Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 10.04.2012
Sie wurden geschlagen, gedemütigt und missbraucht. Zehntausende
von Schweizern mussten in ihrer Jugend wie Leibeigene auf
Bauernhöfen schuften. Nach langem Schweigen verlangen die
ehemaligen Verdingkinder nun Wiedergutmachung.
BERN. Es ist ein
erhabenes Panorama. Am Horizont leuchten Eiger, Mönch und
Jungfrau, das majestätische Dreigestirn der Berner Alpen. Föhnlage
herrscht, der Fallwind sorgt für klare Fernsicht. Die verschneiten
Berge, scharf konturiert, sind zum Greifen nahe, davor zieht sich eine
sanfte Hügellandschaft dahin. "Dort", sagt Hugo Zingg und zeigt
auf den grünen Streifen vor dem strahlenden Weiß, "dort liegt das
Gürbetal.
Zingg ist ein Mann von robustem Körperbau, mit kantigem
Gesicht und kräftigen Händen. Man sieht ihm an, dass ihm im Leben
nichts geschenkt wurde. Geboren wurde er 1936 in Bern, im Mattequartier,
unten an der Aare, wo damals vor allem ärmere Leute wohnten. Die
Eltern gaben ihn schon früh weg zu einem Friseur, der Kinder gegen
ein Kostgeld in Pflege nahm. Als der kleine Hugo das schulfähige Alter
erreichte, wurde er auf einen Bauernhof in Wattenwil im nahen
Gürbetal untergebracht. Er wurde verdingt, so hieß das damals. Und
fast täglich verprügelt.
Der Junge ohne Namen
Das alles liegt
Jahrzehnte zurück, doch erst jetzt kämpfen ehemalige Verdingkinder wie
Hugo Zingg gegen das Vergessen und Verschweigen: Über einen
Betroffenenverein fordern diejenigen, die in ihrer Kindheit wie
Leibeigene ausgebeutet worden sind, eine offizielle
Entschuldigung, dringender noch als eine Entschädigung.
Zingg
redet gelassen über die längst vergangenen Zeiten. Doch sind sie
wirklich vergangen? Manchmal verkrallen sich seine Finger, wenn er von
seiner gestohlenen Jugend erzählt. Manchmal stockt ihm die Sprache und
er hilft sich mit einem schnellen, etwas schrägen Lächeln darüber
hinweg. Manchmal scheint sich sein Blick in der Ferne zu verlieren,
und er redet von sich, als ob er von einem andern sprechen würde.
Dann wieder schließt er die Augen, denkt nach. Vielleicht sucht er
ein Bild.
Das Bild von einem Jungen, der jeden Morgen um vier Uhr
früh aufstand, Holz in die Küche schleppte fürs Feuer, über dem er
die Schweinetränke kochte. Von einem Jungen, der den Kuhstall
ausmistete, die Pferde fütterte, 80 Liter Milch schulterte, um sie zur
Käserei zu bringen, bevor er zur Schule hochstapfte, wo er in der
Klasse dann oft einschlief. Von einem Jungen, der nach der Schule
Böden schrubbte, die Wiesen mähte, das Heu einbrachte. "Zehn Jahre
lang habe ich auf dem Hof gearbeitet, geschuftet bis zum Umfallen",
sagt Hugo Zingg, "ein Bett kannte ich nicht. Ich schlief zusammen mit
dem Knecht in einem Holzrahmen, der mit Stroh gefüllt war. Nicht einmal
Unterwäsche hatte ich. Ich stopfte einfach das Hemd in die Hose."
