Heimatbilder |
Saftige Wiesen, fette Kühe, sanfte Hügellandschaft. Klischee und Realität stimmen überein. Das Appenzell, im Osten der Schweiz gelegen, in Deutschland vor allem wegen seines Hartkäses bekannt, ist ein Ort der Harmonie. Hier scheinen die Uhren langsamer zu ticken als anderswo, und den Appenzellern eilt der Ruf voraus, etwas langsamer zu begreifen als andere Menschen, hinterwäldlerisch zu sein. Nicht ganz zu unrecht. Immerhin haben sie als letzte Eidgenossen den Frauen das Wahlrecht zugebilligt, im Jahr 1989 war das. Doch dann ereignete
sich ausgerechnet in dieser beschaulichen Gegend, wo Musikkapellen und
Trachtengemeinden zum Alltag gehören, Revolutionäres. Als erster Kanton
der deutschsprachigen Schweiz erlaubte Appenzell 1995 seinen Gemeinden,
ihren ausländischen Einwohnern das aktive und passive Wahlrecht
zuzugestehen. Ein Dorf mit dem schönen Namen Wald, in dem 850 Menschen
leben, war das erste, das von diesem neuen Recht Gebrauch machte.
Als 1999 eine neue Gemeindeordnung mit dem entsprechenden Passus
ausgearbeitet wurde, stimmten ihr 71 Prozent der Dörfler zu. Seither
dürfen in Wald Ausländer, die seit zehn Jahren im Land und seit fünf
Jahren im Kanton leben, wählen und gewählt werden. In der angeblich so
weltoffenen Bankenmetropole Zürich ist solcherlei schlicht
unvorstellbar. Es ist nicht leicht, ein Schweizer zu
werden, war es nie. Die Rechtspopulisten der Schweizerischen
Volkspartei, SVP, tun alles dafür, dass sich daran so bald nichts
ändert. Am Sonntag in einer Woche wird ein neues Parlament gewählt und
die SVP nutzt diese Abstimmung, um auf aggressiven Plakaten vor einer
Ausländerschwemme zu warnen. An den Bahnhöfen aller
größeren Städte hat die Partei Leuchttafeln anbringen lassen: Schwarz
gekleidete Gestalten marschieren heran, die ersten haben schon ihre
Schuhe auf die Schweizer Fahne gesetzt. Dazu der Slogan: „Jetzt ist
genug! Masseneinwanderung stoppen!“ Die Richtung ist klar: „Damit wir
weniger kriminelle und gewalttätige Ausländer in der Schweiz haben!
Damit wir uns nicht fremd im eigenen Land fühlen müssen! Damit Ihre
Kinder nicht die einzigen Schweizer in der Klasse sind! Damit Ihr Lohn
nicht sinkt und Sie Ihre Stelle verlieren!“ Das ist nicht etwa das Motto
einer radikalen Splittergruppe. So spricht die stärkste politische
Kraft der Schweiz, vertreten auch in der Bundesregierung. Im
Appenzell hat man seine eigenen Erfahrungen mit Ausländern gemacht.
Das Gemeindehaus von Wald steht, wie es sich gehört, mitten im Dorf.
Dort hat Jakob Egli, der 64-jährige Gemeindepräsident, mit den buschigen
Augenbrauen, sein Amtszimmer. „Nachdem Max Schindler, ein Holländer, in
den Gemeinderat gewählt worden war, kamen zahlreiche Journalisten
angereist“, erzählt er, „im Dorf aber war er einfach der Max, dessen
Kinder hier zur Schule gehen, der das gleiche Wasser trinkt und sich mit
den gleichen Alltagsproblemen auseinandersetzt wie seine Nachbarn.“ So
einfach kann das Zusammenleben sein. Dass es in Wald so weit kam, ist
weder den Sozialdemokraten noch den Grünen zu verdanken. Auch nicht den
Liberalen oder den Christdemokraten, von den Rechtspopulisten ganz zu
schweigen. In Wald gibt es überhaupt keine Parteien. Die sieben
Mitglieder des Gemeinderats, vier von ihnen Frauen, sind allesamt
parteilos. „Wir beschließen über Straßenbau, Wasserzufuhr und
Steuersatz“, sagt Egli, der „Hoptme“, Hauptmann, wie ihn die Leute
mitunter anreden. Seit zehn Jahren leitet er die Gemeinde. Ehrenamtlich.
Im Hauptberuf arbeitet er als Geschäftsführer eines Vereins, der sich
um die Integration psychisch und geistig behinderter Menschen kümmert. Um
Integration geht es ihm auch in der Politik. Um die Integration von
Ausländern. „Man integriert sich nicht in die Schweiz, nicht in den
Kanton Appenzell“, sagt Egli, „sondern in die Gemeinde, ins soziale
Umfeld, in die Nachbarschaft, und deshalb sind die Vereine so ungemein
wichtig.“ 15 Vereine gibt es in dem kleinen Dorf – und sechs
Wirtschaften, Kneipen, in denen man sich nach den Vereinsanlässen
trifft. Besonders stolz ist Egli auf den Gemischten Chor. Dort werden
neben „Zäuerli“, dem traditionellen Appenzeller Jodler, auch kroatische
Volkslieder geübt. Zudem hat der Chorleiter serbische Literatur vertont.
