Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04.02.2014
Am
Sonntag stimmen die Eidgenossen über eine Begrenzung der Zuwanderung
ab. Zur Debatte steht das Verhältnis zwischen der Schweiz und der
Europäischen Union.
Zürich. Der Mann steht breitbeinig in der Landschaft. Die Ärmel hat er
hochgekrempelt. Man sieht seine kräftigen Armmuskeln. Über dem Kopf hält
er mit beiden Händen eine Axt. Sie wird gleich mit Wucht hinuntersausen
und eine weitere Kerbe in den Stamm schlagen. "Der Holzfäller" ist das
bekannteste Werk des Schweizer Malers Ferdinand Hodler. Kaum ein
Eidgenosse, der das 1910 entstandene Bild nicht kennt. Jetzt holt der
Holzfäller auf Plakaten und in Zeitungsinseraten wieder zum Schlag aus.
Wird auf Hodlers Bild aber ein hoher Baum gefällt, von dem nur der lange
Stamm sichtbar ist, setzt der Mann nun zum finalen Schlag gegen einen
Apfelbaum an, der pralle rote Früchte trägt.
Den Apfelbaum hat die Economiesuisse, der Wirtschaftsdachverband der
Schweiz, in die politische Auseinandersetzung eingeführt. Der Baum mit
seinen Früchten steht für Wohlstand. Mit ihm wurde im Jahr 2000 landauf,
landab für eine engere Anbindung der Schweiz an die Europäische Union
geworben. Damals sprachen sich bei einer Volksabstimmung 67 Prozent der
Eidgenossen für die Bilateralen Verträge aus, die der Schweiz den
Zutritt zum europäischen Binnenmarkt erleichterten, aber auch die
Personenfreizügigkeit zwischen den EU-Staaten und der Schweiz
etablierten. Ab kommendem Juni dürfen alle EU-Bürger - mit Ausnahme der
Rumänen, Bulgaren und Kroaten - in der Schweiz arbeiten. Am Sonntag
stimmen die Schweizer nun wieder ab - über die Volksinitiative "Gegen
Masseneinwanderung". Kommt sie durch, würde dies wohl das Ende der
Bilateralen Verträge bedeuten, die 2002 in Kraft traten. Dann droht eine
Eiszeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.
Die Initiatoren fordern, dass in der Bundesverfassung festgeschrieben
wird: "Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und
Ausländern eigenständig." Sie verlangen, die Immigration über die
Einführung von Kontingenten und die Festsetzung von Höchstzahlen zu
begrenzen. Den Familiennachzug wollen sie einschränken und die Schweizer
auf dem Arbeitsmarkt gegenüber den Ausländern bevorzugen. All dies
widerspricht zwar der Freizügigkeitsregelung, zu der sich die Schweiz
verpflichtet hat. Aber das letzte Wort in der direkten Demokratie hat
nun einmal der Bürger.
Jedes Jahr 4 560 neue Fußballfelder
Eingebracht wurde die Volksinitiative von der rechtspopulistischen
Schweizer Volkspartei (SVP), sie ist die stärkste politische Kraft im
Land. Sämtliche anderen im Parlament vertretenen Parteien, ob
konservativ, liberal, sozialdemokratisch oder grün, plädieren für ein
Nein - genauso wie auch die Regierung, das Parlament, die Gewerkschaften
und die Unternehmerverbände. Trotzdem ist noch völlig offen, wie die
Abstimmung ausgehen wird. Die Forderungen der Populisten sind durchaus
populär.
