Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.09.2012
In einem abgelegenen Tal im Piemont treffen sich Kaminfeger aus
aller Welt. Sie gedenken der Kinder, die einst zum Säubern
der Schlote durch Europa zogen.
VAL VIGEZZO. Kastanienwälder vor
sich auftürmenden Bergketten, Dörfer mit engen Gassen, alte Häuser mit
Dächern aus grauem Granit, nur hier und da ein
herrschaftliches Gebäude mit Stuck und Resten farbiger Fresken, das
davon zeugt, dass ein Emigrant es einst in der Ferne zu etwas Wohlstand
gebracht hat. Das Val Vigezzo, ein Tal in den italienischen Alpen, im
Piemont, an der Grenze zum Schweizer Tessin, trägt den Beinamen
Valle dei Pittori, Tal der Maler. Von der Natur mit Schönheit
gesegnet, hat es viele Künstler hervorgebracht und viele Touristen
angezogen. Das ist die eine, die helle Seite des Tales. Die andere
Seite, die dunkle, gehört heute weitgehend der Vergangenheit an. Aber
einmal im Jahr, in den ersten Septembertagen, wird ihrer gedacht.
Auch Takeo Onozowa ist nach Malesco gekommen, in eines der sieben
Dörfer des Val Vigezzo. Sein Gesicht hat er mit Ruß geschwärzt. E
in
am Hinterkopf verknotetes Tuch bedeckt Stirn und Haupthaar. An der
Jacke zeigt ein aufgenähter Sticker einen schwarzen Mann mit Leiter.
Onozawa hat für jeden ein freundliches Lächeln. Er blinzelt in die
Sonne. Dann schaut er zum Jüngling hoch, der auf einem Sockel in Granit
gehauen vor ihm steht. Es ist Faustino Cappini. Er trägt einen Hut
mit breiter Krempe. An seiner Schulter hängt ein Besen, in der linken
Hand hält er ein Seil, die rechte ist tief in die Hosentasche vergraben.
Seine Füße stecken in klobigen Schuhen. "Umile spazzacamino" steht
unter dem Denkmal: Ärmlicher Schornsteinfeger.
Cappini ist 1931 im Alter von 14 Jahren in Mailand gestorben. Er
war, wie damals üblich, unten in den Rauchfang eingestiegen, hatte sich,
mit einer Raspel den Ruß abkratzend, hochgearbeitet und, oben
angekommen, auch dies üblich, den Arm aus dem Kamin gestreckt, um dem
Padrone zu zeigen, dass er die Arbeit erledigt hatte. Doch berührte
er dabei versehentlich eine Hochspannungsleitung. Er war sofort tot.
Oder er ist - so die prosaische Version - einfach auf dem Dach
ausgeglitten und abgestürzt, wie so viele andere vor ihm auch.
Takeo Onozawa ist aus Nagano, einer Großstadt im fernen Japan, ins
kleine Bergdorf Malesco gekommen. Vom internationalen Treffen der
Schornsteinfeger hat er über Facebook gehört. Nun steht er
zusammen mit über 700 "schwarzen Männern" aus 17 Ländern vor dem Denkmal
des jungen Cappini. Es ist eine bewegende Szene.
Jahrhundertelang verlief die Reise der schwarzen Männer in
umgekehrter Richtung. In Santa Maria Maggiore, dem Nachbardorf von
Malesco und Hauptort des Val Vigezzo, berichtet das Museo dello
Spazzacamino, das Museum des Schornsteinfegers, von der tristen
Geschichte des Tals. Schon im Jahr 1538 schrieb der Schweizer Chronist
Aegidius Tschudi: "Im Val Vejetz sind alle Kaminfeger, die nach
Neapel, Sizilien, Frankreich und Tütschland ziehen." Und sein
deutscher Kollege Johannes Stumpf zeichnete bereits um die Mitte des
16. Jahrhunderts eine Landkarte, auf der das heutige Val Vigezzo
"Kämifegertal" heißt.
