Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 03.01.2015
In
Haiti starben vor fünf Jahren bei einem Erdbeben mehr als 200 000
Menschen. Hunderttausende Überlebende haben sich inzwischen außerhalb
der Hauptstadt Port-au-Prince Hütten errichtet. Die Chance aber, ein
anderes Land aufzubauen, ist verpasst worden.
In einem Interview, das in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, am 19.
Dezember 2009 in Le Nouvelliste erschien, fragte der haitianische
Schriftsteller Pierre Clitandre den Geologen Claude Prépetit: "Leben wir
auf einem Pulverfass?" - "Ohne dramatisieren zu wollen", gab der
Fachmann zur Antwort, "das ist nicht übertrieben." Seit Jahren hatte er,
von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, vor einem Erdbeben im
Großraum Port-au-Prince gewarnt. Die Folgen, so prophezeite er im
Gespräch mit dem Schriftsteller, würden - wegen der Wohndichte und der
Bauweise sowie angesichts einer fehlenden Raumplanung und einer
unvorbereiteten Bevölkerung - katastrophal sein.
Weniger als vier Wochen nach der Veröffentlichung des Interviews - am
12. Januar 2010 - bebte in Haiti die Erde. Über 200 000 Menschen
starben, über 300 000 wurden verletzt, 80 000 Gebäude stürzten ein. Und
anderthalb Millionen Menschen verloren ihr Obdach.
Claude Prépetit, inzwischen 63 Jahre alt, arbeitet noch immer im "Büro
für Bergbau und Energie", das dem Ministerium für Bau, Transport und
Kommunikation unterstellt ist. Bloß ist dieses Büro heute in einer
Baracke untergebracht. Nahezu alle Ministerien waren nach dem Beben nur
noch Trümmerhaufen. Auch der Präsidentenpalast und die Kathedrale, die
den Erzbischof unter sich begrub, sind noch nicht wieder aufgebaut.
In haitianischen Ministerien, auch wenn sie Holzbaracken sind, geht es
in der Regel förmlich zu: Vorzimmerdamen, Beamte in weißem Hemd und
Krawatte. Doch Prépetit kommt selbst zum Empfang - in offenem Hemd und
Jeans, mit einem kleinen Rucksack über der einen Schulter. Er breitet
eine geologische Karte von Haiti aus, zeigt die tektonischen Platten,
dann holt er die Karte von Port-au-Prince und Umgebung, fährt mit den
Fingern an den Linien entlang, die die sogenannten Verwerfungen oder
Brüche markieren. Haiti liegt am Rand der Karibischen Platte, die an die
Nordamerikanische Platte angrenzt und jährlich etwa zwei Zentimeter
ostwärts wandert. Diese Bewegung hat zwei Verwerfungen hervorgebracht,
von denen die eine mit einigen Nebenbrüchen just am Südrand von
Port-au-Prince vorbeiführt.
An solchen Verwerfungen sammelt sich die Energie, die sich dann in einem
Erdbeben entlädt, in einem Goudou-goudou, wie die Haitianer in ihrer
lautmalerischen kreolischen Sprache sagen. "Viele haben das Erdbeben als
Strafe Gottes verstanden", sagt Prépetit, "das haben ihnen die Prediger
evangelikaler Pfingstgemeinden eingeredet." Viele der Pfingstler gaben
dem Voodoo, der von den Sklaven einst aus Westafrika mitgebrachten
Religion, die Schuld an der Katastrophe. Der habe einen Pakt mit dem
Teufel geschlossen.
"Die Bewegung der tektonischen Platten kann kein Gebet und kein Fasten
aufhalten, ein Erdbeben ist nicht zu verhindern", sagt Claude Prépetit,
"aber man kann dafür sorgen, dass es möglichst wenig Tote kostet." Das
Erdbeben in Haiti hatte die Stärke 7,0 auf der Richter-Skala. Sechs
Wochen später gab es in Chile ein Erdbeben, Stärke 8,8, aber mit "nur"
577 Toten.
"Mit tropischen Wirbelstürmen und Überschwemmungen haben die Menschen
hier Erfahrung", sagt Prépetit, der bei jedem Satz die Stirn in Falten
legt, "mit Erdbeben nicht, in Port-au-Prince bebte die Erde 1770 zum
letzten Mal." Damals hatte Port-au-Prince, 1749 gegründet, etwa 10 000
Einwohner. Heute leben im Großraum der Hauptstadt über zwei Millionen
Menschen. "Man muss die Verstädterung stoppen, man darf nicht zulassen,
dass immer mehr Menschen ihre Hütten an gefährdeten Berghängen oder an
regelmäßig überschwemmten Küstenabschnitten bauen", sagt der
Wissenschaftler, "man muss diese Leute umsiedeln."
