Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.09.2014
Es war hierzulande keiner Zeitung eine Schlagzeile mehr wert: Nach
Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR)
ertranken 300 bis 500 Personen, als in der vergangenen Woche zwischen
Malta und Kreta ein Schiff sank. Es ist wohl die größte
Schiffskatastrophe auf dem Mittelmeer, seit Flüchtlinge aus Afrika und
Nahost sich Seelenverkäufern anvertrauen, um Armut, Krieg und Terror zu
entfliehen und sich in Europa eine Zukunft zu bauen. Am Sonntag verloren
über 200 weitere Flüchtlinge vor der libyschen Küste ihr Leben. Etwa
800 Tote, unter ihnen über hundert Kinder, in wenigen Tagen. Massengrab
Mittelmeer.
Auch bloß der Armut zu entfliehen, ist ein durchaus respektables Motiv
für die Flucht nach Europa. Und mit gutem Grund hat schon Thomas Jefferson neben Leben und Freiheit auch das "Streben nach Glück"
(pursuit of happiness) als unveräußerliches Recht aller Menschen in die
amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 hineingeschrieben.
Gewiss, es gibt die Armutsflüchtlinge aus Afrika, es sind viele, und es
werden noch mehr werden. Aber von den über 130 000 Menschen, die allein
in diesem Jahr übers Mittelmeer nach Europa kamen, sind - nach Angaben
der UNHCR - über die Hälfte eben gerade keine Armutsflüchtlinge. Die
größten Kontingente kommen aus Syrien, wo seit drei Jahren ein
erbarmungsloser Krieg tobt, und aus Eritrea, wo sich das Regime mit
Folter, Arbeitslagern und Schießbefehl den Ruf eines "Nordkorea Afrikas"
erworben hat.
Am 3. Oktober jährt sich die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa, bei
der vor einem Jahr 366 Menschen eine Meile vor der Küste der
italienischen Insel ertranken. Damals war die Weltöffentlichkeit
entsetzt. Der Papst eilte nach Lampedusa und warnte vor der
Globalisierung der Gleichgültigkeit. Italien startete die Operation
"Mare Nostrum" (unser Meer). So nannten das Mittelmeer die alten Römer,
die einst alle seine Küsten kontrollierten. So nannte es Mussolini, der
von der Wiederherstellung des Imperiums Romanum träumte. Aber nun ging
es Italiens Regierung einfach ums Meer, das uns - Nordafrika, Nahost,
Europa - miteinander verbindet. Unser Meer eben.
Italien hat sich Lorbeeren verdient. Seine Küstenwache und seine
Kriegsschiffe haben allein in diesem Jahr über hunderttausend
Flüchtlinge aus Seenot gerettet oder sicher nach Lampedusa, Sizilien
oder Kalabrien gebracht. Vor allem deshalb sind in diesem Jahr doppelt
so viele Flüchtlinge übers Mittelmeer gekommen wie im vergleichbaren
Zeitraum des vergangenen Jahres. Aber - und das ist die andere Bilanz -
viermal mehr, etwa 2 900 Menschen, sind ertrunken. Dunkelziffer
unbekannt.
Die große Rettungsaktion "Mare Nostrum" kostet den italienischen Staat
monatlich neun Millionen Euro. Italien hat angekündigt, die Operation im
November zu beenden. Die EU will einspringen. Das Zauberwort heißt
Frontex plus. Die europäische Grenzschutzagentur soll die Aufgabe der
Italiener zumindest zum Teil übernehmen. Nur hat Frontex weder eigene
Flugzeuge noch eigene Schiffe noch eigene Truppen, sondern muss diese
bei jeder neuen Operation von den EU-Mitgliedsländern anfordern. Und
während das Einsatzgebiet der Italiener im Rahmen von Mare Nostrum erst
vor den nordafrikanischen Küstengewässern endete, wird sich Frontex plus
wohl auf die Überwachung der europäischen Küstengewässer beschränken.
In den internationalen Gewässern, auf hoher See, werden also noch mehr
Menschen sterben.
Unter dem Eindruck der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa im
vergangenen Jahr hatte Bundespräsident Joachim Gauck gesagt: "Leben zu
schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, sind wesentliche Grundlagen
unserer Rechts- und Werteordnung." Wo aber sollen die Flüchtlinge Gehör
finden? Die Rechtslage ist klar: in demjenigen Land, in dem sie zuerst
EU-Boden betreten. Die Mittelmeerflüchtlinge also zu 90 Prozent in
Italien.
Deutschland ist fein raus. Es hat keine EU-Außengrenzen, sondern einen
Cordon sanitaire von Pufferstaaten. Es gewährt ein Recht auf Asyl, das
der Flüchtling nicht wahrnehmen kann. Italien seinerseits setzt viele
Ankömmlinge schneller auf freien Fuß, als den Deutschen lieb ist. Eine
europäische Asylpolitik, die den Namen verdient, sähe anders aus. Es ist
Zeit, zumindest den politischen und Kriegsflüchtlingen die Möglichkeit
zu eröffnen, sich in den EU-Botschaften der Transitstaaten um Asyl zu
bewerben. Humanitäre Korridore müssen geschaffen werden. Die damit
verbundenen Probleme sind offensichtlich, aber nicht unüberwindbar. Die
Alternative heißt Massengrab Mittelmeer.
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