Stockfinster, kalt und dreckig
Bis weit
ins 20. Jahrhundert hinein reisten Padroni, Brotherren also, ins
Tal und suchten arme Familien auf, die bereit waren, ihnen für ein paar
Lire ein Kind für ein halbes Jahr zu überlassen, in der Regel
von Oktober bis Ostern, wenn in den Bergen wenig Arbeit anfiel. Viele
Familienväter - die Mütter hatten wenig zu sagen - vermieteten ihre
Söhne gern, schon weil dann ein Mund weniger zu füttern war. Manche
gaben ihre Sprösslinge auch für drei, vier oder fünf Jahre ab, wenn es
um Arbeit in Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland, England oder
gar in Übersee ging. Es herrschte eine unbeschreibliche Not im Tal.
Sechs bis zwölf Jahre alt waren in der Regel die Spazzacamini, die mit
den Padroni durch die Lombardei und das Piemont zogen, um
Schornsteine zu reinigen. Ihre schmächtigen Körper schlüpften durch
Kamine, in denen ein Erwachsener steckengeblieben wäre.
Carlo
Mattei gehört zu den ganz wenigen noch lebenden Männern im Val Vigezzo,
die als Kind in die Rauchfänge gestiegen sind. Dem 77-jährigen Maler
sieht man das Alter nicht an. Und nichts am rüstigen Rentner mit dem
schelmischen Blick deutet auf seine schwere Jugend hin. Er lädt zu
einem Gläschen Wein in der nächsten Bar ein und erzählt seine
Geschichte. Sie scheint ihn heute zu amüsieren. Manchmal, sagt er
lachend, könne er selbst nicht mehr glauben, was er alles durchgemacht
hat.
"Wir wanderten durch die Städte und Dörfer der Po-Ebene und
schrien 'Spazzacaminooooo!' durch Straßen und Gassen, um
unsere Dienste anzubieten. Es war eine grausame Arbeit. Wir schliefen
in Ställen, waren oft tagelang durchnässt, froren, hatten
Hunger - und dann der mühsame Aufstieg durch den Schornstein. Im
Kamin gibt es keine Leiter, keine Stufen, nur rußverschmierte Wände.
Ellbogen, Knie und Rücken gegen das Mauerwerk gepresst, robbt man sich -
immer mit der Raspel den Ruß wegkratzend - den Schornstein hoch."
Heute komme ihm all dies, sagt er, wie ein ferner Traum vor. Ein
Albtraum, der acht Jahre gedauert hat.
Mattei war zwölf Jahre
alt, als er die Schule verließ, um mit dem Vater durch die Lombardei und
das Piemont zu ziehen. "Mein Vater hatte ein weit schwereres
Schicksal als ich", sagt er, "er wurde im Alter von neun Jahren einem
Padrone übergeben. Man muss sich das mal vorstellen: Ein Kind wird von
einem Tag auf den andern aus der Familie gerissen und ist schon kurz
danach allein in einem Schornstein. Da ist es stockfinster. Man
sieht nichts. Man spürt nur das kalte, dreckige Mauerwerk und riecht den
Ruß, glaubt zu ersticken."
Im Schaufenster von Matteis Atelier in
Santa Maria Maggiore hängen Ölgemälde: Stilleben, Blumensträuße,
friedliche Landschaften. Im hinteren Raum gibt es auch andere Bilder. Es
sind Jugenderinnerungen: Partisanen schneiden italienischen Mädchen
und Frauen, die mit deutschen Besatzungssoldaten angebändelt haben, die
Haare ab. Männer werfen Handgranaten in den Fluss, um danach die toten
Fische einzusammeln. Und dann sind da noch die Bilder von Kindern mit
rußgeschwärzten Gesichtern und bald ausdruckslosem, bald wirrem
Blick. Alle tragen sie einen breitkrempigen Hut und den runden
Stoßbesen, das typische Arbeitsgerät des Schornsteinfegers.
