Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.08.2013
Moulay Hicham lebt in den USA, er ist
Wissenschaftler, Unternehmer, Menschenrechtler - und der Cousin des
marokkanischen Königs. Der redet
allerdings nicht mehr mit ihm.
Weil Moulay Hicham nicht aufhört, seinen Traum von einem modernen,
demokratischen Marokko zu verkünden
PARIS. Aufgewachsen ist Moulay Hicham in einer
Diktatur. Da gab es den Herrscher, die Speichellecker und die
Masse, die kuschte. Wer aufmuckte, wurde weggesperrt. Es war eine
Welt, in der Untertanen vor korrupten Amtsträgern buckelten, eine
Welt von Bittstellern und Beamten. Moulay Hicham aber sehnte sich
nach Verhältnissen, in denen sich Menschen erhobenen Hauptes als mündige
Bürger begegnen. So geht ihm das Herz auf, als er nach langer
Abwesenheit nach Marokko, in seine Heimat, zurückkehrt.
Vieles
hat sich verändert. Zwar ist er in einer Maschine der Royal Air Maroc
gelandet und am Flughafen steht noch überall "Königreich Marokko",
aber der König hat seine Allmacht verloren. Über die Höhe seines
Budgets entscheidet nun das Parlament. Einige königliche Paläste sind zu
Museen geworden, andere zu Krankenhäusern und Bildungsanstalten. Der
Handkuss, früher dem König als Zeichen der Unterwerfung dargeboten,
ist eine lächerliche Geste aus vergangenen Zeiten.
Moulay
Hicham hat seine Eindrücke des neuen Marokkos in der französischen
Fachzeitschrift Pouvoirs festgehalten, die sich mit Politik und
Verfassungsfragen befasst. Die Reise findet im Jahr 2018 statt.
Sieben Jahre nach dem arabischen Frühling hat in Rabat, Casablanca,
Marrakesch und überall im Land die Kreuzkümmel-Revolution, benannt nach
dem Gewürz, mit dem die Marokkaner ihre Tajine abschmecken, die
alten Verhältnisse hinweggefegt.
Im realen Marokko des Jahres
2013 wurde die Ausgabe der Zeitschrift mit dem brisanten Essay
nicht ausgeliefert, da herrschen noch die alten Verhältnisse. Aber
der Text wurde zehntausendfach im Internet abgerufen, denn Moulay
Hicham ist nicht irgendwer. Er ist der Cousin des Königs von
Marokko, das schwarze Schaf der königlichen Familie - oder der "rote
Prinz", wie es in der Presse mitunter heißt. "Aber das ist nur ein
stumpfsinniges Klischee denkfauler Journalisten", wehrt der 49-Jährige
ab und ist dabei so höflich, dass sich der Reporter, der vor ihm steht,
gar nicht gekränkt fühlt. Prinz nennt er sich allerdings wirklich,
der Titel steht ihm als Enkel eines Königs nach marokkanischer
Gepflogenheit zu. Und Moulay ist kein Vorname, sondern der
religiöse Titel jener, die - wie die Alawiden, die seit 1664 herrschende
Königsdynastie Marokkos - ihre Abstammung auf Ali und Fatima,
Schwiegersohn und Tochter Mohammeds, zurückführen.
Kindheit im Palast
Zum Treffen hat Moulay Hicham Ben Abdallah El Alaoui, wie er mit
vollem Namen heißt, in die Suite eines Pariser Luxushotels geladen.
Der Prinz, Dritter in der marokkanischen Thronfolge,
kommt in Jeans, Sneakers und offenem Hemd. Seit elf Jahren lebt er in
den USA. Er arbeitet sowohl an der kalifornischen Stanford
University, wo auch die Moulay Hicham Foundation, seine "Stiftung für
sozialwissenschaftliche Forschung über Nordafrika und Nahost",
beheimatet ist, als auch an der Princeton University in New Jersey an
der Ostküste, wo seine Frau und die beiden Töchter leben. Er ist auf
Durchreise, kommt aus Marokko zurück. Dort war er, um seine
Mutter, seine Schwester und seine Neffen zu besuchen, aber auch
in humanitärer Mission. Denn Moulay Hicham ist nicht nur
Wissenschaftler, er ist auch bei der renommierten internationalen
Menschenrechtsvereinigung Human Rights Watch engagiert. Er ist
eines von sechs Mitgliedern ihres Beratungskomitees für die arabische
Welt.
