Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04.08.2014
An Kassandrarufen hat es nicht gefehlt. Die Libyer werden
sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, wenn Gaddafi gestürzt sei, hatten
Kritiker der Nato-Intervention vor drei Jahren gewarnt. Stammeskämpfe ums Öl
wurden prophezeit, ein Bild von Chaos und entfesselter Gewalt an die Wand
gemalt. Und in der Tat: Heute bekämpfen sich allerlei Milizen, der Flughafen von Tripolis ist zerstört, Bengasi wird
von Islamisten kontrolliert. Der Staat kollabiert.
War die Nato-Intervention vom März 2011 also ein Fehler? Zwingend
kann dies – post festum – aus dem tristen Befund nicht geschlossen werden. Man
erinnere sich: Der Osten des Landes hatte in einem zivilen Aufstand, dem sich
desertierende Armeeteile anschlossen, die Herrschaft Gaddafis abgeschüttelt.
Mit Kampfjets und schwerer Artillerie gingen die Spezialeinheiten des Diktators
danach gegen die Rebellen vor. Erst als die Panzerverbände den Stadtrand
Bengasis erreichten, wurden sie von Kampfbombern der Nato gestoppt.
Wahrscheinlich – es muss Spekulation bleiben – wurde ein Massaker an der
Zivilbevölkerung verhindert, das Gaddafi ziemlich unverblümt angedroht hatte.
Bekanntlich schützte die Nato aber nicht nur die unmittelbar
bedrohte Zivilbevölkerung, sondern bombte auch – ohne UN-Mandat – einen
Regime-Wechsel herbei. Andernfalls wäre es womöglich zu einem jahrelangen Krieg
zwischen dem aufständischen Osten und dem von Gaddafi kontrollierten Westen
gekommen – mit weit mehr Toten, als die Kämpfe zwischen Milizen in den Jahren
nach Gaddafis Tod forderten. Auch dies ist Spekulation.
Gewiss aber haben die Interventionsmächte schmählich
versagt, als es um den Wiederaufbau Libyens ging. Gaddafi hatte den Staat selbst weitgehend abgebaut,
zahlreiche Ministerien aufgelöst. Anders als die Tunesier mussten die Libyer
nach dem Ende der Diktatur quasi bei Null anfangen. Vom Westen kam kaum Hilfe.
Die Dynamik der libyschen Entwicklung nach der
Nato-Intervention war nicht zwangsläufig. Auch in Umbruchprozessen gibt es immer Alternativen.
Gewiss, Interventionen sind interessegeleitet. Trotzdem: von einem ethischen
Gesichtspunkt aus betrachtet, sind sie nicht prinzipiell schlecht oder gut. Manchmal verschlimmern sie die Lage,
manchmal sind sie die beste einer Reihe schlechter Lösungen. Letztlich kommt es
darauf an, ob Interventionen mehr Leben retten als Tote fordern. Und da dies
erst im Nachhinein bilanziert werden kann, ist die Wertung immer mit Spekulation behaftet. Erst recht,
weil Interventionen oft auch einer Destabilisierung Vorschub leisten, die zu
weiteren tödlichen Verwerfungen führen können.
Zum Beispiel Irak. Es gab gute Gründe, Saddam loszuwerden.
Der vom Westen lange Zeit gehätschelte Diktator hat Zehntausende von Kurden und Schiiten hinmetzeln lassen und
auch Giftgas gegen Zivilisten eingesetzt. Der Feldzug von Bush, dem Jüngeren, aber war verlogen begründet und
katastrophal geführt. Die USA zerschlugen faktisch den irakischen Staat. Dies
führte vor zehn Jahren zu einem Aufstand
der Sunniten, der mit Hilfe schiitischer
Milizen niedergeschlagen wurde. Dass viele sunnitische Stämme heute den
„Islamischen Staat“, eine radikale Abspaltung von Al Kaida, unterstützen, ist eine späte Folge der US-Intervention.
Afghanistan, Irak, Libyen – der Eindruck, dass militärische
Interventionen prinzipiell kontraproduktiv sind, drängt sich auf. Andererseits
spielt sich das weltweit schrecklichste Drama in Syrien ab: 170.000 Tote, 2,9
Millionen Syrer im Exil, 6,5 Millionen Vertriebene im eigenen Land. Der Westen hat sich weder für die Einrichtung
von Schutzkorridoren noch für die Durchsetzung einer Flugverbotszone eingesetzt, noch hat er der
laizistischen Opposition nennenswerte Waffenhilfe geleistet. Faktisch null
Intervention. Und so bombt die syrische Luftwaffe unverdrossen weiter ganze Städte
in Schutt und Asche, lässt Fassbomben über von Rebellen gehaltene Orte
abwerfen.
Es gibt gute Gründe anzunehmen – aber auch dies ist
Spekulation –, dass eine begrenzte Intervention ein militärisches Patt hätte
herbeiführen können, das Assad zu
Verhandlungen gezwungen hätte. Stattdessen gebietet heute der terroristische „Islamische Staat“
in seinem Kalifat über viel weitere Gebiete, als Al Kaida in Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban je unter Kontrolle hatte. Es entsteht eine
Heimat für Dschihadisten aus aller Welt.
Gewiss, es gibt keine
militärische Lösung des Problems. Doch wird es vielleicht schon bald ohne
militärische Operationen auch keine
politische Lösung mehr geben. Die Welt ist unsicherer geworden – in einigen Fällen wegen, in anderen trotz einer
militärischen Intervention, und in wieder anderen, weil eine solche ausblieb.
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