"Im Santa Maria Maggiore wusste damals niemand, dass ich als
Spazzacamino durch die Ebene gezogen bin", sagt Mattei, der in einem
Weiler außerhalb des Dorfes wohnte, "ich habe mich abgrundtief geschämt
und es niemandem erzählt. Ich fühlte mich als den letzten
Dreck, und ich war ja auch immer dreckig, so stinkend vor Schmutz,
dass mich sogar die Läuse verschont haben. Und welches Mädchen
wollte sich schon mit so jemandem einlassen? Geheiratet habe
ich erst mit 30." Bis zum Militärdienst arbeitete Mattei als
Schornsteinfeger. Dann emigrierte er in die Schweiz, arbeitete als
Maurer, gründete eine Baufirma, bevor er sich schließlich ganz der
Kunst verschrieb, Maler und Bildhauer wurde.
Zwei Häuser hinter
Matteis Atelier befindet sich eine kleine Buchhandlung. Sie ist gut
sortiert: hier Reiseführer, dort Kochbücher, daneben Literatur. Über
einem Regal steht "Mazzi". Der 74-jährige Benito Mazzi ist der
Chronist des Val Vigezzo. Er war 30Jahre lang Chefredakteur der
regionalen Zeitung und hat 48 Bücher über das Tal, seine Kultur und
Traditionen geschrieben. Sie füllen ein ganzes Regal.
Mazzi hat
viel Geschichte und viele Geschichten zusammengetragen, auch jene
vom kleinen Spazzacamino, der im Louvre zu Paris, damals Residenz des
Königs, den Kamin fegte und aus Versehen Zeuge eines Gesprächs von
Verschwörern wurde, die Ludwig XIII. nach dem Leben trachteten. Die
Konspiration flog auf, weil der Junge aus dem Val Vigezzo den König
warnen ließ. Zum Dank erlaubte Ludwig XIII. drei Gemeinden des
Kaminfegertals freien Handel in ganz Frankreich. Die entsprechenden
Urkunden werden heute im Bürgermeisteramt von Villette, einem
Dörfchen oberhalb von Malesco, aufbewahrt. Eine Legende? Im Val
Vigezzo wird man schwerlich jemanden finden, der den Wahrheitsgehalt
der Geschichte anzweifelt.
In jahrzehntelanger Arbeit
hat Mazzi das Leben der Spazzacamini des Val Vigezzo erforscht. Er
traf noch eine Reihe alter Schornsteinfeger, die eine grausame
Kindheit hatten. "Doch es war schwierig", sagt er, "kaum einer wollte
über seine Vergangenheit reden, alle haben sie sich für ihre Armut
geschämt. Heute aber kommen Schornsteinfeger aus aller Welt nach
Malesco und Santa Maria Maggiore, und im ganzen Tal ist man stolz auf
die Väter, Großväter und Urgroßväter, die durch die Kaminschlünde
gekrochen sind." Mazzi hat ein gespaltenes Verhältnis zum
internationalen Treffen der Schornsteinfeger. "Die Kaminfeger von heute
haben nichts mehr mit den Spazzacamini gemein", sagt er, "die haben
doch heute Laptop und fahren BMW." Auf der andern Seite freut es ihn,
dass so viele Schornsteinfeger ins Val Vigezzo gekommen sind
und sich mit der Geschichte ihres Berufsstands auseinandersetzen.
In Santa Maria Maggiore, das nur 1300 Einwohner zählt, herrscht
ein Sprachengewirr wie beim Turmbau von Babel. Allein aus Deutschland
sind über 200 Schornsteinfeger angereist. Johann, der alte Bayer mit
Fahrrad und Leiter, weiß schon nicht mehr, wie oft er hier war. Eine
Gruppe Auszubildender aus Düsseldorf schlendert durch die Hauptgasse.
Eine junge Frau mit blondem Haar trägt ein schwarzes T-Shirt mit der
Aufschrift "Leipziger Fegerfrauen". Die Bars und Restaurants sind
voll. Auf der Piazza wird getanzt.