Vor fünf Jahren aber ging es zunächst darum, diejenigen Leute
umzusiedeln, die unter Plastik lebten, über eine Million Menschen. Zelte
standen auf dem Champ de Mars, der großen Parkanlage vor dem
eingestürzten Präsidentenpalast, auf allen Plätzen und Plätzchen der
Hauptstadt, in Vorgärten und auf den Bürgersteigen. Heute sind die Zelte
aus dem Blickfeld weitgehend verschwunden, der Verkehr fließt wie
immer. Die Stadt ist sichtbar verwundet, oft sind die Häuser nur
notdürftig geflickt. Und die Gesellschaft ist traumatisiert. Man hört es
immer wieder. Doch ist auch Normalität zurückgekehrt. Das Leben, der
mühsame Alltag, geht weiter.
Auch Juserelle hat unter Plastik gelebt. Nun sitzt die 22-jährige Frau
vor ihrem schmucken Häuschen in Corail, einem Lager 20 Kilometer
außerhalb von Port-au-Prince, flicht einem Mädchen Dreadlocks und
langweilt sich. Na ja, Häuschen ist etwas übertrieben ausgedrückt. Es
ist ein einziger Raum, 22 Quadratmeter groß, mit vier Holzwänden und
einem Giebeldach und einer kleinen asphaltierten Terrasse. Hier lebt sie
mit ihrer Schwester, dem Schwager und deren drei Kindern. Eine Küche
gibt es nicht und auch kein Bad, keine Dusche und keine Toilette. Seit
über vier Jahren schon wohnt sie hier. Jeder Tag gleicht dem anderen.
Was eine Änderung herbeiführen könnte, weiß sie nicht. Einen Mann
heiraten? Eine Familie gründen? "Ich habe doch kein Geld", sagt sie, "es
gibt hier keine Arbeit, und wie sollte ich die Schule für ein Kind
bezahlen?"
Eval, ihr Nachbar, ebenfalls 22 Jahre alt, sitzt im löchrigen T-Shirt
vor einem blitzblank geputzten Motorrad. Ab und zu macht er sich nach
Port-au-Prince auf, wenn er als Maler über Freunde einen Auftrag kriegt.
Meistens erhält er weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von
umgerechnet 50 Cents die Stunde, und seit anderthalb Monaten hat er
keine Arbeit mehr gefunden. In die Stadt fährt Eval nicht mit seiner
Honda 125. Er geht zu Fuß zur Überlandstraße und nimmt sich dort einen
Tap-tap, einen jener bunt angemalten kleinen Lieferwagen mit offener
Ladefläche, auf der sich die Passagiere auf zwei Holzbänke quetschen.
Das ist billiger, kostet zehn Gourdes, umgerechnet weniger als 20 Cents.
Sein Einzimmerhaus teilt er mit seiner spindeldürren Frau. "Sie hat die
Cholera überstanden", sagt er. Über 8 500 Haitianer hat die vermutlich
von nepalesischen Blauhelmen eingeschleppte Seuche dahingerafft.
Als die Erde bebte, war Eval in Gonaives, einer Stadt 160 Kilometer
nördlich von Port-au-Prince. Der öffentliche Verkehr war
zusammengebrochen, viele Straßen waren nicht mehr befahrbar. Als er fünf
Tage später endlich in der Hauptstadt ankam, erfuhr er, dass man seine
Eltern unter den Trümmern ihres Hauses geborgen hatte. "Wo sie beerdigt
sind, weiß ich nicht", sagt er, "wahrscheinlich irgendwo hier im
Cul-de-Sac." So heißt die weitläufige Ebene, in der Corail liegt und in
die damals Zehntausende Leichen gebracht wurden. Niemand hat die Toten
identifiziert. Es musste alles schnell gehen. Es herrschte tropische
Hitze, und man befürchtete den Ausbruch von Seuchen. Im Cul-de-Sac
liegen auch die Knochen vieler verscharrter Opfer der Duvalier-Diktatur.