Seinen nur wenige Monate älteren Cousin, König Mohammed
VI., hat der 49-Jährige nicht getroffen. Im Königspalast von
Rabat, in dem sie als Kinder täglich spielten und wo sie in die
hofeigene Schule gingen, war er seit 1999 nicht mehr. In jenem Jahr
starb König Hassan II., Vater des heutigen Monarchen und Onkel von
Moulay Hicham. Er hatte jede Opposition gnadenlos verfolgt. In den
Gefängnissen stand Folter auf der Tagesordnung. Allein im Wüstenlager
Tazmamart starben 35 Personen an Entkräftung. Nach dem Tod Hassans II.
sah Moulay Hicham die große Chance einer politischen Umgestaltung
Marokkos und sprach mit seinem Cousin darüber: "Ich sagte ihm damals
alles, was ich dachte, ich nahm kein Blatt vor den Mund." Doch Mohammed
VI. ließ zwar die politischen Gefangenen frei, feuerte den
Innenminister, löste den Harem seines Vaters auf, in dem neben seiner
Mutter auch noch 20 gealterte Konkubinen seines schon 1961
verblichenen Großvaters lebten. Aber seine Macht wollte er nicht
beschränken. Eine parlamentarische Monarchie, wie sie Moulay Hicham
schon 1995 öffentlich gefordert hatte, lehnte er ab. Auch eine
Beschneidung seiner wirtschaftlichen Macht stand für den neuen König
nicht zur Debatte. "Schon bald schickte er mir Boten", berichtet der
Prinz, "die mir ausrichteten, ich sei fortan im Palast persona non
grata."
Den mächtigen Cousin hat Moulay Hicham noch zwei Mal
getroffen, nach der Geburt seiner Tochter und bei der Hochzeit seines
Bruders. "Wir haben Freundlichkeiten ausgetauscht, mehr nicht", sagt er
trocken, "wir leben längst in verschiedenen Welten. 2002 bin ich in
die USA ausgewandert und ich beglückwünsche mich jeden Tag zu dieser
Entscheidung."
Vor zwei Jahren schrieb Moulay Hicham seiner
Majestät dann doch noch einmal einen Brief. Der Prinz, der auch Besitzer
eines Unternehmens für erneuerbare Energien ist, wollte schon 2007
bei Rabat "die erste ökologische Stadt Afrikas" bauen - mit einer
Universität, benannt nach seinem verstorbenen Vater. Der Makhzen,
wie in Marokko der vom König abhängige staatlich-bürokratische
Machtapparat genannt wird, machte es ihm schwer. Seine Probleme, in
Marokko ein Projekt auf die Beine zu stellen, rührten wohl daher, so
schrieb er an Mohammed VI., dass Bürokraten glaubten, dem König einen
Gefallen zu tun, wenn sie seinem mit ihm angeblich verkrachten
Cousin ständig neue Auflagen machten, Bewilligungen verzögerten oder
überhaupt nichts täten. Er schloss den Brief mit den Worten: "Auch wenn
ich mich im Ausland voll verwirklichen kann, habe ich die
Pflicht, Euch zu dienen, aus Treue zu unserer gemeinsamen Kindheit,
unserer Familie und der Institution, die Ihr verkörpert."
Eine
Antwort erhielt Hicham Moulay nie. Stattdessen pflanzte ein Jahr
später der König höchstpersönlich den ersten Baum einer Grünanlage im
Ort Ben Guerir, der die "erste grüne Stadt Afrikas" werden soll - mit
einer Eliteuniversität, die seinen eigenen Namen trägt.
"Im Übrigen wurden einfach die Pläne verwendet, die ich bei der
Verwaltung eingereicht hatte", sagt der Prinz lakonisch, "nicht gerade
die feine Art."
Mit dem Königshaus hat Moulay Hicham
gebrochen, nicht aber mit der Monarchie. Er ist davon überzeugt, dass
eine parlamentarische Monarchie, die die Gewaltenteilung respektiert,
für Marokko die beste Lösung wäre. Der König soll - ähnlich wie
in Spanien - Staatsoberhaupt sein und die Einheit der Nation
repräsentieren. Davon ist Marokko heute weit entfernt. Mohammed
VI. ist Präsident des Ministerrates, Präsident des Obersten Rats
der Justiz, Präsident des Obersten Sicherheitsrats, Präsident des
Obersten Rats der Religionsgelehrten, Oberbefehlshaber der
Königlichen Streitkräfte und vor allem Emir, also Befehlshaber, aller
Gläubigen.
In Marokko kontrolliert der König alle Gewalten und
über eine Holding auch den Großteil der marokkanischen Wirtschaft - so
wie in Tunesien vor der Revolte Zine el Abidine Ben Ali Exekutive,
Legislative und Judikative beherrschte und sich, zusammen mit dem
Clan seiner Ehefrau, die Filetstücke der Wirtschaft gesichert
hatte. Der jugendliche Massenprotest schickte Ben Ali in die Wüste,
führte zum Sturz des ägyptischen Pharao Husni Mubarak, zu Aufständen in
Libyen und zum Bürgerkrieg in Syrien. Mohammed VI. aber überstand die
Stürme des arabischen Frühlings unbeschadet. Zweifellos, weil er
bei seinem Volk sehr beliebt ist.