"Wie viel Einwanderer verträgt die Schweiz?" Zu einer Podiumsdebatte
unter diesem Motto hatte kürzlich die Boulevard-Zeitung Blick ins
Zürcher Volkshaus geladen. Das Kulturzentrum am Helvetiaplatz wurde vor
über hundert Jahren von Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und
Sozialreformern gegründet. Doch den Diskurs bestimmen auch hier die
Konservativen. "Im Jahr 2013 lebten 84 000 Ausländer mehr in der Schweiz
als im Vorjahr", hebt Christoph Blocher mit donnernder Stimme an, "und
um diese 84 000 zusätzlichen Ausländer zu betreuen, brauchen wir 6 000
weitere Zuwanderer, 500 Krankenschwestern, 600 Lehrer und 72 zusätzliche
Schulen. Das können wir auf die Dauer nicht finanzieren. Die Schweiz
wird untergehen."
Der 73-jährige schwerreiche Unternehmer, der eine Zeit lang
Justizminister war, ist bis heute die Galionsfigur der SVP und bei
Kampagnen ihr Schlachtross. Er ist auf Podien und in Talkshows ein
begehrter Gast. Er sorgt dafür, dass die Fetzen fliegen. Die Schweiz
könne doch nicht alle Habenichtse der Welt aufnehmen, so der Tenor. "Und
wir schmeißen ja nicht einmal die Verbrecher raus", brüllt Blocher. Das
Publikum johlt.
Vergeblich warnt der farblose Philip Mosimann, Vorstandsmitglied des
Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, vor der Abschaffung der
Personenfreizügigkeit. "Einen dynamischen Arbeitsmarkt über Kontingente
steuern zu wollen, wird scheitern", prophezeit er. "Ein Beamter in Bern
würde entscheiden, ob ich in Niederweningen für die Montage der
Kommunalfahrzeuge eine Fachkraft im Fahrzeugbau einstellen kann, die ich
in der Schweiz nicht finde." Mosimann malt das Gespenst eines
Bürokratiemonsters an die Wand. Doch die Lacher hat Blocher, als
Marktliberaler sonst staatlichen Eingriffen in der Regel abhold, mit
einigen flotten Sprüchen schnell auf seiner Seite.
Die Debatte im Zürcher Volkshaus dreht sich - wie auch sonst im Land -
immer wieder um überfüllte Züge, verstopfte Straßen, steigende Mieten,
Lohndruck, Drogenkriminalität. Und an allem sollen die Ausländer schuld
sein. "Seit dem Jahr 2007 sind jährlich rund 80 000 Personen mehr in die
Schweiz ein- als ausgewandert", schreibt das Initiativkomitee in einer
Broschüre, "jährlich erfordert dies eine Siedlungsfläche in der Größe
von 4 560 Fußballfeldern." Wahnsinn! "Ich will, dass die Schweiz Schweiz
bleibt", sagt Blocher und spricht damit vielen aus dem Herzen.
23 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung sind Ausländer. Die Angst vor
noch mehr Einwanderern, vor Veränderung, vor Unübersichtlichkeit ist
weit verbreitet, und sie wird gezielt geschürt. In der aufgeregten
Debatte tut ein nüchterner Blick gut. George Sheldon hat ihn. Der
65-jährige Amerikaner, der schon 1970 als Student nach Deutschland kam,
ist Leiter der renommierten Forschungsstelle für Arbeitsmarkt und
Industrieökonomik der Universität Basel. Er empfängt in seinem Büro im
Jacob-Burckhardt-Haus, benannt nach dem Basler Kulturhistoriker, einem
weltoffenen Geist, der sich mit seinem Werk über die italienische
Renaissance über die Landesgrenzen hinaus bleibenden Ruhm erworben hat.
"Das Personenfreizügigkeitsabkommen, das für die 'alten' EU-Staaten 2002
in Kraft trat, hat gar keine Masseneinwanderung ausgelöst", bilanziert
Sheldon, "der starke Anstieg des Ausländerbestands geht vor allem auf
Zuwanderungen zurück, die Mitte der 90er-Jahre unter dem vorherigen
Kontingentsystem einsetzten, 2002 ihren Höhepunkt erreichten und seitdem
tendenziell abnehmen." Ende Mai laufen nun die Übergangsbestimmungen
für die "neuen", osteuropäischen EU-Staaten aus. Wie viele dann in die
Schweiz einwandern werden, ist nicht absehbar. Allerdings verlangen die
Schweizer, anders als die Deutschen, den Nachweis einer Arbeitsstelle
oder von ausreichendem Vermögen. Für Rumänen und Bulgaren können bis
2019 wieder Kontingente eingeführt werden.
