Die Putzfrau und der Vorstandschef |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 07.11.2013 Die Schweizer stimmen demnächst über eine Volksinitiative der Jungsozialisten ab. Diese wollen die Gehaltsschere in einem Unternehmen auf maximal 1:12 reduzieren BADEN. Wenn
die Topmanager dem Land den Rücken kehren und Unternehmer Niedriglohnjobs ins
Ausland verlagern, wenn die Arbeitslosigkeit steigt, das Masseneinkommen sinkt
und die Schweiz schließlich - so die Unkenrufe - zum Nordkorea Europas
verkommt, dann ist in erster Linie er schuld: Cédric Wermuth. Der 27-jährige
Sozialdemokrat, als Student vor zwei Jahren ins Parlament gewählt, ist zum
Enfant terrible der konservativen Parteien, der Unternehmerverbände und der
Banken avanciert. Er gilt als der geistige Vater der 1:12-Initiative, über die
die Eidgenossen am 24. November abstimmen werden.
Cédric Wermuth - man darf ihm dies getrost unterstellen - genießt den
Aufruhr. Er liebt es, wenn Bewegung in die lahme Politik kommt. Harmoniesucht
und Konfliktscheu sind seine Sache nicht. Er provoziert und polarisiert.
Unvergessen seine Rede im Nationalrat, der großen Kammer des Parlaments, als er
für die Abschaffung der Wehrpflicht plädierte. "Auf die Jagd gehen nach
dem Feind. Durch den Dreck robben. Mit diesem Phallus-Ersatz, genannt
Sturmgewehr, rumballern. In weitgehend sinnentleerten Solidargemeinschaften
herumgrölen", mokierte er sich übers Soldatenleben, "das kann
definitiv nicht das Männerbild der Zukunft sein." Der Krieg
der Zahlen Solche Worte hatte man in den heiligen Hallen des Bundeshauses zu Bern
selten gehört. Da will einer die Politik durchlüften, Bewegung in die Bude
bringen. Es erstaunt nicht, dass Wermuth im FC Nationalrat, dem Fußballclub des
Parlaments, Mittelstürmer ist. Immer vorneweg. Wermuth wohnt im beschaulichen Städtchen Baden im Kanton Aargau, eine
Viertelstunde Zugfahrt von Zürich entfernt. Er lebt in einer Wohngemeinschaft,
zusammen mit einem spanischen Informatiker, einer Schweizer Studentin der
Sozialarbeit und einem französischen Ingenieur. Die schlicht eingerichtete
Wohnung befindet sich in einer engen Gasse der schmucken Altstadt, nur wenige
Schritte entfernt von der Unvermeid-Bar, die von der stadtbekannten
transsexuellen Schauspielerin, Regisseurin und Chanson-Diva Stella Palino
geführt wird. Im Oktober 2011 gab es dort Freibier für alle. Auf Kosten
Wermuths. Er war gerade ins Parlament gewählt worden. Politik kennt er von klein auf. "Meine Eltern, beide Heilpädagogen,
waren immer politisch aktiv", sagt er "mein Vater hatte früher
Freunde bei den Kommunisten, meine Mutter war bei Amnesty International
engagiert. Bei uns zu Hause kreuzten Tamilen, Kosovaren und Kurden auf."
Die Mutter stammt aus der französischen Schweiz, und so ist Cédric zweisprachig
aufgewachsen. Die Großmutter väterlicherseits ist aus Italien zugewandert, und
deshalb ist er Doppelbürger und nicht nur Mitglied der Sozialdemokratischen
Partei der Schweiz, sondern auch des Partito Democratico Italiens. Und ein
wenig sieht Wermuth mit seinem gestutzten Bart und den dunklen Augenbrauen denn
auch aus wie ein gealterter Secondo. So werden in der Schweiz Jugendliche mit Migrationshintergrund
genannt. Den Jungsozialisten (Jusos), der Jugendorganisation der
Sozialdemokratischen Partei, trat Wermuth schon als 13-Jähriger bei. Das war
1999. Neun Jahre später war er ihr Chef und auch Vizepräsident der Partei. Es
war in dem Jahr, als in den USA die Bank Lehman Brothers zusammenkrachte und
die globale Finanzkrise ausbrach. Die größte Schweizer Bank, die UBS, konnte
nur mit öffentlichen Geldern in Höhe von 76 Milliarden Franken (60 Milliarden
Euro) vor dem Kollaps gerettet werden. Kurz danach schon gab sie bekannt, dass
sie 2009 trotz gigantischer Verluste im Vorjahr drei bis vier Milliarden Boni
ausschütten werde. "Die Millionensaläre der Topmanager wurden nun zu einem
heiß diskutierten Thema", erinnert sich Wermuth, "so lancierten wir
2009 die Volksinitiative '1:12 - Für gerechte Löhne'. Wir wollten
Öffentlichkeit schaffen und als politischer Player ernst genommen werden."
