Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 24.08.2015
Vor hundert Jahren trafen sich in Zimmerwald bei Bern pazifistische und
revolutionäre Sozialisten und verabschiedeten ein Manifest gegen den Krieg.
Vogelkundler
lieben nun mal die Natur. Und so schöpfte niemand Verdacht, als die drei
Dutzend Ornithologen, die vor hundert Jahren aus zahlreichen Ländern in der
Schweiz zusammenkamen, in Bern vier Pferdefuhrwerke bestiegen und aufs Land
hinausfuhren. In Zimmerwald, einem Dörfchen zehn Kilometer außerhalb der Stadt,
in einer sanften Hügellandschaft zwischen Wäldern und Wiesen gelegen, da, wo Amsel,
Drossel, Fink und Star um die Wette zwitschern, hatten sie das Hotel
Beau-Séjour (Schöner Aufenthalt) für ihre Tagung reserviert. Einige nächtigten
dort, andere in der benachbarten Pension Schenk. Dem Staatsschutz war nichts
aufgefallen. Auch dem Landjäger nicht, der dem Wirt des Hotels eine Strafe
aufbrummte, weil der die Polizeistunde nicht einhielt und weil die lustige
Gesellschaft zu laut zechte. Und die Dörfler erfuhren erst, als die illustren
Gäste abgereist waren, wen sie da beherbergt hatten.
In Europa tobte bereits
seit über einem Jahr ein Krieg, der etwa 17 Millionen Menschen das Leben kosten
sollte, als in Zimmerwald Weltgeschichte geschrieben wurde. In der abgelegenen
Herberge hatten sich, als schrullige Wissenschaftler getarnt, prominente
Sozialisten eingefunden, unter ihnen Wladimir Iljitsch Uljanow und Lew
Dawidowitsch Bronstein, schon damals als Lenin und Trotzki bekannt, aber auch
der polnische Sozialdemokrat Karl Radek, der an der Russischen Revolution von
1905 beteiligt war und 1907 nach Deutschland emigrierte, wo er der SPD beitrat.
Aus Italien, Frankreich, Schweden, Bulgarien, Rumänien und den Niederlanden
waren ebenfalls Genossen angereist. Und auch drei Genossinnen waren gekommen,
unter ihnen die Deutsche Bertha Thalheimer, die später die KPD mitgründete, aus
der sie dann ausgeschlossen wurde, und die als Jüdin das KZ Theresienstadt
überlebte.
Sie alle
vereinte ihre Gegnerschaft zum „Burgfrieden“, den die meisten Parteien der
Zweiten (Sozialistischen) Internationalen mit der Regierung in ihren Ländern
geschlossen hatten. Der Antimilitarismus war nach Kriegsausbruch dem
Patriotismus gewichen. Überall in Europa unterstützten Sozialdemokraten und
Sozialisten die Kriegsanstrengungen ihrer innenpolitischen Gegner. Angesichts
der nationalistischen Aufwallungen appellierten die Genossen, die in Zimmerwald
vom 5. bis zum 8. September 1915 zusammentrafen, an die internationale
Solidarität der Arbeiterklasse.
„Europa gleicht
einem gigantischen Menschenschlachthaus“, heißt es im „Zimmerwalder Manifest“,
das im Wesentlichen vom wortgewaltigen Trotzki verfasst und von den
versammelten Genossen verabschiedet wurde, „die Kapitalisten aller Länder, die
aus dem vergossenen Blut des Volkes das rote Gold der Kriegsprofite münzen,
behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie,
der Befreiung unterdrückter Völker. Sie lügen (…) Kulturelle Verödung,
wirtschaftlicher Niedergang, politische Reaktion – das sind die Segnungen
dieses gräuelvollen Völkerringens.“ Das Manifest schließt mit den Worten:
„Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete
und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet,
rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die
zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder vereinigt euch!“
Ein radikalerer
Entwurf von Lenin, der aufforderte, den „imperialistischen Krieg“ in einen
revolutionären Krieg gegen die herrschende Klasse umzuwandeln, fand keine
Mehrheit. Aber die Minderheit um ihn formierte sich als „Zimmerwalder Linke“.
Im Dorf bei Bern nahm damit die Spaltung der
Arbeiterbewegung in eine sozialdemokratische und eine kommunistische Strömung ihren Anfang, eine Spaltung, die später den Sieg der Faschisten in Italien und der Nationalsozialisten in Deutschland erleichtern sollte.
