Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 18.06.2013
Bénédict Hentsch entstammt einer berühmten Genfer
Bankierdynastie. In siebter Generation verwaltet er Vermögen.
Nun steht der Bankenplatz Schweiz unter Beschuss. Aber Hentsch ist nicht nur Bankier, er ist auch Bauherr.
GENF. Als
Napoleon Bonaparte wieder einmal in Geldnöten war, traf er sich 1803
in Genf mit Henri Hentsch. Der frühere Seidenhändler, Sohn eines
preußischen Hauslehrers, hatte sieben Jahre zuvor in der Rhonestadt
eine Bank eröffnet. Napoleon hatte gerade den Piemont seinem Reich
einverleibt. Und nun musste er die dortige Besatzungstruppe bezahlen.
"Ich bin nicht so verrückt, Ihnen das Geld zu leihen, Sire", sagte
der Bankier dem acht Jahre jüngeren Besucher, der schon im Folgejahr
in der Pariser Kathedrale Notre Dame sich selbst zum Kaiser krönen
sollte, "aber wenn Sie diesen verrückten Mann finden, will ich gerne
Zahlmeister Ihrer Truppe sein." Napoleon fand einen Bankier oder einen
Unternehmer, der ihm Geld lieh, und Hentsch verwaltete es und
schickte jede Woche einen Karren mit dem Sold über den Großen
Sankt Bernhard hinunter in den Piemont.
"Mein Ururururgroßvater
hat damals die Vermögensverwaltung erfunden", sagt Bénédict
Hentsch, der die Geschichte über seinen illustren
Vorfahren
erzählt, "er war der erste Treuhänder." Hentsch, geboren 1948, ist
Bankier in siebter Generation. Er empfängt in einem modernen,
lichtdurchfluteten Büro, in dem als einziger Schmuck ein abstraktes
Gemälde hängt. Die Glasfassade gibt den Blick auf die größte Baustelle
Genfs frei, von der noch die Rede sein wird. Hentsch steht kurz vor
dem Rentenalter, wirkt aber deutlich jünger. Er strahlt Erfolg aus,
auch wenn ihm Niederlagen in seiner kurvenreichen Karriere nicht
erspart geblieben sind. Neben seiner französischen Muttersprache redet
er mühelos in vier weiteren Sprachen: in Englisch, Portugiesisch,
Spanisch und Deutsch - und auch den kehligen Dialekt der
Deutsch-Schweizer beherrscht er erstaunlich gut.
Genf ist der
zweitwichtigste Bankenplatz der Schweiz. In Zürich sind die beiden
Großbanken UBS und Credit Suisse angesiedelt und zahlreiche
weitere Geschäftsbanken, die sich in allen Sparten des
Finanzgeschäfts tummeln und auch die Gelder von Kleinsparern gern
annehmen. Die UBS allein hat ungefähr eine Million Kunden. Genf
hingegen ist vorwiegend Platz gediegener Privatbankiers, die große
Vermögen verwalten. Klein, aber fein, ist die Devise. Die Banque
Bénédict Hentsch verwaltet vermutlich eine Milliarde Franken. Aber
was ist das schon angesichts der 2700 Milliarden an ausländischen
Vermögen, die Angaben der Schweizer Bankiervereinigung zufolge Ende
2011 in Schweizer
Tresoren lagerten?
Das Recht des Stärkeren
Dass da vieles am
Wohnort des Kontoinhabers nicht korrekt versteuert ist, bestreitet
Hentsch gar nicht. Aber er hat es nie als seine Aufgabe betrachtet,
dem nachzuspüren, sich bei seinen Kunden rückzuversichern,
ob sie ihrem Steueramt auch alles brav deklariert haben. "Ich bin doch
nicht die Polizei", stellt der Bankier klar - und hält es also so wie
alle Schweizer Bankiers. Gegen die Gesetze hat er dabei gewiss nicht
verstoßen. Das Bankgeheimnis, das 1934 gesetzlich verankert wurde,
verbietet ihm sogar, Daten seiner Kunden an ausländische
Steuerbehörden herauszurücken. Täte er es, würde er sich strafbar
machen.
Soll was 70 Jahre lang rechtens war, nun plötzlich
Unrecht sein? Die Europäische Union findet das. Sie will die Schweiz
und andere Kleinstaaten zwingen, Steuerschlupflöcher zu schließen und
den automatischen Austausch von Steuerdaten zu akzeptieren.