Zur Einweihung des Lagers, das in Corail im Frühsommer 2010 errichtet
wurde, kamen der Präsident René Préval und der Hollywood-Star Sean Penn
persönlich. Der Schauspieler, Regisseur und Ex-Mann von Madonna war
schon im Januar, eine Woche nach dem Erdbeben, nach Port-au-Prince
gereist, um zu helfen. Zusammen mit Diana Jenkins, einer Bosnierin, die
1992 aus dem belagerten Sarajevo geflohen war und später einen reichen
britischen Finanzier geheiratet hatte, hatte er das größte von über
hundert Zeltlagern errichtet - an der allerfeinsten Adresse der
Hauptstadt, auf dem Neun-Loch-Golfplatz des Club Pétion-Ville, wo
Diplomaten, Minister und Topmanager zu verkehren pflegten. Noch am Tag
des Erdbebens hatten Obdachlose das Gelände gestürmt. Penn und Jenkins
hatten danach Plastik besorgt, ein Kino, eine Schule, eine Theaterbühne
und auch eine Apotheke eingerichtet. 60 000 Opfer beherbergte
schließlich das Camp, wo auch Penn selbst monatelang lebte - in einem
Zelt wie alle andern auch.
Etwa 5 000 brachen ihre Zelte ab und
siedelten nach Corail um, als man ihnen umgerechnet 400 Euro pro Zelt
anbot und ein Häuschen im neuen Camp in Aussicht stellte.
Corail war ein Vorzeigelager. Saubere Unterkünfte, Pflanzen zwischen den
Häuschen, Mülltonnen. Heute künden verblichene Schilder davon, dass
hier eine Reihe humanitärer Organisationen gearbeitet haben. Doch längst
sind die Leute wieder sich selbst überlassen. Aber immerhin gibt es
Gemeinschaftslatrinen und eine Wasserstelle, eine einzige für das ganze
Viertel. Nur gibt es keine Elektrizität, also kein Fernsehen. Und es
gibt keinen Arzt. Die Schule kostet Geld, etwa zwei Euro im Monat, aber
die Kinder werden wenigstens kostenlos geimpft.
"Als die Ausländer noch hier waren, konnte man sich ein bisschen Geld
verdienen", sagt Eval, "mit der Reinigung des Kanals oder dem Bau von
Latrinen."
Heute hat nur noch der 70-jährige Paul Arbeit. Der hagere
Mann mit altmodischer Brille und gestutztem weißen Bart, seit zwei
Monaten verwitwet, schnitzt mit Hammer und Stemmeisen Masken, Gesichter
mit breiter Nase, strähnigem Haar, verrunzelter Stirn. Das Eichen- und
Nussbaumholz bringt ihm ein Händler vorbei, der auch die Masken abholt -
sie werden an Touristen in Puerto Rico verkauft. Nach Haiti kommen
keine Touristen. Zu schlechte Straßen, zu viel Kriminalität. Es fehlt
jede touristische Infrastruktur.
Noch trostloser als in Corail sieht es in Canaan aus. So haben die
Menschen, die sich hier nach dem Erdbeben niederließen, selbst die
Gegend benannt. Der Name ist der Bibel entnommen. Nach Kanaan, ins Land,
wo Milch und Honig fließen, führte Gott sein Volk Israel, das er aus
ägyptischer Gefangenschaft befreit hatte. Anders als das biblische
Kanaan ist das haitianische Canaan ein völlig ausgetrockneter Berghang
oberhalb von Corail. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren gab es dort
noch Sisalplantagen. Danach wurde das steinige Terrain aufgegeben. Es
wurde zum Refugium von Banditen, die im karstigen Gebiet ihre Geiseln
versteckten, und von Auftragskillern, die ihre Opfer töteten.
Nach der
Erdbebenkatastrophe vor fünf Jahren haben sich in dieser Einöde über 300
000 Haitianer angesiedelt. Ohne jede Hilfe von außen, ohne
Unterstützung humanitärer Organisationen haben sie sich in dieser kargen
Landschaft Hütten gezimmert.
