Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 26.11.2014
Moldau
steht vor einer Schicksalswahl. Am Sonntag wird ein neues Parlament
bestimmt. Die Republik, eingeklemmt zwischen Rumänien und der Ukraine,
muss sich entscheiden zwischen der EU und Putin
CHISINAU. Das schwere Eisentor öffnet sich und gibt den Blick auf den
Tunnel frei. Der Minibus saust in den Berg, zu einer der größten
unterirdischen Städte der Welt. An wichtigen Kreuzungen sorgen Ampeln
dafür, dass es nicht zu Verkehrsunfällen kommt. Die Straßen heißen
Boulevard Merlot, Rue Chardonnay oder Rieslingstraße. Doch sie sind
nicht von Häusern gesäumt, sondern von riesigen Fässern und endlosen
Reihen von Flaschen. "Es sind über 1,2 Millionen", behauptet Aurelia,
die junge Frau, die Touristen durch das Labyrinth führt. Sie trägt eine
dicke Steppjacke. Es ist recht kühl im Untergrund.
Der gigantische Weinkeller liegt in Cricova, fünfzehn Kilometer
außerhalb von Chisinau, der Hauptstadt von Moldau. Ursprünglich war hier
eine Kalkmine. Die 120 Kilometer Stollen wurden von deutschen
Kriegsgefangenen gegraben. 80 Kilometer des verzweigten Tunnelsystems
dienen heute der Lagerung von Wein. Im Kalkgestein, 75 Meter unter der
Erdoberfläche, bei einer jahraus, jahrein gleichen Temperatur von
dreizehn Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 97 Prozent, herrschen
ideale Bedingungen für den Rebsaft.
Auch Angela Merkel und Wladimir Putin haben hier Wein gelagert, jeweils
ungefähr dreihundert Flaschen, mit denen sich Moldaus Regierung für
Staatsbesuche bedankte. Ihre beiden beschrifteten Fächer liegen keine
fünf Meter auseinander. Ein anderes Fach trägt den Namen Hermann Göring
und birgt rund vierhundert Flaschen: weißer Moselwein, Jahrgang 1935,
von Soldaten der Roten Armee als Kriegsbeute abtransportiert. Heute sind
sie wohl ungenießbar - und trotzdem einige Millionen wert. Wie auch der
"1er cru classé" aus dem Weingut Château Mouton-Rothschild bei
Bordeaux, Jahrgang 1936, der eine Straße weiter gelagert ist. "6 000
Dollar die Flasche", schätzt Aurelia. Das ist so viel, wie sie in zwei
Jahren verdient.
In den Degustiersälen mit Interieur aus Glamour und Kitsch haben
Berühmtheiten aus aller Welt an edlen Tropfen genippt, unter ihnen Juri
Gagarin, der erste Mensch, der sich in den Weltraum katapultieren ließ.
Er sagte später, es sei ihm leichter gefallen, die Erdanziehungskraft
hinter sich zu lassen als den Weinkeller von Cricova.
Gebeutelt von Embargos
Die Stadt erinnert an die guten alten Zeiten, als Moldau, heute das
ärmste Land Europas, eine der reichsten Republiken der Sowjetunion war.
Das kleine Land produzierte mehr Wein für die UdSSR als jede andere
Sowjetrepublik. Bis 2005 wurden noch 85 Prozent des moldauischen Weins
nach Russland exportiert. 70 Prozent des dort getrunkenen Weins kamen
aus Moldau, 2012 waren es aufgrund russischer Restriktionen nur noch 22 Prozent.
Im vergangenen Jahr hat Russland ein Embargo gegen moldauischen Wein
verhängt, das noch immer in Kraft ist. Der Leiter der russischen
Aufsichtsbehörde für Lebensmittelqualität erklärte den Schritt damit,
die moldauischen Weine würden die hygienischen Anforderungen nicht mehr
erfüllen. Seit diesem Jahr sind auch Fleischimporte wegen Nichtbeachtung
der russischen Veterinär- und Sanitärauflagen untersagt. Obst und
Gemüse darf Moldau ebenfalls nicht mehr nach Russland exportieren. Die
russischen Qualitätsstandards lassen es angeblich nicht zu. Für den
kleinen Agrarstaat sind die wirtschaftlichen Folgen hart.
