Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 29.09.2014
Ist
die US-Intervention in Syrien ein Bruch des Völkerrechts? War sie angesichts
des Terrors des "Islamischen Staats" aus humanitären Gründen geboten?
Die Fragen an sich verweisen schon auf einen zivilisatorischen Fortschritt. Denn
es ist noch keine hundert Jahre her, da war es bloß eine Frage der politischen
Opportunität, ob ein Staat einen andern militärisch angriff oder nicht. Das
"ius ad bellum" (Recht zum Krieg) gehörte zu den selbstverständlichen
Attributen eines souveränen Staates. Erst 1928, noch unter dem Eindruck von
über zehn Millionen Toten des Ersten Weltkrieges, wurde im Briand-Kellogg-Pakt
der Angriffskrieg international geächtet. Nach weiteren 55 Millionen Toten im
Zweiten Weltkrieg schrieben die Gründerstaaten der Vereinten Nationen 1945 in
die UN-Charta, dass "bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei
Angriffshandlungen" eine militärische Intervention erlaubt ist, wenn sie
der UN-Sicherheitsrat autorisiert.
Doch
scherte sich in den vier Jahrzehnten des Kalten Krieges keine der beiden
Großmächte um die UN-Charta. Sowjettruppen marschierten 1956 in Ungarn ein und
1968 in der Tschechoslowakei, die US-Army intervenierte 1964 in der
Dominikanischen Republik und 1979 in Panama. Keine Seite suchte das Plazet des
Sicherheitsrats, in dem die fünf ständigen Mitglieder ein Vetorecht haben. Denn
die Sowjets pflegten Njet zu sagen, wenn die Amerikaner Yes sagten - und
umgekehrt.
Erst
mit der Implosion der Sowjetunion und dem Ende der Blockkonfrontation endete
die gegenseitige Blockade. Der Sicherheitsrat autorisierte Interventionen im
Irak (1991), in Somalia (1992), in Haiti (1994). Immer häufige tauchte der
Begriff der "internationalen Gemeinschaft" auf. Doch das diplomatische
Tauwetter blieb eine Episode. Im Kosovo intervenierte die Nato 1999 angeblich
aus humanitären Gründen, ohne den Sicherheitsrat um Erlaubnis zu fragen, weil
Russland eine Entscheidung ohnehin blockiert hätte. Auch die verlogen
begründete US-Intervention im Irak von 2003 war nicht autorisiert. Beide Male
ein klarer Bruch des Völkerrechts.
Auch
völkerrechtswidrig wäre gewesen, wenn Frankreich, das Truppen in der Region
stationiert hatte, 1994 in Ruanda eingegriffen hätte, um den Völkermord zu
verhindern, der 800 000 Tote forderte. Erst im Jahr 2005 sprach sich die
Generalversammlung der Vereinten Nationen nahezu einstimmig für eine
Schutzverantwortung aus: Die politische Führung eines Staates ist verpflichtet,
ihre Bürger zu schützen. Will oder kann sie dies nicht, soll der Sicherheitsrat
notfalls eine militärische Intervention autorisieren.
Just
auf diese Schutzverantwortung rekurrierte der Sicherheitsrat, als er im
Arabischen Frühling den Nato-Angriff auf die Truppen Gaddafis erlaubte, um die
bedrohte Zivilbevölkerung zu schützen. Der Westen legte die UN-Resolution sehr
großzügig aus, überzog das Mandat und bombardierte das Ende des Regimes herbei,
was Russland scharf kritisierte, es aber nicht daran hinderte, drei Jahre
später mit der Annexion der Krim das Völkerrecht noch viel unverfrorener zu
verletzen. Vor der Bombardierung der Stellungen des "Islamischen
Staats" in Syrien haben die USA den Sicherheitsrat nun nicht um Erlaubnis
gebeten. Man kann darüber streiten, ob damit Völkerrecht gebrochen wurde.
Sicher ist nur, dass seine Missachtung und jede Ausweitung der Grauzone den
Prozess seiner Erosion beschleunigt.
Ob
das in der UN-Charta verbriefte Völkerrecht zur Anwendung kommt oder nicht ,
darüber entscheiden - ganz nach Lage ihrer Interessen - fünf Mitglieder des
Sicherheitsrates, die Siegermächte von 1945. Die Interessen der arabischen
Welt, Afrikas, Lateinamerikas, Indiens aber sind nirgends aufgehoben. Und
deshalb wird ohne Reform des Sicherheitsrates dessen Bedeutung bei der
Legitimierung militärischer Interventionen weiter schwinden.
Zu
Recht hat Frank-Walter Steinmeier nun eine Reform und eine Erweiterung des
Sicherheitsrats angemahnt. Leiser als seine Vorgänger drängt auch er auf einen
deutschen Sitz im obersten UN-Gremium. Doch die Europäer haben schon zwei
Sitze, eher einen zu viel als einen zu wenig. Wichtiger ist, dass der Süden in
das höchste Gremium der Uno, bislang ein Machtorgan des Nordens, integriert
wird. Und schließlich muss das Vetorecht durch qualifizierte Mehrheiten ersetzt
werden.
Leider
setzt jede Reform des Sicherheitsrats die Einwilligung aller fünf heute
vetoberechtigten Mitglieder voraus. Die Chance, dass sie gelingt, ist deshalb
nicht sonderlich groß. Denn die Mächtigen wollen nicht freiwillig auf Macht
verzichten. Ohne Reform aber droht eine Rückkehr der alten Zeiten, als es nur
eine Frage der politischen Opportunität war, ob ein Staat einen andern angreift
oder nicht.
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