Die Möglichkeiten einer Insel |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 19.09.2015 Kuba wird sich verändern. So viel ist sicher,
mehr aber auch nicht. In Havanna sind die ersten Vorboten des Wandels bereits
zu erleben Der Alte lässt sich gern fotografieren, verlangt kein Geld dafür, erwartet
aber, dass man ihm eine Zeitung abkauft. Es ist die Granma, offizielles Organ
des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas. Der erste Satz im ersten
Artikel auf der ersten Seite dieser Ausgabe beginnt mit den Worten: "Der
Genosse Kim Jong Un, Erster Sekretär der Partei der Arbeit Koreas, Erster
Präsident des Nationalen Verteidigungskomitees der Demokratischen Volksrepublik
Korea und Oberster Kommandant der Volksarmee von Korea, hat den Genossen Miguel
Díaz-Canel Bermúdez, Erster Vizepräsident des Staats- und des Ministerrats,
empfangen ..." Manchmal verkauft der Alte auch die Juventud Rebelde -
Rebellische Jugend -, das offizielle Organ des Jugendverbandes der allmächtigen
Partei. In der Millionenstadt Havanna, in ganz Kuba gibt es keinen Zeitungskiosk.
Das tut auch nicht not. Es gibt ohnehin nur vier Zeitungen, und die wenigen
Magazine findet man gelegentlich in einer Buchhandlung. Und so bessern eben
einige Alte ihre kärgliche Rente auf. Sie stehen morgens früh um sechs Uhr bei
den Zeitungsverteilstellen Schlange und kaufen die Granma für 20 kubanische
Centavos, was etwas weniger als einem Euro-Cent entspricht und verkaufen sie an
Kubaner zum fünffachen Preis, an die Touristen in der Regel für einen CUC,
einen konvertiblen Peso, etwa einem Euro, also zum hundertfachen Preis. Reich
werden sie dabei nicht. Auf dem Parque Central, dem großen Platz unweit des Hotels Inglaterra ,
sind ein Dutzend blank geputzter amerikanischer Oldtimer geparkt, Limousinen,
die die Eigentümer bei ihrer Flucht vor der Revolution 1959 nicht nach Miami
mitnehmen konnten. Eine einstündige Fahrt im pinkfarbenen Fairlane, Jahrgang
1957, mit offenem Verdeck kostet 30 Euro - ein Selfie, auf der Kühlerhaube
sitzend, inbegriffen. "Du kannst den Schlitten auch kaufen", sagt
Miguel, der Besitzer, ein smarter Mittdreißiger mit viel Gel im Haar, 55 000
Euro, no negiociable, nicht verhandelbar. Miguel hat die Limousine, die sein
Großvater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, erworben hat, von seinem jüngst
verstorbenen Vater geerbt. Der Zeitungsverkäufer und der Oldtimer stehen für das alte Havanna, das
jetzt viele Touristen sehen wollen, so lange es noch steht. Sie fürchten, dass
nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den ehemaligen Todfeinden
USA und Kuba der Dollar rollt, dass das Kaputte kaputtsaniert wird und dass so
das eigentümliche Flair der Altstadt von Havanna unwiederbringlich verloren
geht. Über zwei Millionen Ausländer sind im ersten Halbjahr 2015 auf die Insel
geflogen, 17 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Das alte Havanna mag verschwinden, das neue aber ist längst da. Zum
Beispiel in Vedado, dem modernen Geschäftsviertel, vor dem Hotel Habana Libre
(Freies Havanna), das zehn Monate vor der Revolution als Hotel Hilton eröffnet
wurde, es war das größte ganz Kubas. Nach seinem Sieg gegen die Diktatur von
Fulgencio Batista richtete Fidel Castro hier sein Hauptquartier ein. Daran erinnern