Die Zimmerwalder
selbst erfuhren vermutlich aus der „Berner Tagwacht“, dem Organ der
Sozialdemokratischen Partei des Kantons, wer sich hinter den angeblichen
Ornithologen verbarg, die in ihrem Dorf zu einem Geheimtreffen zusammengekommen
waren. Denn Chefredakteur der Tageszeitung war Robert Grimm, der zur Konferenz
eingeladen hatte. In jedem Weltatlas der Sowjetunion war schon bald der Ort
Zimmerwald eingezeichnet. Aber stolz auf das historische Treffen waren die Dörfler
nicht. Im Gegenteil, sie fanden es offenbar peinlich, dass sich „die rote
Gefahr“ just bei ihnen eingenistet hatte. Jedenfalls waren sie gar nicht
„amused“, als nach dem Krieg kommunistische Touristen ihren Ort aufsuchten und zahlreiche
Briefe und Postkarten eintrafen, die Schulklassen oder Arbeiterkollektive aus
der Sowjetunion abgeschickt hatten. Also ergänzten in einer Gemeindeversammlung
die Männer (die Frauen erhielten erst neun Jahre später das Stimmrecht) die
Gemeindebauordnung um einen Paragraphen „zum Schutz des gesunden Wohnens“, der
die Aufstellung von Denkmälern und die Anbringung von Gedenktafeln jeder Art
verbot. Man fürchtete offenbar, ein kupferner Lenin-Koloss oder ein Trotzki,
gemeißelt in Stein, könnte das Dorfbild dauerhaft beschädigen.
Längst ist die
Berliner Mauer gefallen und die Sowjetunion kollabiert. Und in Zimmerwald, wo
einst als Vogelkundler getarnte Sozialisten eintrafen, befindet sich nun die
Zentrale von Onyx, dem Schweizer Satellitenabhörsystem, die, getarnt als Mehrzweckhalle,
vom militärischen Auslandsgeheimdienst errichtet wurde. Aus dem lauschigen
alten Dorfplatz ist ein gewöhnlicher Parkplatz geworden. Das Hotel Beau-Séjour ist
längst abgebrochen, und die Pension Schenk musste einer Filiale der regionalen
Sparkasse weichen. Zimmerwald hat sich verändert, und seine Bewohner haben
inzwischen ein unverkrampfteres Verhältnis zur Geschichte ihres Dorfes.
So nötigte es
den Zuschauern nur noch ein Schmunzeln ab, als 1996 – das Dorf feierte den 700.
Jahrestag seiner ersten urkundlichen Erwähnung - im Umzug ein Glatzkopf mit akkurat gestutztem Ziegenbärtchen
mitlief, der dem Gründer der Sowjetunion zum Verwechseln ähnlich sah. Im selben
Jahr trat im Dorf auch zum ersten Mal die lokale Jazz-Band „Hot Lenin“ auf, die
vor allem Bossanova und Swing auf ihrem Programm hatte. Der Geiger der schrägen
Musiktruppe, der Zimmerwalder Lehrer Caspar Bieler, hatte zuvor den FC Lenin
gegründet. Heute gehören dem Fußballclub der etwas über tausend Seelen
zählenden Gemeinde zwölf Amateursportler an, der Jüngste ist ein Teenager im
Alter von 14 Jahren, der Älteste ist mit 66 ein rüstiger Rentner. Und auch eine
Frau kickt mit. Unter den Trophäen des illustren Clubs befindet sich ein Pokal
mit der Aufschrift: „Die Ornithologen gratulieren dem FC Lenin zum 11-jährigen
Jubiläum“.
Zum 99.
Jahrestag der Zimmerwalder Konferenz schrieben die beiden Schweizer Autoren
Ariane von Graffenried und Matto Kämpf im vergangenen Jahr unter dem Titel
„Alle Vögel sind schon da“ ein Theaterstück, gesprochen in Russisch und
Schweizerdeutsch, das in Bern und Zürich aufgeführt wurde. Zum 100. Jahrestag
findet nun zum ersten Mal im Regionalmuseum bei Zimmerwald selbst eine
Ausstellung über die im Dorf lange Zeit verdrängte historische Konferenz statt.
Die 40 Teilnehmer – unter ihnen Lenin, Trotzki, Radek und Grimm - sind alle, als
Vögel dargestellt, auf einer Wäscheleine aufgereiht.
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