So läuft Integration hier ab. „Das mag in einer Stadt schwieriger
sein“, räumt der Gemeindepräsident ein. Wald hat nur neun Prozent
Ausländer, für Schweizer Verhältnisse relativ wenig. Es sind deshalb so
wenige, weil in Wald viele zu Schweizern gemacht wurden. In
der Schweiz bürgert die Gemeinde ein. Nur wer von einer Gemeinde
aufgenommen wird, kann den Schweizer Pass erhalten. Wald hat jüngst zwei
Mädchen aus dem Kosovo eingebürgert und damit wohl auch die Abschiebung
ihrer Familie verhindert. Drei Flüchtlingen aus Somalia bezahlt die
Gemeinde zurzeit Deutschstunden, „damit sie nicht zu Sozialfällen
werden“, wie Jakob Egli sagt. Ende September wurde das kleine Wald zur
ausländerfreundlichsten Gemeinde der Schweiz erklärt – vor Zürich, das
eine fortschrittliche Integrationspolitik betreibt und auf den zweiten
Platz kam. Den Wettbewerb hatte eine Organisation von
Einwanderern der zweiten Generation ausgeschrieben, die sich in der
Schweiz Secondos oder – weiblich – Secondas nennen. Anhand eines
Katalogs, der zehn Kriterien umfasste, habe man fünfzig Gemeinden auf
Partizipationsangebote, Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund,
Einbürgerungsbedingungen und Willkommenskultur geprüft, sagt Ylfete
Fanaj, Präsidentin der Organisation Second@s Plus. Die 29-jährige
Kosovo-Albanerin, ist als Neunjährige ins Land gekommen. Sie hat einen
Hochschulabschluss in Sozialkunde, arbeitet als Jugend- und
Integrationsbeauftragte und studiert nebenbei noch Jura. Zudem ist sie
Mitglied des Parlaments des Kantons Luzern. Nun kandidiert sie auf der
Liste der Sozialdemokraten für den Nationalrat, das Schweizer
Bundesparlament. Ylfete Fanaj sieht nicht aus, wie der
Schweizer Bünzli, der Spießer, sich eine Muslima vorstellt. Ihr langes
Haar trägt sie offen, den örtlichen Dialekt spricht sie ohne jeden
Akzent. „Aber wenn ich meinen Namen nenne“, sagt sie, „gelte ich sofort
als Ausländerin, obwohl ich ja Schweizerin bin, na klar, mit
ausländischen Wurzeln. Man erwartet von uns, dass wir die Schweiz nicht
kritisieren, ihr ewig dankbar sind.“ Gegen Kosovaren,
sagt Ylfete Fanaj, bestehe im Land inzwischen ein Generalverdacht. Da
nützt es wenig, dass der Kosovare Xherdan Shaqiri mit seinen drei Toren
im Spiel gegen Bulgarien die Schweizer Nationalmannschaft praktisch im
Alleingang für die Fußball-EM im nächsten Jahr qualifizierte. Diesen
Generalverdacht gegen die Kosovaren nährt die rechtspopulistische SVP
im Wahlkampf nach Kräften. Im August verletzte ein Kosovare einen
Schwinger – eine helvetische Version des Ringers – mit einem Messerstich
am Hals. Der angegriffene Sportler überlebte. „Kosovare schlitzt
Schwinger Kehle auf“, titelte die Boulevard-Zeitung Blick. Die SVP ließ
sich von der Schlagzeile inspirieren und schaltete in allen großen
Blättern Inserate unter dem Titel: „Kosovaren schlitzen Schweizer auf!“
Daneben kleiner: „Wer das nicht will, unterschreibt jetzt die
Volksinitiative ,Masseneinwanderung stoppen!’“ Nach der
Initiative für das Verbot des Baus von Minaretten (2009) und der
Initiative für die Abschiebung krimineller Ausländer (2010), beide vom
Volk angenommen, versucht die SVP erneut, die Ängste vor Überfremdung
und Verlust des Arbeitsplatzes zu mobilisieren. Auch
die anderen Parteien haben für den Wahlkampf Initiativen gestartet und
sammeln die notwendigen 100 000 Unterschriften, um eine Volksabstimmung
zu erzwingen. Die Freisinnigen, wie die Liberalen hier heißen, wollen
weniger Bürokratie, die Christdemokraten steuerfreie Kinder- und
Ausbildungszulagen und die Grünen einen „geordneten Ausstieg aus der
Atomenergie“. Aber keine Partei führt einen so aggressiven Wahlkampf wie
die SVP mit ihrer Initiative gegen die Masseneinwanderung, einem
ohnehin emotional aufgeladenen Thema. Immerhin sind 22 Prozent der
Schweizer Bevölkerung Ausländer. Im vergangenen Jahr
sind erneut etwa 90 000 Ausländer eingewandert – an erster Stelle
Deutsche, in der Regel hoch qualifizierte Arbeitskräfte, die vor allem
wegen der hohen Löhne und der niedrigen Steuern kommen. Auch wenn es