die Fotos im Foyer: Bärtige Revoluzzer mit Gewehr fläzen sich in noble
Polstersessel. Heute sitzen auf den Mäuerchen und dem Bürgersteig vor dem Hotel
an die hundert Jugendliche - mit Smartphones, Tablets und Laptops. Hier ist
einer von etwa einem Dutzend öffentlicher Hotspots, die die Regierung im Juli
in Havanna eingerichtet hat, in ganz Kuba sind es 35. Auf dem Bürgersteig, auf der Parkbank, in Kneipen, im Lift, in den
öffentlichen Verkehrsmitteln, im Taxi, im Supermarkt - überall fingern
Jugendliche an ihren Handys herum, tippen Nachrichten, spielen irgendwelche
Computerspiele, zeigen sich kichernd Fotos. Seit 2008 dürfen die Kubaner Handys
kaufen. Ein privater Internet-Anschluss aber ist auf der Insel bis heute
verboten - nur eine sehr kleine Elite von Funktionären, Wissenschaftlern und
Geschäftsleuten hat zu Hause Zugang zum Netz. Doch dürfen Kubaner immerhin seit
sieben Jahren die Internet-Stationen internationaler Hotels benutzen. Dort aber
kostet die Stunde zehn Euro, hier am Hotspot auf der Straße hingegen bloß zwei. Auch dies ist viel bei einem monatlichen Durchschnittsverdienst von 20
Euro. "Es ist eine ständige Hetzerei", klagt Ramón und schüttelt
seine Dreadlocks. Seine Stunde ist gerade abgelaufen, eine neue Pin will er
erst nächste Woche kaufen. Die Uhr, die im Display erscheint, kennt kein
Erbarmen. Der Countdown läuft - Sekunde für Sekunde. Ramón benutzt das Internet
vor allem, um über Facebook mit Freunden in Kuba und über IMO, einem
Videotelefondienst wie Skype, mit seinen Verwandten in Miami zu kommunizieren.
Eine Stunde Internet pro Woche. "Mehr ist nicht drin", sagt er,
"acht Euro im Monat." Das Geld verdient der 20-jährige Ramón als
Paquetero, als Paketbote Mit der Post hat dies allerdings nichts zu tun. Unter Paket versteht die kubanische
Internet-Community ein digitales Paket von 500 Gigabytes bis zu einem Terabyte,
das auf CD gebrannt oder auf einem USB-Stick gespeichert ist. Dieses Paket wird
wöchentlich irgendwo zusammengestellt. Es enthält vor allem amerikanische
Serien, die aus ausländischen Fernsehsendungen heruntergeladen werden, aber
auch Dokumentarfilmmaterial und Werbung kubanischer Dienstleistungsanbieter.
Auslandssender können in Kuba nur über Satellit empfangen werden. Der Besitz
von Satellitenschüsseln aber ist verboten und wird streng geahndet. Es gibt sie
trotzdem, getarnt im Blätter- und Mauerwerk. Das Wochenpaket kostet zwischen
einem und zwei Euro. Es ist teurer, wenn es gerade frisch auf dem Markt ist,
und billiger, kurz bevor das nächste angeboten wird. Das Paquete hat, über die
ganze Insel verstreut, Tausende, wahrscheinlich Zehntausende Kunden. Beliebt bei den fast durchweg jugendlichen Internet-Surfern vor dem Hotel
Habana Libre ist auch die Website www.planeta.com/amistad.html. Dort preisen
sich einsame Herzen auf der Suche nach Abenteuer oder Partnerschaft an. Über
www.cubisima.com kann man alles kaufen, was auf dem kubanischen Markt zu haben
ist: Kosmetikartikel, Laptops, Bücher, Fahrräder, Autos, Wohnungen, Häuser und
Tiere, zwei Affenbabys für 3 000 Dollar. Der seit Juli verbilligte Zugang zum
Internet belebt Geschäfte jeder Art. Hier vor dem Hotel Habana Libre hat man
