Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 03.06.2013
Wie in Frankreich ein ganzes Dorf half, mehr als 3500
Juden vor der Deportation in die Vernichtungslager der
Nazis zu retten
Le Chambon-sur-Lignon ist ein
Bergnest in den Cevennen. Die schon 1902 eröffnete Schmalspurbahn wurde
wohl nicht für die rund 3000 Dörfler gebaut, zu zwei Dritteln
Bauern, die auf verstreuten Höfen lebten, sondern für die Städter, die
der verpesteten Luft von Saint-Etienne, einem Zentrum des französischen
Kohlebergbaus, entfliehen wollten. Hier oben, tausend Meter
über Meereshöhe, wehte frische Bergluft. Es gab eine stattliche
Reihe von Pensionen und Hotels.
Vom Sommer 1942 an entstiegen
dem Zug, der jeden Tag um ein Uhr Mittag im Bahnhof Le Chambon-Mazet
einfuhr, immer mehr Menschen, die von weither kamen und oft nur wenige
Brocken Französisch sprachen. Die meisten von ihnen gingen vom
Bahnhof direkt zum Pfarrhaus. Von dort wurden sie auf die verschiedenen
Pensionen und vor allem auf weit abgelegene Bauernhöfe
verteilt. Es war wohl die erfolgreichste kollektive Hilfsaktion in
Frankreich für Juden, die vor dem Nazi-Terror geflohen waren.
Heute wird in Le Chambon-sur-Lignon ein Mahnmal eingeweiht. Schon 1990
hatte Yad Vashem, die Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, dem
Dorf und den umliegenden Weilern den Ehrentitel "Gerechte unter den
Völkern" verliehen, der sonst nur Einzelpersonen zugestanden wird. Wohl
mehr als 3500 Juden überlebten die Shoa dank einer verschworenen
Dorfgemeinschaft. Organisiert wurde diese Rettungsaktion von
einem Pastor und seiner Frau: von André Trocmé, geboren 1901 im
nordfranzösischen Saint-Quentin als Sohn einer Deutschen und eines
französischen Textilfabrikanten, und von Magda, ebenfalls 1901
geboren, Tochter einer adligen Russin und eines italienischen Offiziers
englischer Abstammung. Zum Teil mag dieser geballte
Migrationshintergrund des Ehepaars dessen Sensibilität für die Nöte
fremder Menschen erklären. Weitaus wichtiger aber ist ein anderer
Hintergrund. André Trocmé hatte eine streng hugenottische
Erziehung genossen, gehörte der protestantischen Minderheit
Frankreichs an und war am Ende des Ersten Weltkriegs selbst Flüchtling.
Im Jahr 1934 trat Trocmé sein Pfarramt in Le Chambon an. Ende der
1930er-Jahre trafen die ersten Flüchtlinge ein: spanische
Republikaner, die den Krieg gegen Franco verloren hatten, später
Oppositionelle und Juden aus Deutschland und Österreich. Schon im
März 1939 - ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn - klagte Trocmé in
der regionalen Kirchenzeitung: "Erneut werden nun Menschen auf
schreckliche Weise verfolgt: Hunderttausende - Christen, Juden,
Demokraten - versuchen, der Unterdrückung und Gewalt zu entkommen.
Wer in Le Chambon ankam, wurde aufgenommen. 95 Prozent der
Gemeinde waren Protestanten wie der Pastor auch, Nachkommen von
Hugenotten, die sich, jahrhundertelang verfolgt von Krone und
katholischem Klerus, in die abgelegenen Dörfer der lange Zeit schwer
zugänglichen Cevennen zurückgezogen hatten. Nach dem Einfall der
Wehrmacht und dem Waffenstillstand von Compiègne im Juni 1940 wurde
Frankreich zweigeteilt. Der Norden und Westen kam unter deutsche
Besatzung, der Süden mit der Hauptstadt Vichy wurde von Marschall Pétain
regiert. In Vichy-Frankreich, zu dem Le Chambon gehörte, wurde das
republikanische Dreigestirn
Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit durch das reaktionäre
Arbeit-Familie-Vaterland ersetzt - und das Vaterland, in dem
seit der Französischen Revolution Staat und Kirche getrennt
waren, war wieder ein katholisches. In Le Chambon hatte das
Kollaborationsregime von Vichy wenig Anhänger.
