Nummer 1393 |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 01.12.2009
Um 4.30 Uhr hatten sich die ersten
Journalisten vor dem Landgericht München II eingefunden. Am vergangenen
Freitag erst hatte die Justizpressestelle überraschend bekannt gegeben,
die Verhandlungen würden "aus rechtlichen Gründen", die nicht weiter
erklärt wurden, nun doch nicht über Video in einen weiteren Saal
übertragen. Von den 147 Plätzen im größten Saal des Gerichts würden 68
für die Medienvertreter zur Verfügung stehen. Über 250 Journalisten
hatten sich akkreditiert. Um sechs Uhr früh schlotterte schon die
Hälfte von ihnen vor dem Gebäude, das laut Pressemitteilung um 7.15 Uhr
öffnen sollte. Als die Tür dann kurz vor neun Uhr aufging, wurden die
vordersten in einen Raum geschickt, um sich aufzuwärmen, während die
späten Ankömmlinge als erste durchgeschleust wurden. Bald gab es keine
Regeln mehr, nur ein Hauen und Stechen. Die beiden Franzosen, die um
4.30 Uhr die Schlange eröffnet hatten, kamen nicht mehr in den
Gerichtssaal hinein. Hinter den Anwälten, aber vor den
Journalisten haben die Nebenkläger Platz genommen. Es sind vorwiegend
Rentner, die ihre Eltern oder Geschwister in Sobibor verloren haben, in
dem Vernichtungslager, in dem Demjanjuk als "fremdvölkischer Wachmann",
als sogenannter Trawniki, Dienst tat. Einige tragen eine Kipa. Einer
steht mit hochgekrempeltem Ärmel vor den Fotografen. Auf dem linken
Unterarm ist seine KZ-Nummer eintätowiert. Robert Cohen, geboren 1926,
hat Vater, Mutter und Bruder in Sobibor verloren. Er selber hat eine
Reihe von Konzentrations- und Arbeitslagern überlebt, weil er als
erster der Familie verhaftet wurde - noch vor der Zeit, als die Juden
direkt nach ihrer Ankunft ins Gas geschickt wurden. Auch in Auschwitz
war er zeitweilig. "In diesem Prozess geht es nicht mehr um Sühne",
sagt er, "nur noch darum, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen." Kleider sortieren, Haare scheren Drei
der Nebenkläger werden im Frühjahr auch als Zeugen aussagen. Sie haben
die Todesfabrik überlebt: Jules Schelvis, Thomas Blatt und Philip
Bialowicz. Sobibor war ausschließlich für die Vernichtung von Menschen
gebaut worden. Die allermeisten der über 250 000 Juden, die mit
Transporten aus dem holländischen Durchgangslager Westerbork ankamen,
wurden noch am Tag ihrer Ankunft ermordet. Sie starben in einer
Mischung von Kohlenmonoxid und Kohlendioxid, das als Abgas eines
Dieselmotors in die Kammern geleitet wurde. Blatt hatte Glück. Er war
damals 15 Jahre alt und wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Lager
arbeiten musste. "Was für Arbeit?" - "Kleider sortieren, Haare
scheren." Auch er hatte gedacht, er würde in ein Arbeitslager in den
Osten transportiert. Doch muss ihm schnell klar geworden sein,
was für ein Schicksal ihm bevorstand. Er schloss sich im Lager der
jüdischen Widerstandsgruppe an. Von den 600 Häftlingen, die den
Aufstand wagten, überlebten nur 47 Flucht und Krieg. "Können Sie sich
denn an Demjanjuk erinnern?" - "Nein, ich erinnere mich nicht einmal an
das Gesicht meiner Eltern." Sie starben beide am Tag ihrer Ankunft in
Sobibor. Thomas Blatt ist extra aus Kalifornien angereist, um als Zeuge
aufzutreten. Auch Jules Schelvis, geboren 1921 in Amsterdam, ist
gekommen. Er hat nur drei Stunden im Lager verbracht. "Aber in diesen
drei Stunden habe ich gesehen", berichtet er, "wie die Juden sich auf
dem Platz entkleiden mussten, wie sie unter Schlägen von Gewehrkolben
und Peitschen in die Gaskammern getrieben wurden." Schelvis ging damals
auf einen SS-Mann zu. "Der entschied innerhalb einer Sekunde zwischen
Leben und Tod. Ich wurde zum Torfstechen abkommandiert." Zehn
Konzentrationslager hat der Niederländer überlebt. Heute arbeitet er
als Historiker, er doziert noch immer an der Universität Amsterdam.