den Eindruck, Kuba schalte in den nächsten Gang und trete auf das Gaspedal. "Jetzt gibt es kein Zurück mehr, und das Land wird sich weiter öffnen", sagt Dimas Castellanos, "zwar mosert und stänkert Fidel Castro in seiner Kolumne in Granma, aber die Macht liegt nun bei seinem Bruder Raúl. Er ist Staats-, Regierungs- und Parteichef. Er kontrolliert die Armee und das Innenministerium, also auch die bewaffneten Kräfte und die Staatssicherheit." Der heute 72-jährige Castellanos ist diplomierter Politologe und Theologe und dozierte an der Universität von Havanna einst marxistische Philosophie. Lange Zeit hat er beim Aufbau eines neuen Kuba mitgeholfen. Doch wurden Überzeugungen nach und nach von Zweifeln verdrängt, bis er - wie so viele Intellektuelle und Schriftsteller - mit dem Regime brach "Castros Projekt ist komplett gescheitert", urteilt Castellanos
heute, "und zwar auf der ganzen Linie, auch im Bildungs- und
Gesundheitswesen, wo die Revolution einst die größten Erfolge vorweisen
konnte." Überall fehlen an den Schulen die Lehrkräfte, weil man eben von
20 Euro im Monat nicht leben kann. "Viele Lehrer, die geblieben sind,
verdienen mehr mit dem privaten Nachhilfeunterricht, den sie ihren eigenen
Schülern geben, als über die reguläre, vom Staat bezahlte Lehrtätigkeit, und
oft müssen die Examina wiederholt werden, weil die Lehrer die Lösungen der
Aufgaben vorab verkaufen." Noch
katastrophaler sieht es im Gesundheitswesen aus. "Wer ins
Krankenhaus kommt, muss die Bettlaken und oft auch noch die Medikamente selber
mitbringen", sagt Castellanos, "und ohne Bakschisch kannst du lange
auf eine Operation warten." Auch im Gesundheitswesen fehlt das Personal.
Etwa 50 000 kubanische Ärzte arbeiten in den sogenannten Missionen im Ausland -
vor allem in den Slums von Venezuela, aber auch in Bolivien, Brasilien, Angola,
Haiti und vielen anderen Staaten. Die Verschickung von Ärzten gilt offiziell
als Ausdruck internationaler Solidarität, und manch armer Haitianer oder
Venezolaner wird froh sein, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Zugang zu
einem Mediziner hat. Die allermeisten Ärzte aber gehen nicht aus Solidarität in
die Missionen, sondern weil sie im Ausland oft mehr als doppelt so viel
verdienen oder hoffen, sich vom Gastland aus in die USA durchschlagen zu
können.
Noch gibt es Schranken im Immobilienhandel. Aber der Wandel ist zumindest
in Havanna unübersehbar, quasi mit den Händen zu greifen. Am Malecón, der
Uferpromenade, über die bei stürmischem Wetter die Brandung hereinbricht und
die jahrzehntelang vernachlässigt wurde, werden die alten, vom Meersalz
zerfressenen Fassaden restauriert. Koloniale Prachtbauten in Pastellfarben vor
dem azurblauen Ozean erinnern an die Zeiten, als Kuba die Perle der Karibik
genannt wurde. Ein erstes Balkon-Restaurant mit Meeresblick hat dort schon
eröffnet. Auch in der Altstadt, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt
wurde, wird kräftig restauriert - vor allem die Paläste, in denen einst
spanische Adlige residierten, werden herausgeputzt. Die Kathedrale ist wegen
Renovierung geschlossen. Während an malerischen Plätzchen alte Herrschaftshäuser in neuer Pracht erblühen,
geht in den Nebengassen der Altstadt der Verfall unentwegt weiter. Zahlreiche
Häuser werden mit dickem Balken vor einem Einsturz gesichert. Nur 50 Meter von
der Flaniermeile Obispo entfernt, ist im Juli ein mehrstöckiges Haus
