gehorchte ihm und missachtete einen Befehl von Innenminister Talaat.
Liman von Sanders ließ sich jedoch weniger von humanitären als von
kriegsstrategischen Gründen leiten. Er befürchtete, dass nach dem Abzug
der Armenier und der ebenfalls christlichen Griechen, der
Mehrheitsbevölkerung der Stadt, die Versorgung seiner Truppen
zusammenbrechen würde.
Schweigen statt Fragen
Während
in der Regel die deutschen Militärs die Deportationen unterstützten,
hieß diese unter den sieben deutschen Konsuln, Vizekonsuln und
Wahlkonsuln im Osmanischen Reich, nur ein einziger gut. Auch der
deutsche Botschafter in Konstantinopel, Paul Graf Wolff-Metternich,
protestierte gegen die Deportationen, bis er auf Druck vor allem von
Marineattaché Humann, der ihn einen „armenischen Botschafter“ schimpfte,
abberufen wurde.
In Deutschland selbst wurde alles getan, um
Berichte über die Massaker an Armeniern zu unterdrücken. Die
Journalisten wurden vom Kriegspresseamt angewiesen, über die armenische
Frage zu schweigen. Und als der sozialdemokratische
Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht im Parlament Fragen über „die
Ausrottung der türkischen Armenier“ stellte, unterbrach ihn der
Reichstagspräsident mit der Glocke.
Zwei Deutsche
aber versuchten, die Öffentlichkeit nach Kräften zu alarmieren. Der
Reiseschriftsteller Armin T. Wegner bereiste als Sanitätsoffizier
Ost-Anatolien und kam bis Aleppo. Er traf in der Wüste auf
Deportationszüge und Armenien-Lager. Über ausländische Botschaften
versuchte er, Beweismaterial nach Deutschland und in die USA zu
schleusen, bis er von Deutschen in der Türkei festgenommen und auf eine
Cholera-Station versetzt wurde. Seine Fotografien gehören bis heute zu
den wichtigsten Beweisen für den Genozid.
Späte
Genugtuung
Auch der evangelische Theologe und Orientalist
Johannes Lepsius schlug Alarm. Er hatte schon nach den Pogromen 1894 bis
1896, denen zehntausende Armenier zum Opfer fielen, in Deutschland ein
Hilfswerk gegründet. Während des Ersten Weltkriegs versuchte er, die
Politiker aufzurütteln. Aber die Liberalen beschworen in der Regel die
deutsch-türkische Waffenbrüderschaft und die Sozialdemokraten wollten
den Burgfrieden mit dem Kaiser nicht gefährden. Als ihm gar
strafrechtliche Verfolgung drohte, führte er seinen Kampf vom Ausland
aus weiter.
Spät – nach Kriegsende – widerfuhr Lepsius doch noch
Genugtuung. Das Auswärtige Amt beauftragte ihn, Aktenmaterial über die
Haltung der deutschen Regierung in der Armenierfrage zu veröffentlichen.
Seine „Sammlung diplomatischer Aktenstücke“ wurde 1919 veröffentlicht.
Lepsius,
so konzediert der Wolfgang Gust, habe mehr als jeder andere zur
Aufklärung des Völkermords beigetragen. Allerdings wies der Journalist
dem Theologen nach, dass in den Dokumenten seiner Sammlung brisante
Passagen, die auf die Mitschuld Deutschlands am Genozid verwiesen,
ausgelassen oder manipuliert sind – ob durch das Auswärtige Amt selbst
oder mit Zustimmung Lepsius’, der wohl nur Kopien der Akten hatte, ist
unklar.
Lepsius selbst sagte, er habe den Grundsatz befolgt, „bei
der Auswahl nur den Zweck der Entlastung Deutschlands von türkischen und
internationalen Verleumdungen“ im Auge zu behalten. Das war
offensichtlich auch das Anliegen seiner Auftraggeber.
© Frankfurter Rundschau
Anmerkung: In der in der Frankfurter Rundschau und - gekürzt - in der Berliner Zeitung publizierten Version wurde der der preußische Generalmajor, der Generalstabschef des osmanischen Feldheeres war, fälschlicherweise Schellenberg genannt. Er heißt Schellendorff. Und der zitierte Schweizer Apotheker heißt nicht Jakob Künzler. Künzler heißt der Schweizer Diakon in Urfa, der über den Apotheker berichtet hat. Beide Fehler wurden hier korrigiert.