Kaum an der
von Hitler geliehenen Macht, verkündete Marschall Pétain schon im
Juli 1940 erste antisemitische Maßnahmen. Nun kamen immer neue
Flüchtlinge nach Le Chambon. Und nachdem im Juli 1942 bei Massenrazzien
im besetzten Paris fast 13000 ausländische und staatenlose Juden -
unter ihnen 4000 Kinder - verhaftet wurden, schlugen sich viele in den
unbesetzten Süden Frankreichs durch. Dem Vichy-Regime entging
die Entwicklung im "Hugenottennest", wie es in der vom Staat
kontrollierten Presse hieß, natürlich nicht. Dort grüßte man die Fahne
nicht und ließ am neuen Nationalfeiertag die Glocke nicht läuten. Mitte August kam Georges Lamirand, Minister für die Jugend, nach Le
Chambon, um die Lage zu erkunden. Der Empfang war kühl, Trocmé
überließ es einem Schweizer Pastor, den Gottesdienst vor der Abordnung
aus Vichy zu halten. Als der Minister die Kirche verließ,
überreichten ihm Schüler ein Schreiben. "Wir haben von den
schrecklichen Szenen erfahren, die sich vor drei Wochen in Paris
abgespielt haben", hieß es darin, "es ist uns aus diesem Grunde wichtig,
Ihnen mitzuteilen, dass unter uns auch Juden sind (...)Wenn unsere
Schulkameraden, deren einziger Fehler ist, an einem andern Ort
geboren zu sein, den Befehl erhielten, sich abtransportieren oder
auch nur zählen zu lassen, würden wir sie ermutigen, sich diesem Befehl
zu verweigern, und uns Mühe zu geben, sie so gut wie möglich zu
verstecken."
Den Worten folgten bald Taten. Als die
Deutschen im November als Reaktion auf die Landung der Alliierten in
Nordafrika auch den Süden Frankreichs besetzten, wurde es gefährlich
für die Flüchtlinge, die zum allergrößten Teil Juden waren. Wenn
Razzien anstanden - und der Pfarrer wusste offenbar in der Regel davon,
weil es bei den Behörden undichte Stellen gab -, organisierten die
Verantwortlichen für Bibellektüre rechtzeitig Verstecke auf den
Bauernhöfen. Und immer mehr Juden wurden in die Schweiz geschleust - mit
tatkräftiger Hilfe von Charles Guillon, dem früheren Bürgermeister von
Le Chambon, der sich ins Genfer Exil abgesetzt hatte.
Dann
geschah, was alle befürchteten: André Trocmé, der stellvertretende
Pastor Edouard Théis und der Lehrer Roger Darcissac wurden im Februar
von französischen Gendarmen 1943 abgeholt und interniert. Schon
nach fünf Wochen kamen sie wieder frei und kehrten nach Le
Chambon zurück, aber nur noch für wenige Monate. Im Juni kam die Gestapo
ins Dorf und führte 19 jüdische Studenten einer von den Pastoren
gegründeten Schule ab. Daniel Trocmé, Neffe von André und Direktor der
Schule, schloss sich ihnen spontan an. Er wurde im April 1944 in
Majdanek ermordet.
Wichtige Mitarbeiter von Trocmé schlossen sich
nun dem bewaffneten Widerstand an, der in der Gegend von Pierre Fayol,
einem französischen Juden, angeführt wurde. Auch Oscar Rosowsky,
ein russischer Jude, der wohl an die tausend Personalausweise
gefälscht hatte, um Flüchtlingen eine neue Identität zu geben, ging zur
Résistance. Die beiden Pastoren aber, die den bewaffneten Widerstand
immer prinzipiell abgelehnt und aus tiefster religiöser Überzeugung
gehandelt hatten, verließen - auch auf dringenden Rat der
Kirchenleitung - Le Chambon und versteckten sich bis zum Kriegsende an
verschiedenen Orten Südfrankreichs.
Vor vier Jahren erinnerte
US-Präsident Obama in einer Rede an die von Pastor Trocmé geführte
Dorfgemeinschaft von Le Chambon: "Nicht ein einziger Jude, der kam,
wurde abgewiesen oder verraten", sagte er, "doch es dauerte noch
Jahrzehnte, bis die Dorfbewohner von dem erzählten, was sie getan
hatten - und auch dann taten sie es nur widerstrebend. Sie sagten:
'Wir haben nur das getan, was getan werden musste.'" ------------------------------ Literaturtipp: Hanna Schott, Von Liebe und Widerstand.
Neufeld-Verlag, Schwarzenfeld 2011, 240 S., 14,90 Euro.
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