Auch Kristian Budach ist ins
Val Vigezzo gekommen. Natürlich in seiner schwarzen Arbeitskluft.
Der 26-jährige Berliner Schornsteinfeger ist seit drei Jahren Geselle
und macht demnächst seine Meisterprüfung. Er arbeitet im
Kehrbezirk Tempelhof. Auch sein Vater und sein Onkel sind
Schornsteinfeger, der Großonkel war Obermeister der Berliner Innung.
Vom Treffen in Santa Maria Maggiore hat Budach über Freunde
erfahren. Er ist zum ersten Mal in Italien. Natürlich hat er auch
vor dem Denkmal des verunglückten Cappini in Malesco gestanden und
das Schornsteinfegermuseum besucht. "Man sieht sich danach doch als
Teil einer größeren Gemeinschaft mit einer langen Geschichte", sagt er,
beeindruckt von den Bildern extremer Armut vor noch gar nicht so
vielen Jahren.
Mit Besen und Sonde
Gewiss, vieles hat sich
geändert. Budach hat nach dem Abitur einedreijährige Fachausbildung
absolviert. Ausdrücke wie Mängelmeldung, Vorabbescheinigung,
Endabnahme gehören zu seinem Alltagsvokabular.
Umweltschutz und Energieeinsparung sind Teil seines
Aufgabenbereichs. In einen Kamin musste er nie kriechen. Aber auf Dächer
steigt man als Schornsteinfeger auch heute noch. "Besen und Kugel sind
noch immer der beste Weg, einen Schornstein sauberzukriegen", sagt
er, "und natürlich hat man danach oft ein schwarzes Gesicht."
Mit
verrußtem Gesicht schlendert ein Mann in braunen Kleidern durch
Santa Maria Maggiore. Er scheint dem Museum entsprungen zu sein.
Doch er trägt seine gewöhnliche Arbeitskleidung. Es ist Livio Milani
aus dem Valle Cannobina, einem Seitental des Val Vigezzo. Als Kind ist
er noch wenige Male in den Kamin gestiegen. Heute reinigt er die
Schornsteine von oben - mit Stoßbesen, Kugel und Seil. Wenn ihm
etwas ungewöhnlich erscheint, lässt er eine Sonde in den
Schlot hinunter, um Videoaufnahmen zu machen. Die Zeiten haben
sich eben geändert.
Die Rückseite von Milanis
Visitenkarte nimmt ein Foto mit einem knienden
Schornsteinfeger ein. Es ist Franco Milani, Livios Vater. Er kannte noch
das Schicksal des Spazzacamino, der frierend und hungernd durch die
Ebene zog. Im vergangenen Jahr erst ist er gestorben. Bis zu seinem
Tod war er Präsident der Nationalen Vereinigung der Schornsteinfeger
Italiens. Nun hat Livio seine Nachfolge angetreten. Und deshalb
führt er auch den Umzug von über 700schwarzen Männern an, die unter dem
Applaus der lokalen Bevölkerung - nach Nationen getrennt in
Blöcke geordnet - durch die Gassen von Santa Maria Maggiore ziehen,
vorbei an der Ehrentribüne auf der Piazza, wo der Bürgermeister neben
dem Präsidenten des Piemont Platz genommen hat. Hoch oben, über
den beiden, auf dem Dach des alten Gerichtsgebäudes, winkt ein
schwarzer Schornsteinfeger, seine Leiter um den Arm geklemmt.
Vorn im Zug marschieren die Italiener, dann folgen die Rumänen, die
Esten, die Dänen, die Schweden, die Norweger, die Belgier, die
Finnen, die Engländer, die Franzosen, die Österreicher, die
Holländer (in Weiß), die Schweizer, die Deutschen (der größte Block),
die Schotten (in Röcken), die Litauer und an zweitletzter Stelle
vier Amerikaner (aus New York und Chicago). Ganz am Schluss
schreitet - freundlich lachend - Takeo Onozawa aus Japan mit seiner
kleinen Tochter. Er erhält den lautesten Beifall.
© Berliner Zeitung
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