Der Mord in der Hardenbergstraße |
Nikolaus Jessen, Vertreter einer Fleischfabrik, wollte an jenem Dienstagmorgen noch einige Kunden aufsuchen. So ging er in Berlin-Charlottenburg die Hardenbergstraße entlang, Richtung Bahnhof Zoo. Vor ihm schritt ein Mann in grauem Ulster. Ein zweiter trat von hinten an diesen heran, zog eine Pistole aus der Brusttasche und „schoss aus unmittelbarer Nähe den Herrn in den Hinterkopf, der in dem gleichen Moment nach vorn zu Boden fiel“, wie Kaufmann Jessen zu Protokoll gab, „die Schädeldecke klappte auf“. Erst habe er eine ohnmächtige Dame aufgehoben, dann sei er dem Täter hinterhergerannt, den er schließlich in der Fasanenstraße zu fassen gekriegt habe, berichtete Jessen weiter. Er sei Ausländer, habe der junge Mann gesagt, und der, den er getötet habe, sei auch Ausländer, und all dies gehe die Deutschen nichts an. „Er war ein
feiner, anständiger Junge, er war ruhig und sauber. Er hat alles in Ordnung
gehalten“, sagte Frau Dittmann aus Charlottenburg, wohnhaft Hardenbergstraße
37, aus, bei der der Attentäter zuletzt ein Zimmer gemietet hatte, „am
Vormittag des 15. März, als die Tat passierte, da sagte das Mädchen zu mir, ich
sollte mal kommen, der Herr weint in seinem Zimmer.“ Bürokratisch organisierter Massenmord Was er an jenem
15. März 1921 gespürt habe, wurde Soghomon Tehlerjan später vor Gericht
gefragt. „Ich fühlte eine Zufriedenheit des Herzens“, gab er in gebrochenem
Deutsch zur Antwort, „ich bin auch heute noch sehr zufrieden über die Tat.“ Der
Mann, den der armenische Student erschossen hatte, war Talaat Pascha,
Innenminister und Großwesir der Regierung der Jungtürken, die sich 1908 im
Osmanischen Reich an die Macht geputscht hatten. Die Jungtürken
nahmen eine Reform der Verwaltung, des Heeres und des Bildungswesens in
Angriff. Doch in der Frage der Behandlung der nationalen und religiösen
Minderheiten im Vielvölkerstaat waren sie radikale Nationalisten. „Ihr wisst,
dass nach den Paragrafen der Verfassung die Gleichheit von Muslimen und
Ungläubigen garantiert ist“, sagte Talaat Pascha schon 1910 auf dem Kongress der
Ittihad, der Partei der Jungtürken, in Saloniki, „aber es kann von Gleichheit
nicht die Rede sein, solange wir die Osmanisierung des Reichs nicht
verwirklicht haben.“ Dass er unter Osmanisierung die Türkisierung verstand,
bekamen am schlimmsten die Armenier zu spüren. In der Nacht
vom 24. auf den 25. April 1915 verhaftete die Polizei in Istanbul 235
armenische Persönlichkeiten. Ein Monat später war die Zahl der arretierten
Armenier allein in der Hauptstadt aufs Zehnfache angestiegen. Die meisten
wurden nach Anatolien verschleppt und dort ermordet. Schon im Mai wurde der
Massenmord dann bürokratisch organisiert. Die Regierung erließ ein Gesetz, das
die Befehlshaber der Armeecorps, der Division und der lokalen Garnisonen
ermächtigte, die Deportation von Bevölkerungsgruppen anzuordnen, die der
Spionage oder des Verrats verdächtigt wurden oder deren Dislokation aus
militärischen Gründen opportun schien. Schädel mit dem Beil gespalten Die Vernichtung
der Armenier wurde offiziell nicht von der Regierung, sondern von der
regierenden Ittihad-Partei beschlossen, deren Chef Talaat Pascha war. Und es
ist eine ganze Reihe chiffrierter Depeschen an die Präfektur von Aleppo
erhalten, in denen Talaat persönlich die Ausrottung sämtlicher Armenier
anordnete. Eine von einer
Million Leidensgeschichten erzählte der armenische Student Soghomon Tehlerjan
am 2. Juni 1921 vor Berliner Landsgericht in Berlin-Moabit: „Anfang Juni (1915)
wurde der Befehl gegeben, dass die Bevölkerung sich bereit halten solle, die
Stadt zu verlassen. (...) Drei Tage später wurde die Bevölkerung am frühen
Morgen aus der Stadt gebracht (...). Als sich die Kolonne eine Strecke von der
Stadt entfernt hatte, wurde Halt geboten. Die Gendarmen (...) versuchten, das
Geld und die Wertsachen der Kolonne zu bekommen (...) Bei der Plünderung
bekamen wir Gewehrfeuer von vorn in die Kolonne (...). Dann sah ich, wie der
Schädel meines Bruders mit einem Beil gespalten wurde (...) Meine Schwester
wurde weggeschleppt und vergewaltigt (...). Als die Massaker von den Soldaten
und den Gendarmen angefangen wurden, kam auch der Pöbel hinzu. (...) Die Mutter
ist gefallen (...). Ich habe den Vater nicht gesehen, er war weiter vorn, wo
auch ein Kampf war (...). Ich habe einen Schlag auf dem Kopf gefühlt (...). Als
ich wach wurde, sah ich in der Nähe viele Leichen.“ Dann sei er in die Berge
geflohen, erzählte der Attentäter von der Hardenbergstraße weiter. Über Tiflis
sei er nach Istanbul gelangt, von dort nach Saloniki, weiter nach Paris, Genf,
Berlin. Dort kam
Tehlerjan Anfang Dezember 1920 an. In der deutschen Hauptstadt wohnte auch
Talaat, der Organisator des Völkermords. Er war von einem osmanischen Gericht
in Istanbul 1919 zum Tode verurteilt worden. In Abwesenheit. Denn schon im
November 1918 hatte er an Bord eines deutschen Zerstörers seine Heimat
verlassen. In Berlin traf der flüchtige Großwesir am 10. November ein, einen
Tag nachdem der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann von einem Balkon des
Reichstagsgebäudes aus die Republik ausgerufen hatte. Zum Zorne gereizt Talaat hatte
gehofft, im deutschen Kaiserreich, an dessen Seite das Osmanische Reich in den
Krieg eingetreten war, Schutz zu finden. Der preußische Generalmajor Fritz
Bronsart von Schellenberg war Generalstabschef des osmanisches Feldheeres und
enger Berater des jungtürkischen Kriegsministers. Er begrüßte die Deportationen
der Armenier, die „neunmal schlimmer im Wucher wie die Juden“ seien.