Die wahren Gründe für die russischen Maßnahmen liegen auf der Hand. Mit
dem Weinembargo wollte der Kreml Moldau vor einer weiteren Annäherung an
die Europäische Union warnen. Die jüngsten Exportverbote sind eine
direkte Antwort auf das im Juni unterzeichnete Assoziationsabkommen
zwischen der EU und Moldau, das in Kraft treten wird, sobald es von den
Parlamenten der 28 EU-Staaten ratifiziert ist.
Wird es Putin gelingen, Moldau auf dem Weg nach Westen aufzuhalten? Am
kommenden Sonntag wählen die Moldauer ein neues Parlament. Vom Ausgang
der Wahlen hängt ab, ob Moldau engere Beziehungen zur EU anstrebt oder
unter dem Druck des Kremls zurückrudert - wie einst die benachbarte
Ukraine, bevor die Maidan-Revolution dort dann die Rückkehr zum Westkurs
erzwang. Mit den bekannten Folgen.
Die Folgen der Wahl werden bis in die Tiefen des Weinkellers von Cricova
reichen. Aber das Schicksal Moldaus entscheidet sich wohl eher in der
Hauptstadt. Chisinau ist kein Ort, der zum Flanieren einlädt. In diesen
regnerischen Herbsttagen erst recht nicht. Siebzig Prozent der Stadt
waren nach dem Erdbeben von 1940, den Kämpfen im Zweiten Weltkrieg und
den Bombardements zerstört. Abgesehen von der Kathedrale und dem
Rathaus, die unter zaristischer Herrschaft gebaut wurden, und dem
Nationaltheater aus der Zwischenkriegszeit, als Moldau zu Rumänien
gehörte, bestimmen vor allem Plattenbauten und pompöse Paläste aus der
Sowjetzeit das Bild.
Nicht nur in der Architektur ist der Kreml präsent. Vielerorts zieren
große rote Wahlplakate mit dem Konterfei Putins die Straßen. Sie zeigen
den russischen Machthaber zusammen mit Igor Dodon, dem Chef der
Sozialistischen Partei Moldaus. Darunter steht die simple Botschaft:
"Zusammen mit Russland". Dodon will das Assoziationsabkommen mit der EU
aufkünden und sucht den Anschluss an die im Mai dieses Jahres gegründete
Eurasische Wirtschaftsunion zwischen Russland, Weißrussland und
Kasachstan. Seine Partei, gegründet 1997, könnte zum ersten Mal den
Sprung ins Parlament schaffen.
Als stärkste Partei werden wohl wieder die Kommunisten, die heute in der
Opposition sind, aus der Wahl hervorgehen. Sie hatten einst für eine
eurasische Zollunion votiert, sich dann für die Hinwendung zur EU
entschieden, verlangten aber bessere Beziehungen zu Russland, forderten
eine Neuaushandlung des Assoziationsabkommens mit der EU und blieben
schließlich der Abstimmung zu dessen Ratifizierung fern.
Eine
Unentschiedenheit, die sie leicht zum Spielball des Kremls macht.
Es kann durchaus sein, dass die drei mehr oder weniger liberalen
Parteien der heutigen proeuropäischen Regierungskoalition bei den Wahlen
keine Parlamentsmehrheit mehr zustande bekommen. "Unsere Politiker
wollen nicht Politik gestalten, sondern sich schlicht bereichern, die
politische Rente einstreichen", sagt der Analytiker Igor Botan, der eine
NGO leitet, die sich mit Fragen der Demokratie befasst. Viele Moldauer
seien von der Raffgier und Vetternwirtschaft enttäuscht: "Sie behaupten,
die EU unterstütze ein korruptes System, und wählen prorussische
Parteien."
