Am Fluss des Todes |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 16.11.2010
Im Landesinnern von Haiti sind schon fast tausend Menschen an der Cholera gestorben. Auch in der Hauptstadt geht die Angst um.PETITE-RIVIERE. Bis auf die Knochen abgemagerte Menschen. Männer, aus deren Augen der nahe Tod spricht. Frauen mit vertrockneten Brüsten. Spindeldürre Kinder mit festgeklemmten Spritzen in den Venen der Unterärmchen, die meisten am Tropf. Viele liegen halbnackt auf einer Liege, unter dem Gesäß ein Loch im Holzbrett, unter dem Loch ein Eimer. Für Würde ist wenig Platz hier im Krankenhaus von Petite-Rivière, einer Kleinstadt zwei Autostunden nördlich von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Intimität gibt es nicht. Alles muss schnell gehen. Jede Minute kann über Leben oder Tod entscheiden. Täglich fordert die Cholera im Land Dutzende neue Opfer. Im Laufschritt werden die Patienten
zum Hospital getragen. Die Cholerakranken werden separat von den übrigen
Patienten in blauen Plastikzelten im Innenhof des Gebäudes versorgt.
Wer Zutritt will oder den tristen Ort verlässt, muss die Hände
desinfizieren und sich die Schuhsohlen abspritzen lassen. Die Angst vor
dem tödlichen Bakterium ist allgegenwärtig. Die wenigen Ärzte und das
Pflegepersonal tragen Gesichtsschleier und Plastikhandschuhe. Landesweit
liegen 14600 Menschen wegen Cholera im Krankenhaus. Bis Sonntag wurden
offiziell 917 Todesopfer gezählt, wahrscheinlich sind es mehr. In
abgelegenen Dörfern, vermuten die Ärzte, werden viele Tote aus Angst vor
Ansteckung einfach verscharrt. Blauhelme im Verdacht Zwei
Drittel aller Todesfälle wurden bisher im Departement Artibonite
registriert, in dem auch Petite-Rivière liegt. Hier werden 148
Cholera-Patienten versorgt. Nur wenige Kilometer weiter, in Verrettes,
sind es knapp hundert, die abgemagert am Tropf hängen. Die meisten
stammen aus dem Ort La Chapelle. Dort arbeitet der Arzt Carlo Emilcar in
einer von der Frankfurter Hilfsorganisation "Medico international"
unterstützten Ambulanz. Vor dem kleinen Betongebäude, das eine Apotheke,
einen Gebärraum, einen Behandlungsraum, eine Zahnarztpraxis und ein
Labor beherbergt, stehen etwa 70 große Eimer aus Zement mit einem Loch
im Boden. Sie sind für die Latrinen bestimmt. "In vielen Dörfern
hier verrichten die Menschen ihre Notdurft im Freien. Ein gefundenes
Fressen für das Vibrio cholerae, den Erreger der Krankheit", sagt
Emilcar. Die Cholera verbreitet sich am häufigsten und am schnellsten
durch mit Fäkalien verunreinigtes Wasser. Der Arzt hat in aller Eile
zwei Dutzend hilfswilligen Personen einen Schnellkursus erteilt. Über
Lautsprecher fordern sie nun die Einwohner des Städtchens und der
umliegenden Dörfer auf, das Wasser mit Chlor zu versetzen, es
abzukochen, möglichst oft die Hände zu waschen und vor allem nicht
draußen im Freien den Darm zu entleeren. Diese Botschaften strahlt auch
das lokale Radio stündlich aus. Und die Helfer des Arztes gehen von
Haustür zu Haustür, um die Menschen zu überzeugen. Dringendstes
Symptom für Cholera ist extremer Durchfall - oft verlieren die Kranken
binnen weniger Stunden zehn Liter Flüssigkeit. Wird ihnen dann nicht
sofort oral oder intravenös mit Salzen und Zucker versetzte Flüssigkeit
zugeführt, kann der Tod sehr schnell eintreten. "Drei Viertel aller mit
Cholera infizierten Menschen aber zeigen keine Symptome und werden auch
nicht krank", sagt Emilcar. "Doch wenn die hygienischen Umstände
schlecht sind, tragen sie zur Verbreitung des Erregers bei." Noch
ist unklar, wie es geschehen konnte, dass in Haiti erstmals seit mehr
als 50Jahren wieder die Cholera ausbrach, und warum ausgerechnet hier,
in Artibonite. Doch es gibt einen begründeten Verdacht. Er hat zu tun
mit der UN-Blauhelmtruppe Minustah, die rund 9000 Soldaten aus 19
Staaten umfasst. Das nepalesische Minustah-Kontingent hat sein Lager am
14. Oktober etwa 20 Kilometer oberhalb von La Chapelle, direkt am
Artibonite-Fluss, aufgeschlagen. Leute wollen gesehen haben, wie die
Soldaten die Fäkalien ihrer Latrinen in den Fluss kippten. Am 19.