durchaus Ressentiments gegen sie gibt, richtet sich die
Fremdenfeindlichkeit doch vor allem gegen Einwanderer aus dem Süden,
vornehmlich gegen Muslime. Als im Hinterland von Zürich
im August ein Kosovo-Albaner seine Frau und die Leiterin des örtlichen
Sozialdienstes tötete, kam im Fernsehen auch Josef Bütler, der
Gemeindepräsident von Spreitenbach, einem Vorort von Zürich, zu Wort. In
seiner Gemeinde beträgt der Anteil der Ausländer 51 Prozent, die Hälfte
von ihnen stammt aus dem Balkan. Die vielen Ausländer, sagte Bütler,
der der rechtsliberalen FDP angehört, seien gewiss eine Herausforderung,
aber auch „eine ganz große Bereicherung“. Anfang Oktober trat er
zurück, nachdem seine Familie am Telefon von anonymen Anrufern immer
wieder bedroht worden war. Sicher, die SVP lehnt
solche Einschüchterungen ab, aber sie düngt den Boden, auf dem
rassistisches Gedankengut und ausländerfeindliche Haltungen gedeihen. Auch
Yvette Estermann, Mitglied der SVP-Fraktion im Nationalrat, hat nichts
gegen Ausländer. Gleich wird sie nach Bratislava fliegen, in ihre
Heimat. Sie ist 1967 in der Slowakei geboren, „Mein Herz hat zwei
Kammern“, sagt sie, die erst 1999 Schweizer Bürgerin wurde und nun gegen
die Masseneinwanderung kämpft, „ich bin stolze Schweizerin und auch
stolz auf meine slowakische Herkunft.“ Yvette Estermann engagiert sich
ebenfalls für Immigranten. Sie ist Präsidentin der Gruppe „Neue Heimat
Schweiz“, einer – wie sie auf ihrer Website schreibt - „losen
Gruppierung tadellos integrierter Ausländerinnen und Ausländer sowie
Eingebürgerter“. Mit der Organisation Second@s Plus
liegt sie allerdings im Clinch. „Second@s Plus fordert die Abschaffung
des Schweizer Kreuzes!“, empört sie sich auf ihrer Website, „diese
Gruppe stört den religiösen Frieden in unserem Land, missachtet dessen
weltweit geachtetes Symbol und ist damit eine Gefahr für unsere
Gesellschaft! Was kommt als Nächstes? Die Abschaffung der christlichen
Kirchen in der Schweiz? (…) Es kann nicht sein, dass die Zuwanderer dem
Gastland Befehle erteilen, was dieses zu tun hat!“ Was
war passiert? Ivan Petrusic, Vizepräsident von Second@s Plus, hatte zum
Wahlkampfauftakt die Fahne der Helvetischen Republik – von Napoleon
1798-1803 errichtet – mitgebracht, eine grün-rot-gelbe Trikolore aus
einer Zeit, als alle erwachsenen Einwohner des Landes, auch die
Ausländer, Stimmrecht hatten. Petrusic, gebürtiger Bosnier, hatte
gesagt, man müsse über Symbole nachdenken. So wurde Petrusic in den
Augen der Populisten zum Totengräber des Schweizer Kreuzes. „Es
ist beängstigend, dass wenige kapitalstarke Kräfte Kampagnen
finanzieren, die gegen die Menschenwürde verstoßen“, sagt Georg Kreis,
„das wunderbare Instrument der Volksinititative wird auf scheußliche Art
missbraucht.“ Kreis, emeritierter Professor der Universität der Basel
und Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, ist einer
der bekanntesten Historiker der Schweiz und Intimfeind des Milliardärs
Christoph Blocher, der Gallionsfigur der SVP. „Der Schweizer Wunsch,
immer etwas Besonderes zu sein, führt auf eine falsche Fährte“, sagt
Kreis, Mitglied der liberalen FDP, bei einer Veranstaltung der Grünen im
Anker-Haus von Ins, einem Dörfchen bei Bern. In dem
Holzhaus starb vor hundert Jahren Albert Anker, der vielen als Schweizer
Nationalmaler gilt. Die größte Privatsammlung seiner Bilder besitzt
Christoph Blocher, der Vorkämpfer einer politischen Abschottung der
Schweiz gegen die Ausländer. Anker aber, da ist sich der Historiker
Kreis sicher, war ein großer Humanist, ein Europäer. Er hat in Paris
gewirkt, in Halle studiert. Er war nicht der reaktionäre Heimatmaler,
als der er weithin lange galt. Er war ein weltoffener Geist. „Seine
Heimatbilder sind Weltbilder“, sagt Georg Kreis, „Heimatliebe und
Weltverbundenheit sind kein Gegensatz.“ Jakob Egli, der
Gemeindepräsident von Wald, liebt seine Heimat, sein Dorf in Appenzell,
und die Ausländer gehören für ihn dazu. Der emeritierte Professor hat
dem Präsidenten der ausländerfreundlichsten Gemeinde der Schweiz in
einem Brief gratuliert. |