"Unter dem Druck der wirtschaftlichen Misere", sagt Hentsch
lakonisch. Nicht zu Unrecht. Aber falsch muss es ja deswegen nicht
sein. Wie auch immer: Um in den USA Geldstrafen in Milliardenhöhe
wegen Beihilfe zur Steuerflucht zu entgehen, bat die UBS 2009 die
Schweizer Regierung, die Daten amerikanischer Steuerflüchtlinge an die
US-Steuerbehörde verraten zu dürfen, in ihrem Fall also das
Bankgeheimnis aufzuheben. Die Regierung gab dem Begehren der UBS
nach, und die Bank lieferte. "Die USA sind der einzige Staat, der
nicht den Wohnort als Kriterium der Besteuerung hat, sondern die
Nationalität", sagt Hentsch, "die USA besteuern jeden US-Bürger,
egal, wo er lebt. Nach Schweizer Gesetz aber ist der US-Kunde vom
Bankgeheimnis geschützt. Da prallten zwei Rechtssysteme aufeinander.
Hinter dem amerikanischen steht eben die größere Macht. Das
schweizerische Rechtssystem wurde beiseitegeschoben." Und dann fügt er -
ins Französische fallend - resigniert hinzu, was der
französische Schriftsteller Jean de La Fontaine schon im 17.
Jahrhundert festgestellt hat: "La raison du plus fort est toujours la
meilleure" ("Des Stärkeren Recht ist stets das beste Recht gewesen").
Wird der Genfer Privatbankier von seinen ausländischen Kunden künftig
eidesstattliche Versicherungen fordern, dass sie alle Gelder, die sie
ihm anvertrauen, bei ihrer Steuerbehörde deklariert haben? Wird er sich
gar die Steuererklärung vorlegen lassen? Und wird er diese dann auch
noch nachprüfen? Aber wie? Oder wird er die Verwaltung amerikanischer
Guthaben vorsichtshalber zurückweisen? "Was amerikanische
Kunden betrifft, war es immer Politik unseres Hauses, sie
abzuweisen, und nie, ihnen den Schutz des Bankgeheimnis anzubieten",
sagt Hentsch mit erregter Stimme, "ich finde es unerträglich,
dass wir nun an den Pranger gestellt werden, als ob wir rechtswidrig
gehandelt hätten. Ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen. Ich
lasse mir da nichts in die Schuhe schieben." Hentsch wirkt
kontrolliert, selbst wenn er sich angegriffen fühlt. Über zwei
Jahrhunderte Bankengeschichte spiegeln sich in der Familie
Hentsch. Die Schweiz ist in dieser Zeit von einem der ärmsten Länder
Europas zu einem der reichsten des Kontinents aufgestiegen - nicht nur,
aber auch wegen ihrer Banken, wegen des Bankgeheimnisses. Dieses
geriet schon früher unter Beschuss, weil es Diktatoren wie Mobutu
und Duvalier alias "Baby Doc" half, ihre illegal erworbenen Reichtümer,
gigantische Geldsummen, zu verstecken. Jetzt aber geht es um in der
Regel legal erworbene Vermögen. Ein ganzes Geschäftsmodell steht zur
Disposition.
Ist es mit der Moral zu vereinbaren, dass in der
Schweiz Milliarden unversteuerter Gelder deutscher Bürger liegen, die
dem deutschen Fiskus entzogen werden? "Jetzt sagt man also, es
sei zwar legal, aber unmoralisch", ereifert sich Hentsch. Aber wer
entscheidet, was moralisch oder unmoralisch ist? Meine Erziehung
brachte mich dazu, gewisse Sachen zu machen und andere zu lassen. Aber
ich muss mich natürlich im gesetzlichen Rahmen bewegen. Und der wird
in der Schweiz letztlich vom Volk festgelegt."
Auf die
Tradition der direkten Demokratie mit ihren häufigen Volksabstimmungen
ist Hentsch stolz. Doch ein Nationalist ist er gewiss nicht. Sein
Horizont sind nicht die Schweizer Berge. Er denkt in globalen
Kategorien, spricht von "trader", "fact finding trip",
"networking" und "level playing field" und ist in vielen Welten zu
Hause.
Ein Trauma aller Schweizer
Hentsch schloss ein Studium
in der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Sankt
Gallen ab, wie die heutige Universität und Kaderschmiede für künftige
Manager damals hieß. Sein Handwerk lernte er in Sao Paulo. Zehn Jahre
lang war er Repräsentant der JP Morgan, der größten US-Bank in
Brasilien. "Ich hatte das Privileg, für die beste Bank der Welt zu
arbeiten", sagt er im Rückblick.