Aber viele, wahrscheinlich die meisten sind gar nicht Opfer des
Erdbebens, sondern konnten einfach ihre Wohnung in der Stadt nicht mehr
bezahlen, wollten der Enge der großen Slums von Port-au-Prince entkommen
oder sind aus fernen Landesteilen hierher gezogen, um in der nahen
Zweimillionenmetropole irgendein Auskommen zu finden.
Jede Hütte ein
Schicksal.
Asefi wurde mit seiner Frau und seinen vier Kindern auf die Straße
gesetzt und schnitzt nun vor seiner Wellblechhütte mit einem scharfen
Messer Plastiksandalen, die er manchmal einem Zwischenhändler verkauft,
manchmal selbst in die Stadt bringt. Gabriel ist Schreiner und in Cité
Soleil, der größten Elendssiedlung der Hauptstadt, aufgewachsen. Sie
wird seit langem schon von Drogenbanden kontrolliert. "Ich lebte dort
mit meinem Bruder, dessen Kindern und meinen eigenen zusammen", sagt der
praktizierende Katholik, "mein Bruder hat sich einer Gang
angeschlossen. Ich wollte nicht, dass meine Kinder in diesem Milieu groß
werden." Er hat sich für 1 000 Gourdes, etwa 20 Euro, eine Solarzelle
gekauft und liest jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit in der Bibel.
Canaan ist ein endloses Meer von Bruchbuden und Hütten, die man auf
schmalen Pfaden erreicht. Es gibt keine Elektrizität. Tankwagen bringen
Trinkwasser in die Gegend. Es gibt Privatschulen, aber keine öffentliche
Verwaltung, kein Krankenhaus, nur irgendwo einen verlorenen
Polizeiposten, der leer steht.
"Es gibt keinen Plan des Wiederaufbaus, kein Projekt, das diskutiert
wird, es gibt keine politische Öffentlichkeit", schimpft Gérard-Emile
Brun, ein bulliger Mann mit Bart und Brille, in seinem klimatisierten
Büro, das sich in einer Baracke der Hauptstadt befindet, "in diesem Land
kann jeder - ob Priester oder Sänger - Präsident werden." Der
Armenpriester Jean-Bertrand Aristide musste als Präsident, tief
verstrickt in Korruption, einst vor einem Volksaufstand ins Ausland
flüchten. Heute ist der Sänger Michel Martelly Präsident. Erfahrung in
Politik und Verwaltung hatte er keine, als er vor drei Jahren seinen
Amtseid leistete.
Brun, 67 Jahre alt, zückt vier Visitenkarten. Er ist Vizepräsident des
nationalen Verbands der Ingenieure und Architekten Haitis, Präsident der
haitianischen Vereinigung der Architekten und Urbanisten, Vizepräsident
des Bauunternehmens Tecina und Geschäftsführer der
Immobiliengesellschaft Nabatec, der das Gelände von Canaan zum größten
Teil gehört. Sie hatte es lange vor dem Erdbeben gekauft.
Der Plan mit roten, blauen, gelben und grünen Flächen, den Brun auf dem
Tisch ausbreitet, stammt von 1999 und ist mit "Integrierte
wirtschaftliche Entwicklungszone" überschrieben. Eingezeichnet sind:
Wohnviertel, Sozialwohnungen, Handelszentrum, Fußballakademie, Schulen,
Universität und Krankenhaus, privater Industriepark, koreanischer
Industriepark.
All dies sollte just da gebaut werden, wo heute
Zehntausende von Bruchbuden stehen. "Ein koreanisches Unternehmen hat
bereits ein Stück Land gekauft", beteuert Brun, "mit vielen andern
ausländischen Firmen standen wir in Verhandlungen." Die Weltbank wie
auch die haitianische Regierung hätten das Projekt unterstützt,
behauptet er.
Doch dann zerstörte das Erdbeben Port-au-Prince, und die Regierung
erklärte Teile der Zone zum "Terrain öffentlichen Nutzens". Weithin wird
vermutet, dass die damalige Regierung unter Präsident René Préval das
beschlagnahmte Land an Parteigänger vergab.
"Heute herrscht in Canaan
eine Mafia. Wer hier bauen will, muss ihr ein Stück Boden abkaufen",
erklärt Brun. Vom Staat verlangt der Architekt, Ingenieur und
Bauunternehmer nun eine Entschädigung. Seine Gegner werfen ihm deshalb
vor, er wolle aus der Katastrophe Kapital schlagen. "Ich hätte in den
USA oder in Europa alle Chancen gehabt, gutes Geld zu verdienen, ein
bequemes Leben zu führen", sagt Brun, in dessen Büro viele
Auszeichnungen hängen und auch ein Diplom der Columbia University von
New York, "aber ich habe mich für Haiti entschieden."