Korvettenkapitän Hans Humann, Sohn des Archäologen, der den Pergamon-Altar
entdeckte, schrieb dem Konsul in Mossul 1915: „Die Armenier werden jetzt mehr
oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich.“ Aber von der
deutschen Beihilfe zum Völkermord war am 2. und 3. Juni 1921 im Moabiter
Gericht nicht die Rede. Es ging um den Mord an der Hardenbergstraße, und auf
Mord stand damals nach Paragraph 211 die Todesstrafe. Nur wer „ohne eigene
Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte Misshandlung oder
schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorne gereizt und hierdurch auf der
Stelle zur Tat gerissen“ worden war, durfte nach Paragraph 212 mit einer
Gefängnisstrafe rechnen. Straffrei ging nach Paragraph 51 aus, wer sich bei der
Tat „in einem Zustand von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der
Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war“. Nun, im Affekt
hatte Soghonom Tehlerjan den Innenminister und Großwesir des Osmanischen
Reiches, Talaat Pascha, gewiss nicht umgebracht. Immerhin hatte er zwei Wochen
vor der Tat mit Bedacht ein Zimmer in der Hardenbergstraße 37 bezogen, schräg gegenüber
der Neunzimmerwohnung Talaats in derselben Straße Nummer 4. Paragraph 212 kam
also nicht in Betracht. Ob der Geisteszustand des armenischen Studenten, der
auch schon epileptische Anfälle gehabt hatte, in einer Weise gestört war, die
eine freie Willensbestimmung ausschloss, darüber stritten sich fünf
Sachverständige vor Gericht des langen und breiten. Drei von ihnen erklärten,
die Voraussetzung für die Anwendung von Paragraph 51 seien nicht gegeben. Teil einer "Fünften Kolonne" Nach
einstündiger Beratung verkündete Otto Reinicke, Obmann der Geschworenen, das
Urteil: Freispruch. Das war eine Sensation. Der ermordete Talaat wurde als
Täter wahrgenommen, als Organisator eines Genozids. Und der studentische Täter,
der auf der Hardenberger Straße die tödlichen Schüsse abgefeuert hatte, wurde
zum Opfer, das seine gesamte Familie verloren hatte. Vermutlich waren die
Geschworenen von den Aussagen des deutschen Schriftstellers und Theologen
Johannes Lepsius und des armenischen Bischofs Krikoris Balakian, beide Augenzeugen
von Deportationszügen und Massakern, tief beeindruckt ? und auch von der
Leidensgeschichte Soghomon Tehlerjans. Doch diese war,
was das Gericht nicht wissen konnte, zum großen Teil erfunden. Zwar hatte der
armenische Student tatsächlich im Genozid die ganze Familie verloren. Aber er
selbst war nicht unter den Deportierten gewesen. Er hatte auf russischer Seite
in einem armenischen Freiwilligenbataillon gegen die türkischen Truppen
gekämpft. Er war also – im Jargon der türkischen Propaganda ? Teil einer
„Fünften Kolonne“, mit deren Existenz die Deportationen begründet wurden, die
in einem Genozid endeten. Allerdings sah Tehlerjan die Zerstörung der
armenischen Dörfer mit eigenen Augen, als seine Einheit bei einem Vorstoß der
Russen in seine Heimatgegend vordrangen. Und noch etwas
wusste das Gericht nicht: Tehlerjan war kein Einzeltäter, kein einsamer Robin
Hood. Er gehörte einem geheimen armenischen Kommando an, das sich vorgenommen
hatte, die obersten Verantwortlichen des Völkermords weltweit zu jagen. Es war
die „Operation Nemesis“, benannt nach der griechischen Göttin des gerechten
Zorns. Etwa ein Dutzend Protagonisten des Genozids wurden umgebracht – in
Istanbul, Tiflis, Rom und Berlin. Soghomon
Tehlerjan verließ das Gerichtsgebäude in Moabit als freier Mann und starb 1960
im amerikanischen Exil. Talaat Pascha wurde im Mätthaus-Friedhof in
Berlin-Schöneberg bestattet. Seine Überreste wurden 1943 nach Istanbul
überführt – unter militärischen Ehrenbezeugungen des Hitler-Regimes. © Berliner Zeitung Der Text ist eine stark gekürzte und leicht erweiterte Fassung eines Buchbeitrags, erschienen in: Werner Raith/Thomas Schmid (Hg.), Der politische Mord, Göttingen, Werkstatt Verlag1995 |