Doch eines Tages kam der Vater
nach Brasilien und bat ihn, seine Nachfolge in der Genfer Bank
anzutreten. Hat er dem Sohn die Pistole auf die Brust gesetzt? "Nein,
das gewiss nicht", sagt der Bankier lachend, "aber es war klar, dass er
sonst seine Anteile an den Partner hätte zurückverkaufen müssen." Der
Abschied von Sao Paulo, wo er eine Brasilianerin geheiratet hat und wo
seine drei Kinder geboren sind, fiel Hentsch schwer, zumal er ein
attraktives Angebot hatte: JP Morgan bot ihm eine Top-Position in
London an. "Doch ich fühlte mich in der Verantwortung, das Erbe der
Familie fortzusetzen." Hentsch sagt es ohne jedes Pathos.
Der
Karriereknick kam im Herbst 2001. Am 2. Oktober lernten die
Schweizer ein neues Wort: Grounding. Die Swissair, der Stolz der Nation,
lag buchstäblich am Boden. Keine Maschine mit dem weißen Kreuz auf
der roten Heckflosse hob mehr ab. Die Eidgenossenschaft hatte
eine Staatsgarantie von einer Milliarde Franken verweigert, die
Großbanken hatten den Geldhahn zugedreht, also betankten die
Treibstofflieferanten die Flotte nicht mehr. Die Swissair war pleite.
"Es war für mich und die ganze Schweiz ein Trauma", sagt Hentsch, der
damals Vizepräsident des Verwaltungsrates der Fluggesellschaft war. Ein
schweizerischer Verwaltungsrat entspricht in etwa einem deutschen
Aufsichtsrat. Zwei Tage vor dem Grounding, mitten in der Krise,
stieg Hentsch als Partner von Darier Hentsch aus seiner Familienbank
aus. Ein anderer hätte stattdessen wohl den Verwaltungsrat verlassen.
"Aber ich sah es als meine Verantwortung an, dort bis zur Lösung
des Falls zu bleiben", begründet er seine Entscheidung.
Sicher
wollte er auch Schaden von seiner Bank abwenden. Denn dieser drohte ein
Verlust an Reputation. Gegen Hentsch wurde immerhin wie gegen
sämtliche Mitglieder des Verwaltungsrates und der Konzernführung später
ein Strafverfahren wegen untreuer Geschäftsführung und
Gläubigerschädigung eröffnet. 2007 wurden sie jedoch alle
freigesprochen. Als das Schlimmste im Frühling 2002 überstanden war und
die Swiss, Nachfolgerin der bankrotten Swissair, Gestalt annahm,
verabschiedete sich Hentsch aus dem Verwaltungsrat. Zwei Jahre später
stieg er wieder ins Bankgeschäft ein. Doch ging er nicht zur alten Bank
zurück, sondern gründete nun seine eigene, die Banque Bénédict
Hentsch.
In der lokalen Presse wird Hentsch mitunter als
Enfant terrible der Genfer Bankiers bezeichnet. "Klischees", wehrt
Hentsch ab, "vielleicht hat es mit dem Swissair-Debakel zu
tun." Vielleicht auch, weil er bei einem Hedge Fonds des ehemaligen
Chefs der US-Technologie-Börse Nasdaq, Bernard Madoff, der wegen
Betrugs in Höhe von 50 Milliarden Dollar zu 150 Jahren Gefängnis
verurteilt wurde, 52 Millionen Franken in den Sand setzte. "Die
Hälfte habe ich meinen Kunden persönlich zurückbezahlt", sagt
Hentsch, "ganz im Sinne meines Konzepts Partnerschaft mit den Kunden."
Trotz alledem meinen die Journalisten, die den Banken selten
wohlgesonnen sind, den Ausdruck Enfant terrible eher als
Kompliment. Da ist einer, der anders als die andern ist. Keine graue
Maus. Eher Paradiesvogel. Einer, der zwar verschwiegen ist, wenn es ums
eigene Geschäft geht, wie es sich als seriöser Bankier ja auch
gehört, aber ansonsten die Öffentlichkeit nicht scheut. Hentsch
hat bei der Gründung von Le Temps, der heute wichtigsten Zeitung
der französischen Schweiz, kräftig mitgewirkt. Er war Mitglied der
Kommission, die die neue Verfassung des Kantons Genf ausarbeitete, die
am 1. Juni in Kraft getreten ist. Und mehrmals ist er im Himalaya auf
Berge gestiegen, ein Mal als 49-Jähriger sogar bis auf 7500 Meter Höhe,
ohne Sauerstoffgerät.
Ein Leben zwischen Grounding und
den höchsten Gipfeln der Welt. Vor allem aber sind da die Niederungen
des beruflichen Alltags, des Jobs, die Vermögen der Vermögenden günstig
anzulegen. Eine Aufgabe, die schwieriger geworden ist. Die
Warntafeln sind aufgestellt. Nachdem die USA mit der Drohung von
Strafverfahren das Bankgeheimnis durchlöchert haben, ermittelt nun die
Pariser Staatsanwaltschaft gegen die Credit Suisse, zweitgrößte
Bank der Eidgenossenschaft, wegen eines verschwundenen Koffers
mit Goldbarren im Wert von vermutlich fünf Millionen Euro. Der
Finanzplatz Schweiz kämpft um seinen Ruf. Das Bemühen um Diskretion
stößt auf die Forderung nach Transparenz.