Die schrillste Kritik an der Korruption kommt von einem politischen
Newcomer namens Renato Usatîi, der auf den Wahlplakaten ohne Jackett und
mit offenem Hemd auftritt. Schon die Botschaft der Bilder soll
ausdrücken, dass er nicht zur politischen Klasse gehört, dass er
anpacken kann. Der Schlachtruf des 36-Jährigen: "Nu mafia!" - "Weg mit
der Mafia!" Seine Heimatpartei, bislang völlig bedeutungslos, könnte
zehn Prozent der Stimmen holen und die proeuropäische Mehrheit kippen.
Usatîi hat nicht nur den moldauischen, sondern auch den russischen
Pass. Sein Vorbild sei der weißrussische Staatschef Alexander
Lukaschenko, sagt er. Jener Mann also, der im Ruf steht, der letzte
Diktator Europas zu sein. Auch Putin schätze er sehr, beteuert der
Geschäftsmann, der seine Millionen angeblich mit einem Unternehmen in
Russland verdient hat. Viele Moldauer halten Usatîi, der in
russischsprachigen Medien Moldaus über den Klee gelobt wird, schlicht
für einen Strohmann Putins.
Der Kreml-Herrscher hat aber längst auch seine eigenen Soldaten im Land.
In Transnistrien, einem schmalen Landstreifen zwischen Moldau und der
Ukraine, der sich 1991 für unabhängig erklärte, sind über tausend
russische Soldaten stationiert. Völkerrechtlich gehört das abtrünnige
Gebiet weiterhin zu Moldau, das seit 23 Jahren vergeblich auf der
Wiedereingliederung des Territoriums besteht. Faktisch jedoch ist
Transnistrien ein Staat von Russlands Gnaden, mit eigener Währung,
eigenem Parlament und eigener Regierung, wirtschaftlich komplett von
Moskau abhängig.
Während in dem Teil des Landes, der von der Regierung in Chisinau
kontrolliert wird, etwa 75 Prozent der rumänischsprachigen Mehrheit der
Moldauer angehören und nur etwa sechs Prozent der russischen Minderheit,
ist die Bevölkerung Transnistriens zu etwa je einem Drittel russisch,
ukrainisch und moldauisch. Wenn die Transnistrier mitwählen würden, sähe
es für eine proeuropäische Mehrheit schlecht aus. "Wäre Putin klug",
spottet der Analytiker Igor Botan deshalb, "würde er auf einer
Wiedervereinigung Moldaus bestehen."
Jüngst drohte der russische Vizeministerpräsident Dmitrij Rosigin, der
zugleich als Moskaus Sonderbeauftragter in Transnistrien fungiert, dass
Russland die in der Region lebenden russischen Bürger notfalls
verteidigen werde. Im Frühling wurden die russischen Truppen in
Transnistrien in Alarmbereitschaft versetzt und Manöver abgehalten.
Transnistrien ist ein wichtiger Baustein in Putins Strategie, Russland
zu neuer Größe zu verhelfen.
Der Wein der Gagausen Aber Putin hat noch einen zweiten Joker, wenn er den Europa-Kurs Moldaus
torpedieren und das Land destabilisieren will: die Gagausen. Sie leben
im Süden Moldaus, in der seit 1994 autonomen Region Gagausien. Sie sind
ein Turkvolk, aber gehören wie die Mehrheit der Moldauer der orthodoxen
Kirche an. Zu Hause sprechen sie in der Regel Gagausisch, eine dem
Türkischen eng verwandte Sprache, in der Öffentlichkeit eher Russisch.
Moldauisch, die Staatssprache, beherrschen die meisten nur rudimentär.
Hauptstadt der Gagausen ist Comrat, eine Kleinstadt, die nichts
Aufsehenerregendes zu bieten hat. Der Regierungssitz ist ein hässlicher
Betonklotz, vor dem ein steinerner Lenin mit Schirmmütze und Aktentasche
unter dem Arm steht.Mihail Formuzal, der 55-jährige Regierungschef Gagausiens oder Baskan,
wie man auf Gagausisch sagt, ist eine elegante Erscheinung. Er bereitet
den Kaffee, den er dem Gast anbietet, in seinem geräumigen Büro selbst
zu: türkischen Kaffee aus dem Kupferkännchen.