Fast täglich verdrosch ihn die Bäuerin mit dem Lederriemen. Einen
Grund fand sie immer: der Boden war nicht sauber gefegt, ein Eimer
war umgestürzt, eine Kuh wollte nicht kalben, ein Blitz war in den
Baum eingeschlagen. "Sie war ein Sauluder", sagt Zingg, "und das ist
noch zurückhaltend ausgedrückt." Und der Lehrer? Der Vormund? Der
Pfarrer? Die haben doch alles mitgekriegt. Hat denn niemand
eingegriffen? Die Frage nötigt dem ehemaligen Verdingbub nur ein müdes
Lächeln ab. "Es waren eben andere Zeiten, auf den Dörfern herrschte
Armut", sagt er, "der Lehrer erhielt vom Bauern einen Sack Kartoffeln
und schwieg, der Vormund wollte auf den Speck nicht verzichten
und schwieg auch."
Hat er denn nie daran gedacht, einfach
abzuhauen? Wieder so eine naive Frage. "Abhauen? Wohin? Ich war ein
Kind, ich kannte doch niemanden. Ich war es gewohnt, mich zu ducken,
Schläge einzustecken." Dass er nichts konnte, nichts wert sei, nur ein
Niemand - das war die Botschaft, die Hugo Zingg tagtäglich mit dem
Lederriemen eingebläut wurde. Nicht einmal einen Namen hatten die
Bauern für ihn, es habe einfach "Bueb, mach das, mach säb" geheißen.
Junge, mach dies, mach jenes. Und zwar plötzlich.
Auf dem Hof im
Gürbetal hatten vor seiner Ankunft schon drei Verdingbuben
Selbstmord begangen. Niemand schritt ein. Eines Tages hatte auch der
Knecht, früher selbst Verdingkind, jeden Lebensmut verloren. "Am 1.
Januar 1950 holte ich sein Gewehr", sagt Zingg, "damals hatte ja noch
jeder Schweizer Dienstwaffe und Munition zu Hause, ich reichte ihm
den Karabiner, er ging in den Wald und erschoss sich. Am nächsten Tag
war die Beerdigung." Schuldgefühle, sagt er, hätte er keine
gehabt: "Ich war noch keine 14 Jahre alt, und mir hat ja niemand je
gesagt, was gut und was schlecht ist."
Um 1930, vermutet Marco
Leuenberger, waren in der Schweiz über 60000 Kinder
"fremdplatziert", wie es offiziell hieß. Der Historiker erforscht das
Thema seit acht Jahren an der Universität Basel und hat fast 300
Lebensgeschichten zusammengetragen. Verdingt wurde bis in die
Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, es dürften noch
mindestens 10000 ehemalige Verdingkinder leben. Zu seinem
Forschungsgegenstand kam Leuenberger, weil sein Vater selbst ein
Verdingkind war. "Und er hat Glück gehabt, zu Hause oder im Heim wäre
es ihm wohl schlechter ergangen", sagt Marco Leuenberger. Es gab ja
durchaus auch Pflegefamilien, die die Mündel gut behandelten. Aber
viele wurden sexuell missbraucht, die meisten körperlich und
seelisch misshandelt - und alle mussten sie hart arbeiten, in der Regel
weit mehr, als die Bauern ihren eigenen Kindern abverlangten.
Es
war nicht Nächstenliebe, sondern Kalkül. Arme
Bauernfamilien nahmen fremde Kinder auf, weil sie dafür von deren Eltern
oder der Vormundschaft Geld erhielten und zudem eine Arbeitskraft
bekamen, der sie nur Kost und Logis bieten mussten. Beides war oft
von minderer Qualität: Sauerkraut und Strohsack. Bis 1912 gab es
in der Schweiz sogar Verdingmärkte, auf denen Kinder denjenigen
übergeben wurden, die am wenigsten Geld forderten - der Staat wollte ja
sparen. Oft waren es unehelich geborene Kinder, die man ihren
Müttern entrissen hatte. Eine allgemeine Rentenversicherung führte die
Schweiz erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Vorher bedeutete der Tod
eines Ehepartners oft den Absturz in die Armut. Da gab manche
Mutter ihr Kind mehr oder weniger freiwillig her.