In Corail sind sich die Leute selbst überlassen, in Canaan herrscht eine
Mafia, aber wenigstens in Lumane Casimir, benannt nach einer populären,
vor 60 Jahren an Tuberkulose gestorbenen haitianischen Sängerin, schien
die Regierung einen Erfolg vorzeigen zu können. Die Siedlung wurde von
der Regierung im März 2013 gegründet und bot 112 Familien, die ihr
Obdach verloren hatten, ein neues Heim. Im Dezember erhielten weitere 50
Personen ihre Hausschlüssel: Alle waren behindert, manche waren blind,
die andern hatten - als Folge des Erdbebens - nur noch ein Bein oder
einen Arm.
Doch im Sommer kam es zu Unruhen in Lumane Casimir. Zunächst hatte die
Regierung eine Monatsmiete von 2 500 Gourdes (40 Euro) festgelegt. Auf
Intervention von Präsident Martelly, der höchstpersönlich vor Ort
auftauchte, wurde die Miete im April auf 1 500 gesenkt. Als die
Gemeindebehörde von Croix-les-Bouquets, zu der die Siedlung gehört,
einen Monat später trotzdem 2 500 Gourdes forderte, begehrten die
Bewohner auf. "Im September kam die Polizei, zerstörte mein Haus und
schlug mich zusammen", sagt die 50-jährige Guerdine Dauphinay, die nur
noch ein Bein hat, in einem Café von Port-au-Prince. Der blinde Pierre
Molière, der sich auf einen weißen Stab stützt, pflichtet ihr bei. Ihm
sei dasselbe geschehen. Sie beide hätten die Proteste organisiert.
"Als Johnny, mein Sohn, mich besuchen wollte", berichtet Dauphinay
weiter, "wurde er von der Polizei angehalten, verprügelt und ins
Gefängnis gebracht." Bei einem Ausbruch sei er angeschossen worden. Nun
liege er angekettet im Zentralkrankenhaus im Stadtzentrum.
Verletzt und
angekettet im Krankenhaus? "Sie glauben mir nicht? Fahren Sie hin", sagt
die Frau gekränkt, "hier ist sein Name."
Johnny hat kein Einzelzimmer. Etwa 20 Patienten liegen im Raum. Fast
alle haben sie Schusswunden, die meisten sind wohl Opfer der Gewalt in
den Armenvierteln. Johnnys rechter Unterschenkel liegt in einer
Metallschiene. Der 28-Jährige zeigt die Röntgenbilder seines
zerschossenen Schienbeins. Sein linkes Bein liegt an einer schweren
Eisenkette, die am Bett, ebenfalls aus Eisen, festgemacht ist. Johnny
ist Generalsekretär des Marché de Fer, des Eisenmarktes im Zentrum der
Hauptstadt, so benannt nach seiner gusseisernen Struktur. Er erzählt die
gleiche Geschichte wie seine Mutter. Seine Frau, die gekommen ist, um
ihm Essen und frische Bettlaken zu bringen, nickt stumm.
Ein Menschenrechtler, der den Fall untersucht hat, erklärt auf Anfrage,
Johnny sei der eigentliche Anführer der Proteste in Lumane Casimir
gewesen. Im Übrigen sei der Ausbruch aus dem Zentralgefängnis von
Port-au-Prince, bei dem 329 Häftlinge entwichen, von der
Gefängnisleitung auf Wunsch hoher politischer Stellen arrangiert worden,
um den schwerreichen Geschäftsmann Clifford Brandt entweichen zu
lassen, der wegen Erpressung eines Bankiers einsaß.
"Was hier passiert",
so kommentierte Präsident Martelly den Massenausbruch aus dem
Gefängnis, "zeigt die Schwäche unserer Institutionen." Ob er selbst an
ihrer Stärkung interessiert ist, darf allerdings bezweifelt werden.
Seit drei Jahren sind Parlamentswahlen überfällig. Wenn sie bis zum 12.