Der Professor hat in einer umfangreichen Studie die Auswirkungen der
Personenfreizügigkeit auf die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz
untersucht. Er kommt zum Schluss, dass das Wirtschaftswachstum im
Zeitraum 2003 bis 2009, also in den sechs Jahren nach Inkrafttreten des
Freizügigkeitsabkommens, etwa zu einem Drittel auf die Zuwanderung aus
der EU zurückzuführen ist. Im Übrigen verdiene der Schweizer Staat
jährlich 15 000 Franken pro Einwandererhaushalt aus dem alten EU-Raum
allein dadurch, "dass die Zuwanderer mehr Steuern und Beiträge in die
Staatskasse und Sozialversicherungen einzahlen, als sie an staatlichen
Leistungen erhalten".
Eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens würde der Schweiz nur zum
Nachteil gereichen, so das Fazit von Sheldons Studie. Diese wurde im
Auftrag des Schweizerischen Arbeitgeberverbands erstellt, dem an der
Aufrechterhaltung der Bilateralen Verträge sehr gelegen ist. Ist sie
interessengeleitet? Das wird ihr mitunter vorgeworfen. Doch wurden die
Argumente des Amerikaners nirgends widerlegt. In seinem Büro hängt ein
nicht gerade arbeitgeberfreundliches Plakat einer kommunistischen Sekte
aus dem Jahr 1982. "Gegen Arbeitslosigkeit, gegen soziale Demontage,
gegen atomare Aufrüstung" und "Für Frieden, für Freiheit, für
Sozialismus", heißt es da. "Das ist nur, um euch Journalisten zu
irritieren", flachst der Professor, der in letzter Zeit viel von
Medienleuten aufgesucht wird.
Und wenn nun die Mehrheit der Schweizer allen Warnungen zum Trotz am
Sonntag der"Volksinitiative gegen Masseneinwanderung" zustimmt, was
passiert dann? "Erst einmal gar nix", sagt Christa Tobler, Professorin
am Europa-Institut der Universität Basel und Spezialistin für
Europarecht. Die Initiative gewährt der Regierung drei Jahre Zeit, um
das Freizügigkeitsabkommen mit der EU neu zu verhandeln. Tobler sieht
allerdings keine Möglichkeit, wie der Willen der Initiative mit EU-Recht
zu vereinbaren wäre. "Die ausführenden Gesetze werden dem
Freizügigkeitsabkommen zwangsläufig widersprechen", prophezeit sie, "die
EU sagt zu Recht: Pacta sunt servanda. Verträge sind einzuhalten."
Wenn aber eine Seite das Freizügigkeitsabkommen aufkündet - auf der
EU-Seite bräuchte es dazu Einstimmigkeit im Ministerrat und die
Zustimmung des Europäischen Parlaments - , dann sind sechs Monate danach
sämtliche übrigen Abkommen jener Bilateralen Verträge, die 2002 in
Kraft getreten sind, automatisch außer Kraft gesetzt. Dies wurde
ausdrücklich vertraglich vereinbart. Die Schweizer sprechen von einer
"Guillotine-Klausel". In EU-Kreisen heißt es, die Schweizer könnten sich
eben nicht nur die Rosinen herauspicken. Bei den betroffenen Abkommen
geht es um Luftverkehr, Landverkehr, Landwirtschaftsprodukte,
Konformitätsbewertungen und öffentliches Beschaffungswesen. Aber auch
die laufenden Verhandlungen über ein Abkommen in der Stromwirtschaft und
die anstehende Erneuerung der Abkommen im Forschungsbereich würden dann
wohl stocken. Da droht viel Ungemach.