Torwart und Bankier
Im
Bankgeschäft wird es bald neue Regeln geben. Doch Hentsch blickt
recht gelassen in die Zukunft. Vielleicht weil er nicht nur
Vermögensverwalter ist. Etwa gleich viel Zeit wie die Führung der Bank
kostet ihn der Parc Gustave et Léonard Hentsch, so benannt zu Ehren
seines Großvaters und seines Vaters. Es ist eines der größten
Bauprojekte in Genf, und durch die Fensterfassade seines Büros kann
der Bankier den Fortschritt der Arbeiten täglich verfolgen.
Gustave Hentsch, der die Bank durch die Fährnisse der
Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg steuern musste, war nicht
nur an Geld interessiert, sondern auch am Fußball. Er war Torwart und
Kapitän des FC Servette. Der Genfer Fußballclub war in den letzten
115 Jahren 17 Mal Schweizer Meister, mehr Titel haben nur die Zürcher
Grasshoppers eingefahren.
1920 kaufte Gustave Hentsch in einem
Außenviertel von Genf fünf Hektar Land, auf dem er für den FC Servette
das Charmilles-Stadion bauen ließ, das 1930 eröffnet wurde und
30000 Zuschauern Platz bot. Als vor zehn Jahren in einem Vorort ein
neues Stadion eingeweiht wurde, war das alte, immer noch im Besitz der
Familie Hentsch, überflüssig. Der Bankier kaufte sich das benachbarte
Gelände einer Firma, die pleitegegangen war, hinzu. Und auf dem
riesigen Areal entsteht nun ein grüner Park mit Kongresszentrum und
250 Appartements, darunter die Hälfte Sozialwohnungen. Und hier hat
auch die Banque Bénédict Hentsch ihren Sitz - nicht im noblen
Bankenviertel im Stadtzentrum, da wo die Rhone den Genfersee
verlässt, sondern in einem ehemaligen Industrie- und Arbeiterviertel.
In diesem Jahr wird Hentsch das Rentenalter erreichen. Doch ein so
umtriebiger Mann wie er hört nicht einfach auf. Und trotzdem wird er
sich fragen, was aus seiner Bank wird. Hentsch hat zwei Töchter und
einen Sohn. Alle drei leben in London. Die eine Tochter führt ein
Geschäft für Herrenmode, die andere ist Lehrerin einer
Montessori-Schule. Der Sohn arbeitet bei JP Morgan. Wird auch er seinen
Job bei der größten US-Bank aufgeben und nach Genf zurückkehren, um
in die Fußstapfen des Vaters zu treten, und die achte Generation
Hentsch in Genf begründen? "Es ist zurzeit schwierig abzusehen,
wie sich das Geschäft entwickelt", sagt der Bankier etwas
nachdenklich. Der Bankenplatz Schweiz befindet sich in einem
gigantischen Umbruch. Bénédict Hentsch ist sich nicht sicher, ob
sieben Generationen Tradition und Erfahrung in Vermögensverwaltung
genügen, um die Zukunft zu meistern.
© Berliner Zeitung
Diese Fassung weicht geringfügig von der publizierten Fassung ab. In dieser lautete der letzte Satz sdritten Absatz: "Aber was ist das schon angesichts der 2 700 Milliarden an ausländischen
Vermögen, die Angaben der Schweizer Bankiervereinigung zufolge Ende
2011, Experten zufolge zu 80 Prozent unversteuert, in Schweizer
Tresoren lagerten?" Den Beisatz "Experten zufolge zu 80 Prozent" habe ich nun gestrichen. Ich hatte mich dabei auf den Finanzdienstleister Elvea berufen, der laut "Spiegel" (Nr. 39/2012) schätzt, dass zum genannten Zeitpunkt 80 Prozent unversteuert waren. Auf Anfrage wollte Elvea dazu nicht Stellung nehmen mit der Begründung, dass der Autor der Studie nicht mehr bei Elvea beschäftigt sei. Im übrigen gehen Experten davon aus, dass im Jahr 2012 - aufgrund der von ausländischen Behörden gekauften CDs mit Steuerdaten und aufrund der zunehmenden Infragestellung des Bankgeheimnisses sehr viele Bankkunden ihre Vermögen nachträglich deklariert haben, sodass davon auszugehen ist, dass Mitte 2013 höchstens noch ein Drittel der in der Schweiz liegenden Auslandsvermögen nicht deklariert sind. |