Welche Gefühle hat er hier, in dem Gerichtssaal, in den gleich John
Demjanjuk gebracht werden wird? "Historiker müssen ihre Gefühle hinter
sich lassen", sagt Jules Schelvis in fließendem Deutsch, "sie müssen
objektiv sein", sagt der Mann, der 41 Familienangehörige im Holocaust
verloren hat. Wäre Demjanjuk erschossen worden, wenn er sich
geweigert hätte, für die Nazis die Drecksarbeit zu erledigen? "Er hätte
desertieren können", sagt der Historiker, "ich habe Dokumente
mitgebracht, die beweisen, dass zwei ukrainische Wachmänner mit drei
jüdischen Frauen aus dem Lager geflohen sind." Dass aber ein Drittel
der Trawniki geflohen ist, wie immer wieder behauptet wird, hält er für
reichlich übertrieben. Und nun starren alle auf Demjanjuk, der
endlich auf seiner Krankentrage hereingeschoben wurde und der sich
minutenlang mit geschlossenen Augen dem Blitzlichtgewitter von einem
Dutzend Kameras aussetzt. Der Mann, der im kommenden Frühjahr 90 Jahre
alt wird, liegt da wie ein Häufchen Elend. Ab und zu scheint er nach
Luft zu schnappen. Er leidet zwar an verschiedenen Krankheiten, doch
haben die Ärzte seine Verhandlungsfähigkeit bestätigt, dem Gericht aber
aufgetragen, die Sitzungen auf zweimal anderthalb Stunden pro Tag zu
begrenzen. Es ist schwer, sich hinter dem Greis, der mit geschlossenen
Augen im Rollstuhl sitzt, den 23-jährigen Trawniki vorzustellen, der
laut Anklage vor 66 Jahren "in gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung
(...) bereitwillig an der Tötung der Juden mitwirkte". Man muss
sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass viele der Nazischergen, der
materiellen Täter, im Studentenalter waren, dass man im Dritten Reich
mit 30 Jahren schon eine hohe Position bekleiden konnte. Doch
Demjanjuk hatte keine Aufstiegschancen. Aufgewachsen in der Ukraine,
als Sohn eines Bauern, ging er vier Jahre zur Schule, bevor er als
Traktorist in einem Kolchos arbeitete. 1940 wurde er von der Roten
Armee eingezogen und geriet zwei Jahre später auf der Krim in deutsche
Kriegsgefangenschaft. Im Kriegsgefangenenlager von Chelm, das damals
zum Generalgouvernement gehörte und heute in Ostpolen liegt, wurde er
als Hilfswilliger rekrutiert und im Lager Trawniki zum Wachmann
ausgebildet. Das war der niedrigste militärische Grad der etwa 5 000
Mann starken Truppe, die sich vor allem aus Ukrainern, Balten und auch
wenigen Polen zusammensetzte und zur Räumung der jüdischen Ghettos und
als Wachpersonal in Vernichtungslagern, aber auch im Kampf gegen
Partisanen eingesetzt wurde. Viele sowjetische Kriegsgefangene wurden
damals getötet, verhungerten oder starben an Krankheiten. Demjanjuk
jedenfalls überlebte. Möglicherweise nur, weil er sich an der Tötung
der Juden beteiligte. In München findet nun zum ersten Mal in
Deutschland ein Prozess gegen ein Mitglied der ausländischen
Hilfstruppen der SS statt, die der Historiker Peter Black einst als
"Fußvolk des Genozids" bezeichnete. Bis Anfang Mai sind 35
Verhandlungstage geplant, "weitere Termine nach Bedarf". Es gibt viele
Fallstricke in diesem juristischen Verfahren. Lebende Zeugen, die sich
an Demjanjuk erinnern, gibt es nicht. Hauptbeweisstück ist der
Dienstausweis des Angeklagten mit der Nummer 1393, der dessen
Überstellung nach Sobibor festhält und über den das bayerische LKA
urteilte, dass er "wohl echt sein dürfte". Kann aber die individuelle
Schuld nachgewiesen werden? Können niedere Beweggründe, kann Mordlust
nachgewiesen werden? Hat sich Demjanjuk freiwillig für die Trawniki
gemeldet oder wurde er zwangsrekrutiert? Wäre er erschossen worden,
wenn er die Drecksarbeit in Sobibor verweigert hätte, oder hätte er
wenigstens annehmen müssen, erschossen zu werden? Erstes Vorgeplänkel Zurück
in den Sitzungssaal der Schwurgerichtskammer im Landgericht München II.
Dort findet gerade das Vorspiel zur juristischen Querele statt. Kaum
hat der Gerichtspräsident die Dolmetscher für Ukrainisch,
Niederländisch und Englisch vereidigt, ergreift Demjanuks
Wahlverteidiger Ulrich Busch das Wort. Er wirft dem Gerichtspräsidenten
und den beiden Staatsanwälten Befangenheit vor und begründet dies sehr
ausführlich mit früheren Urteilen. Im Hagener Prozess wurden 1966 die
SS-Scharführer Erich Lachmann, Leiter der Trawniki-Wachmannschaft von
Sobibor vor Demjanjuks Ankunft im Lager, und Hans-Heinz Schütt,
zuständig für Büroarbeiten und Gehaltsabrechnungen, wegen
Befehlsnotstand freigesprochen. Wenn schon deutsche SS-Offiziere
befürchten mussten, bei Befehlsverweigerung erschossen zu werden, dann
musste dies doch erst recht ein ausländischer Hilfswilliger, so die
Argumentation Buschs. Lässt man die großen Deutschen laufen und
die kleinen Ausländer hängen? Tatsächlich ist die frühere juristische
Bewältigung der Naziverbrechen, wie zahlreiche Urteile der 60er-Jahre
bezeugen, ein Skandal erster Güte. Doch ist das Gericht nicht an
frühere Urteile gebunden. Und wenn jetzt - spät, aber immerhin - gegen
Demjanjuk, der gewiss das letzte Glied der Befehlskette war, ein Urteil
gefällt werden sollte, das andere erst recht verdient hätten, dann wäre
dies doch ein Fortschritt. Im Gerichtssaal herrscht Aufregung.
Gerade hat Demjnajuks Verteidiger Busch die Notlage des Juden Thomas
Blatt und die des bewaffneten ukrainischen Trawniki John Demjanjuk
gleichgesetzt. Beide sitzen im Raum. Beide hätten durch Kollaboration
mit den Nazis ihr eigenes Leben gerettet, behauptet der Rechtsanwalt.
Die Nebenkläger sind entsetzt. Demjanjuk sitzt noch immer regungslos
mit geschlossenen Augen in seinem Rollstuhl. Wer weiß, wie viel er
selbst noch von alldem mitbekommt. Von diesem Prozess, der vielleicht
zu spät kommt, um die Wahrheit zu ergründen. Um mehr zu schaffen als
einen Präzedenzfall. |