Oktober trat in Artibonite der erste Fall von Cholera auf. Bakteriologische
Untersuchungen hätten ergeben, dass sich die Erreger - vom Camp der
Nepalesen aus gesehen - nur flussabwärts, nicht aber flussaufwärts
nachweisen ließen, berichtet Emilcar. Zudem sei in Nepal im Jahr 2010
eine Cholera-Epidemie ausgebrochen, und das Bakterium sei das gleiche
gewesen. Könnte es nicht auch sein, dass es die Cholera in abgelegenen
Gegenden Haitis immer gab, sie aber unentdeckt blieb, weil die Bauern
ihre Toten verscharrten? Das sei so gut wie ausgeschlossen, erwidert der
Arzt. Der Chef der UN-Mission in Haiti, der Guatemalteke Edmond
Mulet, versicherte hingegen der spanischen Zeitung El País, man habe die
Fäkalien und Abwässer des nepalesischen Lagers untersuchen lassen und
keine Erreger gefunden. Unabhängig von der Querele waschen wenige
Kilometer flussabwärts der nepalesischen Basis Frauen Wäsche zwischen
badenden Kindern. Am schlimmsten in den Slums Im Departement
Artibonite fordert die Cholera jede Stunde neue Opfer. So weit ist es
in der Drei-Millionen-Stadt Port-au-Prince noch nicht. Doch auch die
Hauptstadt, wo die Hälfte der Einwohner seit dem Erdbeben vom
vergangenen Januar in Zelten lebt, vermeldet bereits ihre ersten
Cholera-Toten. Noch herrscht in den Camps keine Panik. Aber die Angst,
das Bakterium könnte sich auch hier unkontrolliert ausbreiten, ist mit
Händen zu greifen. Die hygienischen Bedingungen sind prekär. Doch
zumindest gibt es eine Reihe von Gemeinschaftslatrinen, die Menschen
werden mit Trinkwasser versorgt. Und seit Freitag verteilt das
Gesundheitsministerium auch Chlor und Desinfektionsmittel. Schlimmer
sieht es in den Elendsvierteln aus. In Cité Soleil, dem mit 300000
Einwohnern größten Slum Haitis, hat die Hilfsorganisation "Ärzte ohne
Grenzen" ein Aufnahmelager eingerichtet. Vor dem grünen Stahltor kommt
ein Mann mit einer Schubkarre angerannt. Auf dem Gefährt liegt der
ausgemergelte Körper einer jungen Frau. Ein Mädchen bringt ein Kleinkind
vorbei. Die französischen Helfer prüfen die Fälle und bringen die
Kranken, bei denen Verdacht auf Cholera besteht, in eines der vier
Behandlungszentren, die die Organisation in Port-au-Prince unterhält. An
die tausend Leute werden dort versorgt. In Cité Soleil gibt es
keine Kanalisation. Die allermeisten Häuser haben keine Toiletten und
kein fließendes Wasser. Man lebt auf engstem Raum zusammen. Die Straßen
und Gassen zwischen den Elendsbehausungen sind mit stinkenden Pfützen
übersät, zwischen denen Frauen Suppe kochen, Bananen braten, Mangos und
Orangen schälen. Eine Umgebung wie geschaffen für den Cholera-Erreger. |