Januar nicht stattfinden - und sie werden nicht stattfinden - , dann
muss das Parlament laut Verfassung aufgelöst werden. Dann müsste der
Präsident per Dekret regieren. Damit habe er nun wirklich überhaupt kein
Problem, verkündete Martelly, ein Land müsse schließlich regiert
werden.
Martelly wurde 2011 ganz offensichtlich nicht wegen eines Programms oder
politischer Fähigkeiten zum Präsidenten gewählt, sondern weil er ein
populärer Komponist und Sänger der haitianischen Kompa ist, einer Musik,
die auf der Tanbou, der traditionellen Fasstrommel, begleitet wird.
Gewiss gereichte ihm auch zum Vorteil, dass er nicht der politischen
Klasse des Landes entstammt. Im vergangenen Mai gründete Martelly seine
Partei Tèt Kale, das ist kreolisch und heißt auf Deutsch: "rasierter
Schädel" oder kürzer "Glatze". Tèt Kale nannten ihn zunächst seine Fans,
weil er tatsächlich keinen Millimeter Haarwuchs zulässt. Tèt Kale nennt
er sich längst selbst. Tèt Kale heißt er auch oft in der Presse. Und im
Zentrum von Port-au-Prince verkünden große Spruchbänder: "3 lane
pwogrè, tèt kale" - "drei Jahre Fortschritt mit Tèt Kale".
Zumindest ist der Schutt weggeräumt. 20 bis 25 Millionen Kubikmeter
Schutt sind ja nicht wenig. Und die Zelte stehen nicht mehr. Der
Eisenmarkt, dessen Generalsekretär im Krankenhaus angekettet ist, steht
wieder in alter Pracht da samt seinen vier markanten Glockentürmen. Er
war 1890 in Paris als Bahnhofshalle für Kairo entworfen, dann aber nach
Haiti verkauft worden. Bei einem Brand wurde im Jahr 2008 ein Flügel des
Markts zerstört. Nach dem Erdbeben blieb eine Ruine zurück. Heute
verkaufen die Händler wieder Gemüse und Parfüm, Früchte und Gemälde,
Säfte, Holzkrücken, Bibeln und allerlei Voodoo-Utensilien. Alles dank
der Großzügigkeit von Denis O'Brien, dem irischen Besitzer von Digicel,
einem Konzern, der in der ganzen Karibik Handy-Netze unterhält und sich
den Wiederaufbau des Eisenmarkts zwölf Millionen Dollar kosten ließ.
Aber sonst ist nicht viel wiederaufgebaut. Von der Kathedrale steht noch
immer nur die beschädigte Frontfassade. Der blütenweiße
Präsidentenpalast, der nach dem Erdbeben wie ein riesiges zerquetschtes
Insekt im Champ de Mars lag, ist neugierigen Blicken durch eine grüne
Absperrung vollkommen entzogen. Statt auf Neubauten trifft man im
Zentrum vor allem auf "tôle rouge" - rotes Stahlblech, das Ruinen oder
Baustellen, auf denen nicht gearbeitet wird, abschirmt. Rotblech ist im
haitianischen Alltag längst zur Metapher geworden. "Er schafft Rotblech"
heißt "Er liegt auf der faulen Haut." "Er redet Rotblech" heißt "Er ist
ein Schwätzer".
Trotzdem, Port-au-Prince erhält ein neues Zentrum. Da, wo einst
neoklassizistische Fassaden standen, verkünden fünf Jahre nach dem
Erdbeben große Tafeln: "Hier entsteht der Verfassungsgerichtshof: drei
Stockwerke, 2 368 Quadratmeter Büros" oder "Hier entsteht die zentrale
Zollverwaltungsbehörde, sieben Stockwerke, 7 000 Quadratmeter Büros".
Und der Schutt an der Rue du Champ de Mars ist nicht ein Überbleibsel
des Erdbebens. Nein, hier wurden Häuser abgerissen, um eine
Regierungsmeile und ein modernes Geschäftszentrum zu bauen, ein
"Port-au-Prince Downtown", wie böse Zungen spotten. Nur wer seinen
Besitz nachweisen konnte, wurde entschädigt. Aber da es kein Kataster
gibt und viele Dokumente beim Erdbeben zerstört wurden, gehen viele leer
aus.
Der Unmut ist groß.