Die Unterstützung durch die Partei sei dabei zunächst sehr zögerlich
ausgefallen. "Die notwendigen 100 000 Unterschriften haben wir Jusos
faktisch allein gesammelt. Und wir hatten sie überraschend schnell
zusammen." Mitgetragen wird die 1:12-Initiative inzwischen vom
Gewerkschaftsbund, den Sozialdemokraten und den Grünen. Alle anderen Parteien
sowie die Unternehmerverbände sind gegen die Initiative. Auch Regierung und
Parlament haben dem Volk empfohlen, sie abzulehnen. Nun herrscht ein Krieg der Zahlen. Die Universität Sankt Gallen,
Kaderschmiede der Nation, hat im Auftrag des Schweizerischen Gewerbeverbandes,
der die Federführung der Nein-Kampagne übernommen hat, eine Expertise erstellt.
Das Ergebnis: Falls die Initiative angenommen wird, muss im schlimmsten Fall
mit Steuerausfällen in Höhe von 1,5 Milliarden Franken und einem Loch in der
staatlichen Rentenkasse in Höhe von 2,5 Milliarden Franken gerechnet werden.
Das Denknetz hingegen, ein linker Think Tank, kann keine dramatischen Ausfälle
absehen. Die Konjunkturforschungsstelle der renommierten ETH Zürich wiederum
rechnet mit einem Loch von allenfalls 125 Millionen Franken in der Rentenkasse.
Eine eher bescheidene Summe. Die unterschiedlichen Resultate hängen von den umstrittenen Annahmen und
Hypothesen ab, die den Modellrechnungen zugrunde liegen. Das Problem besteht
darin, dass niemand weiß, was geschehen wird, wenn sich 1:12 durchsetzt. Was
wird dann aus der eingesparten Lohnsumme? "Unsere Hoffnung ist schon, dass
die untersten Lohngruppen dann mehr Geld kriegen", sagt Wermuth und
schränkt sofort ein: "Aber es gibt da keinen Automatismus." Das würde
jedenfalls den Konsum stärken und dem Staat zusätzliche Mehrwertsteuern in die
Kassen spülen. Vielleicht aber wird der eingesparte Betrag nur zu erhöhten
Unternehmensgewinnen führen.Oder es werden gewisse Tätigkeiten aus dem
Niedriglohnbereich ausgelagert oder automatisiert. Möglicherweise werden
Unternehmen zwecks Verkleinerung der Lohnschere aufgespalten - zum Beispiel in
eine Management- und in eine Produktionsgesellschaft. "Es wird tausend
kreative Ideen geben, wie man gegebenenfalls den Willen des Volkes umgehen
kann", prophezeit Wermuth, "doch spricht das nicht gegen die
Initiative. Aber es sagt viel über das Demokratieverständnis jener aus, die mit
solchen Ideen hausieren gehen." Betroffen von einer Regelung 1:12 wären nur wenige. In bloß 1,5 Prozent
aller Schweizer Unternehmen mit mindestens drei Beschäftigten ist die
Lohnspanne größer als 1:12. Es sind vor allem Unternehmen im Finanz- und
Versicherungswesen, im Großhandel und der Unternehmensverwaltung und -beratung.
Nur etwa 4 400 Topverdiener landesweit müssten mit einer Kürzung ihrer Gehälter
rechnen: Zum Beispiel Severin Schwan, Chef des Pharma-Konzerns Roche. Er hat im
letzten Jahr 15,791 Millionen Franken verdient - 261 Mal mehr als die am
schlechtesten bezahlte Arbeitskraft seines Unternehmens. Bei Nestlé beträgt die Lohnspanne 1:238, bei der UBS 1:194, beim
Lebensmittelkonzern Migros immerhin noch 1:18, bei Coop just 1:12. Die
öffentliche Verwaltung hingegen wäre von einem Erfolg der Initiative nicht
betroffen. In der Stadt Zürich etwa ist die Lohnspanne 1:4,5. Die UBS erwirtschaftete im vergangenen Jahr einen Verlust in Höhe von 2,5
Milliarden Franken - und zahlte gleichzeitig Boni in Höhe von 2,5 Milliarden
aus. Allein der Investbanker Andrea Orcel erhielt 26 Millionen Franken
Antrittsentschädigung, ein einmalig ausbezahltes Willkommensgeld. Es sind
solche Zahlen, die der "Abzocker-Initiative" im März dieses Jahres
zum Erfolg verholfen haben. Zwei Drittel der Schweizer stimmten damals einer
Verfassungsänderung zu, wonach in börsennotierten Unternehmen eine
Generalversammlung aller Aktionäre über die Gesamthöhe der Boni zu entscheiden
hat." Damals ging es um die Rechte der Aktionäre, nun geht es um die Löhne aller.
