Tanz als simulierte Paarung |
Ein Plattenbauviertel in Havanna ist Wiege der kubanischen Reguetón-Musik.
Die hat eindeutige Texte und Bewegungen Thomas
Schmid, Berliner Zeitung, 14.11.2009 ALAMAR.
Plattenbauten, so weit das Auge reicht. Alamar, ein Vorort Havannas, wurde in
den 70er-Jahren im Osten der kubanischen Hauptstadt aus dem Boden gestampft.
Die neue Stadt wurde dem Neuen Menschen gewidmet. Dem Neuen Menschen, wie ihn
Che Guevara so eindringlich beschworen hatte: selbstlos, nur dem Gemeinwohl
verpflichtet, "in seine Fabrik verliebt" und notfalls eine
"eiskalte Killermaschine". Antonio José Ponte, der sich nach seinem
Ausschluss aus dem kubanischen Schriftstellerverband 2007 ins Exil absetzte,
beschrieb Alamar so: "Der einzige Schmuck dort war der rechte Winkel. Für
Gärten und Parks war später Zeit. Es war besser, wenn sich erst mal kein Baum
zwischen den Gebäuden erhob, zwischen den Genossen sollte Offenheit
herrschen." Heute ist
Alamar eine typische Schlafstadt und hat 150 000 Einwohner. Es gibt keinen
Friedhof, keine Kirche, keine Industrie, nur ein Kino, das seit einem Jahr
geschlossen ist, weil das Dach einzustürzen droht. Die Leute hier sind
vorwiegend schwarzer Hautfarbe, viele sind aus dem Oriente, dem Osten des
Landes, zugewandert. Man nennt sie "Palästinenser". Oft leben sie
illegal in Alamar, weil es in Kuba keine Niederlassungsfreiheit gibt. Die
Binnenwanderung ist gesetzlichen Restriktionen unterworfen. Sonst würde
Havanna, wo die Versorgung besser ist als in der Provinz, das Überleben
leichter, das Klima offener und das kulturelle Angebot größer, wohl längst aus
allen Nähten platzen. Gegen das Tabu
des Rassismus Alamar, wo vor
30 Jahren auch zahlreiche politische Flüchtlinge aus südamerikanischen
Diktaturen Zuflucht fanden, hat keine Neuen Menschen hervorgebracht. Aber die
Betonwüste, in der einige Oasen von Kiefern für farbliche Abwechslung sorgen,
hat doch Früchte getragen. Sie wurde zur Wiege der kubanischen Rap-Kultur. Hier
tauchten die ersten kubanischen Rapper auf, die Raperos. Schwarze Jugendliche
hatten eine künstlerische Form und ein Milieu gefunden, in dem sie ihrem Unmut
Luft machten. Es war zu Beginn der 90er-Jahre. "Die Raperos waren die
ersten, die das Tabu des Rassismus brachen", sagt Balesy Rivero, der
selber der Band Grupouno angehörte und 1995 das erste Rap-Festival von Alamar
organisierte. "Warum hältst du mich an, Polizist? Ist es, weil ich schwarz
bin?", heißt es in einem berühmten Song. Es gibt auch im
revolutionären Kuba tradierte Vorurteile gegenüber den Schwarzen, die in der
Regel den unteren Gesellschaftsschichten angehören, während andererseits in
Politbüro und ZK, in Staatsrat und Ministerrat die helle Hautfarbe eindeutig
dominiert. Balesy Rivero
hat sich inzwischen vom Rappen aufs Dichten verlegt. Er gehört dem
Künstlerkollektiv Omni Zona Franca an, in dem sich in Alamar eine Gruppe von
Malern, Musikern, Dichtern und Performern zusammengeschlossen hat. Das
Kollektiv trifft sich regelmäßig im Kulturzentrum der Stadt, wo ihr ein Atelier
und ein Versammlungsraum überlassen wurden. "Wir arbeiten unabhängig vom
offiziellen Kulturbetrieb", beteuert Amaury Pacheco, ein Konzeptkünstler
mit Dreadlocks, lila Stofffetzen über dem nackten Oberkörper und einem
olivfarbenen Rock, der bis zu den Knöcheln reicht. Pacheco zeigt auf dem Laptop
Videoclips über seine Straßenaktionen und Performances. Eine trägt den Titel
"Drei Stunden Rede" - eine Anspielung auf den Dauerredner Fidel
Castro. Die Polizei setzte dem Spektakel ein Ende. Reynor ist zu Besuch ins Kulturzentrum gekommen, ein 1,90 Meter großes Energiebündel mit scheppernder Stimme, wahrscheinlich eine Spätfolge jahrelanger Überbeanspruchung seiner Stimmbänder. In Alamar kennen sie ihn alle. Reynor war Leader der Rap-Band Explosión Suprema, die hier Geschichte geschrieben hat. Heute lebt er mehr in Spanien - er ist mit der andalusischen Hip-Hop-Sängerin La Mala Rodríguez verheiratet - als in Alamar, wo seine Mutter noch immer in einem Plattenbau wohnt. "Wir
sangen von den wirklichen Problemen, von den engen Wohnungen, von Hunger, von
sexuellen Nöten und Prostitution, von Gewalt und der Angst der Schmuggler vor
der Polizei", erinnert sich Reynor, "und all das in einer derben
Gossensprache. Man nannte uns Motherfucker, weil wir das Wort so oft
benutzten." Doch diese
Zeiten sind vorbei. Um die Raperos ist es etwas einsam geworden. Ihr hämmernder
Sprechgesang wurde längst vom Reguetón verdrängt, wie die kubanische Variante
des Reggaeton heißt. Es ist eine Musikrichtung, die auf Reggae aufbaut, in
Panama entstand, über Puerto Rico nach Kuba gelangte und sich hier mit Salsa
und Timba vermischte. Salsa und Son hören allenfalls noch die Alten und
Touristen. Der Rap hat sich in eine Nische zurückgezogen. Längst hat der
Reguetón (oder Cubatón) den öffentlichen Raum erobert. Seine Ohrwürmer,
entstanden in Alamar, hört man heute auch in den feineren Vierteln Havannas.