Heute, sagt
Leuenberger, der Historiker, kämen Pflegekinder eher bei wohlhabenden
Familien unter. "Während früher Kinder durch Fremdplatzierung
traumatisiert wurden, versucht man heute, traumatisierte Kinder aus
kaputten Familien zu retten." Früher durfte jedes Ehepaar, das nicht
"armengenössig" war, also nicht auf Gaben der öffentlichen Hand
angewiesen war, Pflegekinder aufnehmen. Ohne dass die
Familienverhältnisse überprüft wurden. Heute ist die Aufnahme
fremder Kinder an zahlreiche Auflagen gebunden und die Aufsicht durch
die zuständigen Behörden einigermaßen gewährleistet. Vor allem aber
ist Gewalt gegen Kinder gesellschaftlich geächtet, während sie früher
als Bestandteil einer normalen Erziehung galt.
"Noch schlimmer
als die Prügel waren die täglichen Demütigungen, die vielen kleinen
Gemeinheiten", sagt Dora Stettler. "Ich war ein Fremdling, kein
Bauernkind, der Bauer war nur scharf auf Kostgeld." Stettler ist 85
Jahre alt, Typ rüstige Rentnerin. Die Treppe zur Terrasse des
Berner Bahnhofs steigt sie mühelos hinauf, ihr Gedächtnis
funktioniert noch gut. Ihre Geschichte erzählt sie so detailreich, als
ob alles erst gestern geschehen wäre. 1927 in Bern geboren, wurde sie
1934 auf einen Bauernhof verdingt. Die Eltern hatten sich scheiden
lassen. Der Mutter war zwar das Sorgerecht zugesprochen worden, aber
ihr neuer Liebhaber wollte keinen "Anhang". "Eines Tages lud sie
mich zu einem Sonntagsausflug ein", erinnert sich Dora Stettler, "von
dem es keine Rückkehr gab. Sie stellte mich einfach bei einer
Bauernfamilie ab, sagte: 'Das ist jetzt dein neues Zuhause' und ging
weg. Ich war gerade sieben Jahre alt!"
Zur Einsamkeit kamen die
endlose Schufterei und tägliche Prügel. Nach einem Jahr durften
Dora Stettler und ihre Schwester, die auf dem selben Hof verdingt
worden war, zu einer anderen Familie umziehen. Ihr Vater hatte die
Misshandlungen bei einem Besuch bemerkt und ihre Versetzung erreicht. "Wir
kamen jedoch vom Regen in die Traufe", sagt Dora Stettler, "unsere
neue Pflegemutter stellte sich bald als wahre Teufelin heraus. Es war
die Hölle." Wieder Plackerei von früh bis spät, Prügel für jede
Kleinigkeit und verdorbenes Essen. "Wir freuten uns aufrichtig, wenn es
am Sonntag gebratenes Katzenfleisch gab."
Sie hat ihre
Geschichte aufgeschrieben. "Im Stillen klagte ich die Welt an",
heißt ihr Buch, das vor acht Jahren erschien. Es ist eine Geschichte
von abgrundtiefer Einsamkeit, die Geschichte einer geraubten
Kindheit. Zahlreiche Lesungen hat die alte Frau gehalten, immer wieder
hat sie von ihrem Leben erzählt. Schon oft ist sie danach von Menschen
angesprochen worden, die ein ähnliches Schicksal hatten, die
ebenfalls als Verdingkinder aufwuchsen - ohne emotionale Nähe,
Zuneigung und Liebe zu erfahren, ohne einen Vater, der einen
beschützt, oder eine Mutter, bei der man sich ausheulen kann.
Hugo Zingg und Dora Stettler haben sich im "Netzwerk Verdingt"
kennengelernt. Der Verein wurde vor vier Jahren zum
Erfahrungsaustausch gegründet - und zur Wiedergutmachung. Aber
was lässt sich denn wieder gut machen? Wie kann man vermasselte
Karrieren, seelische Schäden, Traumatisierung mit Geld aufwiegen? Acht
Forderungen erhebt das Netzwerk, unter anderem eine
uneingeschränkte Akteneinsicht und die Errichtung eines Härtefallfonds.