Der Unmut ist umgekehrt proportional zur Transparenz. "Niemand weiß, wer
was aufbaut", ereifert sich Régine, eine Urbanistin, die es eigentlich
wissen müsste. Sie arbeitet in einer staatlichen Institution, die sich
mit der Wiederherstellung von Straßen, Elektrizitätsnetz und
Wasserleitungen befasst. Weder ihren Familiennamen noch den Namen ihrer
Institution möchte sie publiziert sehen. Sie fürchtet um ihren Job. Dass
die direkt dem Premierminister unterstellte oberste Wiederaufbaubehörde
UCLBP Journalisten gegenüber dichtmacht, wundert sie nicht. "Ich weiß
selbst nicht, wer das neue Wirtschaftsministerium baut", sagt sie, "es
gibt Gerüchte, der Auftrag sei längst an Chinesen gegangen. Und wer baut
die Kathedrale wieder auf? Niemand weiß es."
Die Vereinigung der
haitianischen Architekten und Urbanisten, der haitianische Verband der
Bauunternehmer, die "Bewegung für ein schönes Haiti", zu der sich 120
Vereine und Organisationen der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen
hatten, die eine öffentliche Diskussion über den Wiederaufbau forderte -
alle fühlen sich übergangen.
Während in den ersten zwei Jahren vor allem internationale Geldgeber den
Wiederaufbau finanzierten - "zwölf Milliarden Dollar waren versprochen,
vier Milliarden kamen an", sagt Präsident Martelly -, schöpft die
Regierung heute vor allem aus dem Fonds von Petrocaribe, Venezuelas
Erdölprogramm für die Karibik. "Es gab und gibt keine öffentlichen
Ausschreibungen", sagt Régine, "es herrscht Ausnahmezustand, also
vergibt die Regierung die Aufträge direkt."
Den großen Reibach machen
Firmen aus der Dominikanischen Republik. Allein Félix Bautista, Senator
im Nachbarstaat, hat für seine verschiedenen Baufirmen Aufträge in Höhe
von 385 Millionen Dollar ergattert. In Santo Domingo ermittelt der
Generalstaatsanwalt gegen den Milliardär wegen Geldwäsche und
Korruption. Seine Immunität wurde im Oktober aufgehoben. Dutzende Villen
und Häuser in seinem Besitz wurden beschlagnahmt. Bautista wird zudem
verdächtigt, den Wahlkampf von Präsident Martelly mit 2,6 Millionen
Dollar unterstützt zu haben, um sich später dann Aufträge zu sichern.
Mitte Januar soll das Verfahren eröffnet werden. In Port-au-Prince
munkeln viele, dass auf verschiedenen, mit rotem Blech abgeschirmten
Baustellen die Arbeit wegen des Prozesses gegen den Bauherrn ruht.
Aber man darf nicht ungerecht sein", sagt Régine, "Haiti musste vor
fünf Jahren buchstäblich bei Null anfangen." Die Verwaltung lag am
Boden, viele Beamte waren tot, die Ministerien eingestürzt. Vieles wurde
repariert: Straßen, Häuser, Telefonleitungen, Wasserröhren, Schulen,
und höchstens 100 000 Menschen von einst anderthalb Millionen wohnen
noch in Zelten. Überall in Port-au-Prince trifft man auf Baustellen.
Neue Viertel sind entstanden.
Zum Beispiel Jalousie, das an einem Berghang über Port-au-Prince liegt.
Von ferne ein malerischer Stadtteil, Gebäude in allen Farben stapeln
sich übereinander. "Viele haben da einfach Häuser auf Land gebaut, das
ihnen gar nicht gehört", sagt Régine, "und oft haben sich die wirklichen
Besitzer des Bodens die illegale Bebauung versilbern lassen."
"Das Bauministerium hat zwar klare Vorschriften zur erdbebensicheren
Bauweise herausgegeben, aber niemand kontrolliert, ob sie eingehalten
werden, schon deshalb werden sie nicht beachtet", sagt Claude Prépetit.
Vier Wochen vor dem 12. Januar 2010, dem Tag, an dem mehr als 200 000
Menschen starben, hatte der Geologe im Interview mit dem Schriftsteller
Clitandre vom Pulverfass gesprochen, auf dem die Hauptstadtbewohner
lebten. "Käme es heute zu einem Erdbeben", warnt er, "würde sich die
Katastrophe wiederholen."
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