zusammengekracht - just an dem Tag, an dem Marino Murillo, Mitglied des
Politbüros der KP und Minister für Wirtschaft und Planung, den Bau von 30 000
neuen Wohnungen in diesem Jahr versprach. Es kam einem Wunder gleich, dass nur
vier Menschen starben. Noch immer wird der Schutt weggetragen. Es ist nicht
entschieden, ob hier in der Altstadt die Kräfte des Wiederaufbaus oder jene des
Verfalls obsiegen. Aber auch in der Altstadt ist der Wandel unübersehbar. In den engen Straßen
haben überall Propiocuentistas - Leute, die auf eigene Rechnung arbeiten - ihre
Läden und Ateliers eröffnet: Uhrmacher, Friseure, Brillenreparateure, Schuster,
Wurstfabrikanten. Ein Mann repariert Handys und bietet 15 Tage Garantie,
"aber nicht bei chinesischen Kopien". Yolanda offeriert Massagen, und
Ada, ausgebildete Tänzerin mit 17 Jahren Berufserfahrung, hat eine Tanzschule
eröffnet, in der zehn Lehrer Salsa, Rumba, Yambu, Guaguanco, Makuta, Palo und
weitere lokale Tänze lehren - 15 Euro pro Stunde im individuellen Unterricht,
zwölf Euro in Gruppe. Das Angebot richtet sich offensichtlich an Touristen.
1999 wurde Valdés von Papst Johannes Paul II. zum Mitglied des Päpstlichen
Rats für Gerechtigkeit und Frieden ernannt, der Teil der Kurie ist. "Ich
bin der erste Yagüero", witzelt der ehemalige Königspalmblättereinsammler,
"der Teil der Regierung des Vatikans war." Valdés pendelte acht Jahre
zwischen Pinar del Río und Rom. Vier Gespräche hat er mit dem Papst geführt.
Und was erwartet er vom Besuch von Papst Franziskus auf Kuba? "Die Kubaner
sehnen sich nach einem Messias", antwortet Valdés, "sie erwarten das
Heil von außen. Von Obama, der die diplomatischen Beziehungen mit Kuba wieder
aufgenommen hat, oder von Franziskus, der als Argentinier ja ihre Sprache
spricht. Sie erwarten viel vom Papstbesuch. Das macht mir Angst." Und er
zitiert Johannes Paul II., der 1998 als erster Papst Kuba besuchte und auf dem
Platz der Revolution vor Hunderttausenden Kubanern gesagt hat: "Ihr seid
die Protagonisten eurer eigenen und auch der nationalen Geschichte, und ihr
müsst es sein." Auf dem
riesigen Platz der Revolution steht bereits die Bühne für den
dritten Papst, der Kuba besucht. Von der Mauer des Innenministeriums wird ihn
Che Guevara anblicken, der Mann, der die Revolution in die ganze Welt
hinaustragen wollte und von bolivianischen Soldaten erschossen wurde. Von der
gegenüberliegenden Mauer des Informationsministeriums wird ihn Camilo
Cienfuegos grüßen, einer der obersten Kommandanten der Revolution, dessen Tod
bis heute nicht aufgeklärt ist. Er soll mit dem Flugzeug abgestürzt sein.
Allerdings wurden weder ein Wrack noch die Leiche jemals gefunden. Che und Camilo sind die Säulenheiligen des revolutionären Kuba, des alten
Kuba. Das neue Kuba bricht sich nur mühsam Bahn. Fidel Castro ist 89 Jahre alt,
sein regierender Bruder Raúl auch schon 84. Was wird passieren, wenn der letzte
der beiden stirbt? "Nichts", sagt Dagobert Valdés, "nichts
Besonderes. Jedenfalls nicht, so lange sich die Kubaner nicht der Worte von
Papst Johannes Paul II. erinnern, dass sie selbst Protagonisten der eigenen wie
auch der nationalen Geschichte sein müssen." Man solle auf Kuba sein Heil
nicht vom Papst erwarten, nicht von den USA und auch nicht vom Tod zweier alter
Menschen. |