"Der Reguetón", sagt Reynor etwas abschätzig, "ist Kommerz, in
gewisser Weise zwar provokativer als Rap. Aber ich bleibe beim Rap. Ich werde
den Rap nie verraten." Die meisten Reguetoneros waren früher Raperos.
Viele Raperos witterten im Reguetón eine Zukunft, Musik, die sich versilbern
lässt. Allein in
Alamar, von wo aus der Reguetón die Insel erobert hat, gibt es heute etwa 70
Reguetón-Bands. Los Alcaldes (Die Bürgermeister) ist eine von ihnen. Ihr Studio
haben die vier jungen Männer, die alle ein blaues T-Shirts mit
Che-Guevara-Porträt tragen, im vierten Stock eines Plattenbaus. Der
Aufnahmeraum, eine Kabine, ist mit Eierschachteln gegen Lärm abgeschirmt. In
einem zweiten Raum stehen ein Desktop, ein Laptop und ein Mischpult. Das ganze
Studio ist auf zehn Quadratmetern untergebracht. Schon an die 50 Auftritte
hatten die Alcaldes, die sich erst vor anderthalb Jahren zusammengefunden
haben, in Alamar. Doch Gagen gibt es keine. Eintritt wird nicht bezahlt. Mal
spielt man in einer Turnhalle, mal in einem Versammlungsraum, mal auf dem Dach
einer Zisterne. Immer mit staatlicher Genehmigung. Den Erfolg des
Reguetón erklärt Bandleader Rodanse so: "Rap regt zum Denken an, Reguetón
zum Tanzen. Rap ist underground, Reguetón ein Fest." Der Rap war politisch
anstößiger. "Doch in gewisser Hinsicht ist Reguetón eben
provokativer", meint wie Reynol auch Yosbel, der Sänger der Band. "In
welcher Hinsicht?" - "Sinnlicher." Knapp verhüllte
Pobacken Dann legt er
eine DVD mit der Aufnahme eines Konzerts ein. Was Yosbel als
"sinnlich", bezeichnet, könnte man auch mit "obszön"
übersetzen. Nur knapp verhüllte weibliche Pobacken, die sich zuckenden
männlichen Hüften entgegenrecken. Simulierte Paarung. Die Texte sind nicht
weniger deutlich. "Das ist es, was die Leute eben sehen wollen", sagt
der 20-jährige Rodanse achselzuckend, als ob er eigentlich lieber Opern
komponieren und Arien singen würde. Spätestens
nächstes Jahr wollen die Alcaldes den Sprung von Alamar ins 15 Kilometer
entfernte Havanna schaffen. "Und übernächstes Jahr spielen wir in
Miami", frotzelt Yosbel und glaubt wohl selbst nicht daran. Immerhin,
schon zwei CDs hat die Band produziert, jeweils in einer Auflage von hundert
Stück. Die Musiker verkaufen oder verschenken sie an Freunde, die sie wiederum
kopieren und weiterverkaufen. Zehntausende, vielleicht hunderttausende CDs mit
Reguetón zirkulieren in Kuba. In den Musikgeschäften findet man sie kaum. Nur wenige
Gruppen wie Gente de Zona (Leute aus dem Kiez), Eddy K oder Maxima Alerta
(Höchste Alarmstufe) haben den Durchbruch geschafft. "All die Jungen hier,
die auf Reguetón machen, viele von ihnen noch Kinder", hatte Reynor
gesagt, "träumen von einer Karriere wie jener Alexanders." Alexander
ist Komponist und Sänger von Gente de Zona. Für ein Konzert der Band, die auch
schon auf Europa-Tournee war, zahlt man heute in Kuba in der Regel mehr als den
durchschnittlichen Monatslohn von umgerechnet zwölf Euro. © Berliner Zeitung |