Formuzal, der mehr als zehn Jahre lang Offizier der Sowjetarmee war,
schätzt die "europäischen Werte", wie er sagt. Sein Sohn studiert im
hessischen Gießen, seine Tochter hat den Master-Abschluss in Genf
gemacht. Er schimpft auf die Korruption in Chisinau und auf die
Kleptomanie in den Regierungsparteien. In Gagausien hingegen, sagt er,
herrsche Ordnung, würden die Menschenrechte respektiert, hätten sich die
Exporte in den letzten acht Jahren - so lange regiert er die Region
bereits - verdoppelt.
Trotz seines Lobgesangs auf die europäischen Werte sieht Formuzal die
Zukunft Gagausiens jedoch im Osten. "Die Bevölkerung will von einer
Integration in die EU nichts hören, unsere Leute wollen nicht nach
Europa", sagt er. Was die Gagausen wollen, wurde im vergangenen Februar
bei einem Referendum erfragt, dessen Durchführung das Verfassungsgericht
in Chisinau zwar verbot, was den Baskan aber nicht weiter kümmerte.
Siebzig Prozent der Bürger beteiligten sich. Von ihnen sprachen sich 98
Prozent für engere Beziehungen zu Putins Eurasischer Zollunion aus, 97
Prozent waren gegen eine größere Nähe zur EU.
Man mag die Zahlen anzweifeln. Fest steht jedoch, dass eine überwiegende
Mehrheit der Gagausen den Blick gen Osten richtet. "Die Lösung ist
nicht auf dem westlichen Markt, sondern auf dem östlichen", erklärt
Mihail Formuzal. "Fünfzig Prozent der gagausischen Arbeitskräfte
arbeiten als Gastarbeiter in Russland. Unsere Wirtschaft ruht auf ihren
Schultern. Und zehn Prozent arbeiten in der Türkei. Das sind für uns
beides traditionelle Absatzmärkte."
Für das russische Embargo für Fleisch aus Moldau hat der Baskan durchaus
Verständnis. Auch für ihn ist es eine Frage der Hygiene. "Für einige
europäische Länder ist Moldau eine Mülltonne. Da kommt schlechte
holländische Wurst an, wird mit dem Stempel 'Made in Moldova' versehen
und dann nach Russland reexportiert." In Gagausien wird ein Großteil des
moldauischen Weines produziert.
Auch die Gagausen hatten unter dem
Embargo der Russen gelitten - bis sich Formuzal selbst auf den Weg nach
Moskau machte. Fünf große gagausische Weingüter dürfen nun wieder nach
Russland ausführen. "Wir garantieren, dass russische Experten rund um
die Uhr unsere Weinkeller inspizieren können", sagt der Regierungschef.
"Und wir garantieren, dass wir nur gagausische Weine ausführen. Wenn die
Russen in die Modernisierung unserer Weinwirtschaft investieren wollen,
werden sie fünf Jahre lang von Steuern befreit."
Befürchtet Formuzal denn nicht, zur Schachfigur in Putins Poker um die
Erweiterung der russischen Einflusssphäre zu werden? Teilt er die Ängste
von Kanzlerin Angela Merkel nicht, die jüngst davor gewarnt hat, dass
Putin nach der Ukraine auch nach Moldau ausgreifen könnte? "Es gibt
tausend Arten, einen Bären aus seiner Höhle zu locken", gibt Formuzal
zur Antwort. "Aber wie man ihn wieder in seine Höhle zurückbringt, weiß
niemand. Den Bären haben die Europäer aus der Höhle gelockt."
Es sind Sätze, die Putin gewiss schmeicheln würden. Den Kreml-Chef
persönlich allerdings hat Formuzal in Moskau nicht getroffen. "Für Putin
bin ich nur eine kleine, unbedeutende Nummer", sagt der Baskan. In
seiner Stimme mischt sich Enttäuschung mit Respekt vor dem Mann, der
einerseits den Gagausen entgegenkommt, andererseits viele Menschen in
Moldau, ja, in ganz Osteuropa das Fürchten lehrt.
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