"Die Schweiz wird das Personenfreizügigkeitsabkommen nicht kündigen",
prophezeit Toni Brunner, "und die EU auch nicht." Zum Treffen im
gediegenen Hotel Schweizerhof am Zürcher Bahnhofplatz ist er im offenen
Hemd erschienen. Nach dem Kaffee bestellt er noch "etwas Richtiges". Die
Serviertochter, wie die Kellnerin in der Schweiz heißt, versteht schon:
Brunner will eine Stange, ein Glas Bier. Er ist ein leutseliger Typ,
jovial, auf Anhieb sympathisch - und das trotz der recht unsympathischen
Parolen, mit denen seine Partei für die Abschottung der Schweiz wirbt.
Schon mit 21 Jahren wurde er Mitglied des Nationalrats, der großen
Kammer des Parlaments, heute ist er 39 Jahre alt und Präsident der SVP.
Aber Brunner ist nicht nur Parteichef und Parlamentarier, er ist auch
Bauer im Toggenburg, einem Tal in der Ostschweiz. "Gestern war ich im
Stall", sagt er, "und morgen bin ich wieder im Stall, und wenn ich in
Bern bin, dann schaut der Nachbar nach meinen zwölf Milchkühen." Die
Schweiz hat kein Berufs-, sondern ein sogenanntes Milizparlament. Es
kommt in Bern jährlich viermal zu dreiwöchigen Sessionen zusammen. Aber
als Parteichef muss Brunner oft in die Hauptstadt. Er fährt mit dem Zug.
"Die Straßen sind ja immer verstopft", sagt er, "wegen der
Masseneinwanderung." Und lacht. Er meint es nicht ganz ernst, nur ein
bisschen eben.
Erfolgsmodell im Dilemma
"Die Schweiz ist ein weltoffenes Land", sagt Brunner, "aber jährlich 80
000 zusätzliche Ausländer sind einfach zu viel. Bei euch in
Deutschland, das zehnmal mehr Einwohner zählt, sind es nur 370 000. Und
wenn die Mindestlohninitiative durchkommt, wird die Schweiz noch
attraktiver." Im Mai werden die Schweizer an der Urne entscheiden, ob -
wie vom Gewerkschaftsdachverband gefordert - ein genereller Mindestlohn
in Höhe von umgerechnet etwa 3 300 Euro eingeführt wird. Dann wollen
wohl noch mehr Deutsche in die Schweiz kommen. "Einzelne Deutsche stören
mich nicht", hatte Brunners Fraktionskollegin Natalie Rickli gesagt,
"mich stört die Masse."
Nun bangen alle um das "Erfolgsmodell Schweiz", für das der Apfelbaum
mit seinen prallen roten Früchten steht. Es werde durch die
Masseneinwanderung gefährdet, predigen Blocher und Brunner. Es sei in
Gefahr, wenn nach einer Kündigung der Bilateralen Verträge der Zugang
der Eidgenossen zum EU-Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Konsumenten
erschwert werde, schleudern ihnen die Gegner der Initiative entgegen.
Nicht auszuschließen ist, dass es mit dem Erfolgsmodell Schweiz ohnehin
bald vorbei ist. Einfach, weil der von den Populisten immer wieder
beschworene "Sonderfall Schweiz" der Vergangenheit angehört. Schon jetzt
übernimmt die Schweiz - im Arbeitsrecht, im Sozialversicherungswesen,
im Verbraucherschutz, im Kartellrecht - zahllose Regelungen,
Verordnungen und Gesetze der EU. Diese faktische Übernahme von EU-Recht
heißt in der Schweiz ganz offiziell "autonome Anpassung" - man muss sich
zwar anpassen, tut dies aber autonom. In diesen beiden Worten spiegelt
sich das ganze Dilemma der Schweiz in einem zusammenwachsenden Europa.
© Berliner Zeitung
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