Ganz oben auf der Liste steht die Forderung nach einer offiziellen
Entschuldigung der Regierung. "Wir verlangen das öffentliche
Eingeständnis einer staatlichen Mitschuld an hunderttausendfach
erlittenem Unrecht", sagt Walter Zwahlen, der Präsident.
Eine
solche Entschuldigung könnte viele ehemalige Verdingkinder ermutigen,
aus dem Schatten herauszutreten. Noch wird erlittenes Unrecht oft als
selbst verschuldetes Schicksal verstanden. Noch schweigen viele aus
Scham. Auch Hugo Zingg hat lange gebraucht, um über seine Kindheit zu
reden. Am Anfang schien es ihm schlicht nicht opportun: Wohl ein
Dutzend Mal hat er sich um eine Stelle beworben und wurde abgelehnt,
als man von seiner Zeit als Verdingkind erfuhr. "Bei Mädchen hätte
ich ja auch keine Chancen gehabt, wenn ich davon erzählt hätte",
sagt Zingg, "nicht einmal meinem eigenen Sohn habe ich es
gesagt."
Mit 22 Jahren suchte er seine Eltern auf, die ihn als
Kleinkind einem Heim anvertraut hatten. "Es war eine peinliche
Situation", erinnert er sich, "die Mutter heulte unentwegt." Ende
der Fünfzigerjahre war das, sie sahen sich danach noch einmal wieder,
doch da ließ sich nichts kitten. Vater und Mutter sind längst
verstorben, aber vor drei Monaten holte Hugo Zingg die
Familiengeschichte wieder ein: "Da klingelte es, ein Mann stand vor
meiner Tür und sagte: 'Ich bin dein Bruder.'"
Der wiedergefundene
Bruder
Die beiden hatten sich vor 70 Jahren das letzte Mal
gesehen, Heinz Zingg hatte mit seinen Pflegeeltern Hugo im Kinderheim
besucht. Im vergangenen Dezember las er in einer Schweizer Zeitung
einen Artikel, in dem vom ehemaligen Verdingkind Hugo Zingg die Rede
war, wohnhaft in Lyss, geboren im Berner Mattequartier. Heinz
wusste, dass er, bevor er den Familiennamen seiner Adoptiveltern annahm,
auch Zingg geheißen hatte und im Mattequartier geboren wurde. Im
Telefonbuch war in Lyss kein Zingg verzeichnet. So fuhr Heinz einfach
hin und fragte sich im Dorf durch, bis er seinen zwei Jahre jüngeren
Bruder fand.
Hugo Zingg hat es schwer gehabt im Leben. Er wurde
verprügelt, gehänselt, ausgebeutet, zurückgestoßen,
gedemütigt. Manchmal staunt er selbst darüber, dass er das alles
überstanden hat. "Viele ehemalige Verdingkinder haben sich den Tod
gegeben", sagt er, "haben die Kurve nicht mehr gekriegt." Er selbst
hat sich mit allerlei Arbeiten durchs Leben geschlagen. Mit 43 Jahren
fand er bei einer Firma, die Frankiermaschinen herstellt, eine feste
Anstellung und blieb bis zur Pensionierung 2001.
Vor
einem Jahr hat Zingg doch noch mal einen Job angenommen - als
Statist in Markus Imbodens Film "Der Verdingbub", mit 230000
Zuschauern in neun Wochen der erfolgreichste Schweizer Film seit Jahren.
Er erzählt die traurige Geschichte eines Jungen, wie Hugo Zingg
einer war - eine Geschichte, so glaubte der ehemalige Verdingbub noch
vor kurzem, die doch sowieso niemanden interessiert.
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