Umso härter sind nun die Bandagen, mit denen gekämpft wird. Ruedi Noser, der
für die wirtschaftsliberale FDP, die große bürgerliche Partei der Schweiz, im
Nationalrat sitzt und gleichzeitig der Finanz- und Wirtschaftskommission von
Economiesuisse, dem größten Dachverband der Unternehmer, angehört, hat
SuccèSuisse gegründet. Der Verein hat sich die Verteidigung der liberalen
Wirtschaftsordnung auf die Fahnen geschrieben. "Jetzt geht es wieder um
Klassenkampf pur: die Linken gegen die Bürgerlichen", sagte Noser der
Neuen Zürcher Zeitung, "die Sozialdemokraten haben dem Erfolgsmodell
Schweiz den Krieg erklärt." Und er wird noch schärfer: "Die
1:12-Initiative macht uns zum Nordkorea Europas: wirtschaftlich isoliert, aber
alle gleich - alle gleich arm." "Die typische Angstkampagne vor der Abstimmung", meint Wermuth
lakonisch. Er bestreitet, dass die Initiative der Schweizer Wirtschaft schadet.
"Das Gegenteil ist richtig", sagt er, "eine Umverteilung des
gesellschaftlichen Reichtums ist nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern
auch ein Akt der wirtschaftspolitischen Vernunft. Das Geld muss den Kreisläufen
der Finanzspekulation, wo es Unheil anrichtet, entzogen werden." Wenn der
Neoliberalismus behaupte, die wirtschaftlichen Sachzwänge ließen keine
Alternativen zu seinem eigenen Projekt zu, zeige er nur seine totalitären Züge.
Den Begriff Marxist mag Wermuth nicht, aber dass ihn die marxistische
Gesellschaftsanalyse stark beeinflusst hat, verhehlt er nicht. "Der
Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte", sagt er, "da hatte
Marx schon recht." Wermuth steht kur vor dem Abschlus seines Politologie-Studiums. Dass die marxistische Theorie nicht mehr auf dem Lehrplan steht, hält er für absurd.
"Ohne Marx kann man die Geschichte des modernen Denkens nicht
verstehen", sagt er. Klar, er ist ein Linker, aber was ist heute links?
"Im Kern geht es um Freiheit, um die individuelle Freiheit",
antwortet er, "und diese muss man immer in ihrer politischen, sozialen und
wirtschaftlichen Dimension begreifen. Gegen die bürgerliche Markt- und
Konkurrenzlogik muss der Versuch gemacht werden, jeden Bereich des Lebens einer
demokratischen Logik einzuverleiben." Seine Gegner werfen Wermuth vor, er hole seine Rezepte aus der
sozialistischen Mottenkiste, überhaupt sei er ein Linksradikaler, zudem wegen
Hausfriedensbruchs rechtskräftig verurteilt. Das ist drei Jahre her, damals war
er Juso-Chef. "Wir haben in einem seit Jahren leerstehenden völlig
verlotterten Hotel eine Party gefeiert, um auf den eklatanten Mangel an
bezahlbaren Wohnungen in der Stadt hinzuweisen", sagt er, "das Urteil
wegen Hausfriedensbruchs habe ich angefochten, aber es wurde in letzter Instanz
vom Bundesgericht bestätigt: 20 Tagessätze und eine Buße von 300 Franken."
Es wurmt ihn nicht. Im Gegenteil. "Der Streit hat mir zu nationaler
Bekanntheit verholfen." Über
Gerechtigkeit reden Vermutlich ist der 27-jährige Wermuth inzwischen der bekannteste Schweizer
Politiker seiner Generation. Jeden Tag hat der umtriebige Sozialdemokrat
öffentliche Auftritte, in Großstädten wie in kleinen Dörfern. Ob er mit einem
Erfolg der Initiative rechnet? Zurzeit liegen die Chancen laut Umfragen
fifty-fifty. Noch. "Die Gegner mobilisieren nun gewaltig", sagt
Wermuth, "wir haben ein Budget von 700 000 bis 800 000 Franken, unsere
Gegner bis zu 15 Millionen." Aber wichtiger als ein Erfolg ist ihm ohnehin,
dass nun auf breiter Ebene Lohngerechtigkeit und Verteilungsfragen thematisiert
werden. Auch wenn die 1:12-Initiative scheitert, wird im Schweizer Klassenkampf
keine Ruhe einkehren. Im kommenden Jahr steht eine vom Gewerkschaftsbund
eingereichte Initiative zur Abstimmung: Ein Mindestlohn von 22 Franken (18
Euro) pro Stunde, also etwa 4 000 Franken (3 250 Euro) im Monat soll gesetzlich
verankert werden. In Deutschland, wo bei den Koalitionsgesprächen ein
Mindestlohn von 8,50 Euro im Gespräch ist, mag man über solche Größenordnungen
staunen. In Zürich aber, wo die Curry-Wurst an der Imbissbude sieben Franken
kostet, findet eine Mehrheit dies vielleicht angemessen. Und bald nach der Abstimmung über die Mindestlohn-Initiative werden die
Schweizer wieder zu den Urnen gerufen. Dann wird es um die Erbschaftssteuer
gehen. Die 1:12-Initiative ist also nur ein Anfang. "Es geht um die
öffentliche Thematisierung von Verteilungsfragen", sagt der Politologe
Wermuth und verabschiedet sich. Er muss in ein Fernsehstudio, in einer Talkshow
gegen den Chemieunternehmer und früheren Justizminister Christoph Blocher
antreten - der linke Student gegen die Galionsfigur des schweizerischen
Rechtspopulismus. © Berliner Zeitung |