Angekratztes Image
Doch wurde das Image des absoluten Herrschers nun zum ersten Mal
deutlich angekratzt. Am vergangenen Dienstag begnadigte Mohammed
VI. 1044 Häftlinge, unter ihnen einen Spanier, der in Marokko elf
Kinder im Alter zwischen vier und fünfzehn Jahren sexuell
missbraucht hatte und zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. In
zahlreichen Städten demonstrierten danach Zehntausende. Am
Sonntag widerrief der Monarch seine Entscheidung. Das Königshaus sei
schlecht informiert worden. Aufsehen erregte weniger die
Begründung als der Umstand, dass der König überhaupt etwas
begründete.
Es war nicht das erste Mal, dass Mohammed VI. auf den
Druck der Straße reagiert. Nach dem Sturz der Potentaten in Tunis und
Kairo gingen am 20. Februar 2011 auch in Marokko Zehntausende
Jugendliche auf die Straße. Der Protest richtete sich nicht gegen die
Monarchie oder gar gegen den Monarchen, die Demonstranten forderten
bloß mehr Demokratie und weniger Korruption. In einer seiner
seltenen Fernsehansprachen kündigte Mohammed VI. schon zwei Wochen
nach den ersten Massenkundgebungen eine Verfassungsreform an. Weniger als vier Monate später wurde das Volk zu den Urnen gerufen. 98
Prozent stimmten der neuen Verfassung zu - bei einer Wahlbeteiligung
von 73 Prozent. "Nicht sonderlich glaubwürdige Resultate", findet
der Prinz. Aber dass die Mehrheit der Marokkaner hinter dem Monarchen
steht, bestreitet auch er nicht. Mit der Volksabstimmung ist es
dem König gelungen, der "Bewegung des 20. Februar" Wind aus den Segeln
zu nehmen und gleichzeitig sich selbst plebiszitär zu bestätigen.
Doch die Verfassungsreform ist Blendwerk. Seine eigene Macht hat sich
Mohammed VI. kaum beschneiden lassen. Immerhin muss der König künftig
den Ministerpräsidenten aus den Reihen der stärksten Parlamentsfraktion
auswählen. Seit November 2011 hat Marokko deshalb einen
islamistischen Ministerpräsidenten: Abdelilah Benkirane,
dessen PJD die Wahlen damals klar gewonnen hat. Ihr Chef steht
loyal zum König. "Er will den Palast nicht erzürnen" sagt
Moulay Hicham abschätzig, "den Konflikt nicht riskieren."
Der
Monarch aber hat trotzdem ein Interesse daran zu verhindern, dass die
Islamisten Erfolg haben. Er will keine starke politische Partei. Er
will keinen starken Regierungschef, weil er selbst regieren will. Vor
drei Wochen hat der kleine Koalitionspartner seine sechs Minister aus
der Regierung abgezogen. Auf Druck des Königs, behaupten böse Zungen.
Jedenfalls hat Benkirane im Parlament seine Mehrheit verloren und
muss nun bei jenen Parteien Unterstützung betteln, deren Chefs er
stets verhöhnt hat. "Er wird den Kelch der Demütigung noch bis zur
Neige trinken", prophezeit der Prinz.
Seine Sympathie für die
"Bewegung des 20. Februar" hat Moulay Hicham nie verhehlt. Er wurde
dafür in marokkanischen Medien als Landesverräter
beschimpft, es hieß auch, er wolle Mohammed VI. entmachten und sich
selbst auf den Thron setzen. "Das alles kratzt mich nicht", sagt der
Prinz mit einer Handbewegung, als ob er eine Fliege verscheuchen
wolle. Bei seinen regelmäßigen Aufenthalten in Marokko wird er
überwacht, sein Telefon abgehört. Vielleicht weil sein Cousin es
anordnet, vielleicht, weil Hofschranzen in vorauseilendem Gehorsam
dafür sorgen. "Ich habe mich daran gewöhnt", sagt Moulay Hicham, "ich
lasse mich nicht einschüchtern." Von der "Bewegung des 20.
Februar" ist der Prinz enttäuscht, "Sie hat es nicht verstanden, sich
Strukturen zu geben, Führungsfiguren hervorzubringen und klare Ziele zu
formulieren", sagt er. Der Protest hat sich erschöpft, der
islamistische Regierungschef hat im Parlament keine Mehrheit mehr. Und
der König scheint fester im Sattel zu sitzen denn je. Von einer
Kreuzkümmel-Revolution keine Spur. Aber es sind noch fünf Jahre hin
bis 2018. Und wer hätte 2010 gedacht, dass ein Jahr später Ben
Ali und Mubarak entmachtet sein würden?
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