Vom Pott zum Erlebnispark |
Thomas Schmid, 02./03.01.2010
Das Ruhrgebiet zählt in diesem Jahr zu den Kulturhauptstädten
Europas. Metropole Ruhr nennt sich die Gegend jetzt - obwohl das ganz
schön übertrieben ist
ESSEN/DUISBURG. Melancholie schwingt in seiner Stimme mit, vor
allem aber Respekt vor den Menschen dieser so wenig geliebten Region.
"Das Ruhrgebiet hat es immer schwer gehabt", sagt Fritz Pleitgen,
"nichts wurde seinen Bewohnern geschenkt. Sie haben sich alles selbst
erarbeitet." Dann spricht er von den Wunden, die die Industrialisierung
der Landschaft zugefügt hat, und ergänzt: "Die Menschen bauen wieder
auf, was sie selbst zerstört haben." Der Journalist, geboren in
Duisburg, einst ARD-Korrespondent in Moskau und danach in Washington,
ist in das Ruhrgebiet zurückgekehrt. Es sei ihm ans Herz gewachsen, sagt
er - ohne jedes Pathos, ganz bescheiden, und man glaubt es ihm sofort.
Schließlich ist es ein Stück Heimat. Er kennt den Menschenschlag im
Revier, und er mag ihn. Sein Büro hat der langjährige Intendant
des Westdeutschen Rundfunks nun im Alfred-Herrhausen-Haus in Essen. Das
Gebäude ist nach dem früheren Vorstandssprecher der Deutschen Bank
benannt, der aus Essen stammte und 1989 einem Bombenattentat der RAF zum
Opfer fiel. Herrhausen hatte den "Initiativkreis Ruhr" mitgegründet,
einen Industriellenverband für die Förderung des Ruhrgebiets. Pleitgen
ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Ruhr 2010 GmbH, die für die
Durchführung des Kulturhauptstadtprogramms verantwortlich zeichnet. Das
Ruhrgebiet mit Essen als Bannerträgerin ist seit gestern - zusammen mit
Pécs (Ungarn) und Istanbul - Kulturhauptstadt Europas. Das Programm,
das sich über das ganze Jahr erstreckt, wird am 9. Januar in der Zeche
Zollverein mit einem zweitägigen Kulturfest eröffnet. Zum Feuerwerk in
Essen werden Zehntausende erwartet, und Herbert Grönemeyer wird ihnen
seine neue Hymne auf das Revier vorstellen. Das 1986 stillgelegte
Kohlebergwerk gehörte einst zu den größten der Welt. Heute ist es
Weltkulturerbe der Unesco, das einzige in der Metropole Ruhr, wie das
Ruhrgebiet nun aus Marketinggründen gerne genannt wird. "Mythos
Ruhr begreifen - Metropole gestalten - Europa bewegen". So präsentiert
das offizielle Programm seine zentralen Ideen. Das ist schön formuliert,
wo aber ist die Metropole? Das Ruhrgebiet besteht aus 53 Städten, doch
hat es keine Hauptstadt, kein Gravitationszentrum, kein metropolitanes
Flair. Es ist eine polyzentrische Stadtlandschaft mit fünf Millionen
Einwohnern und damit - nach Moskau, Istanbul, London und Paris - das
fünftgrößte Ballungsgebiet Europas. "Das Ruhrgebiet wird grotesk
unterschätzt", behauptet Pleitgen, "auf engem Raum finden Sie hier mehr
Kultur als in anderen Metropolregionen Europas." In der Tat: Es gibt im
Ruhrgebiet ungefähr hundert Konzertstätten, 120 Theater, 200 Museen und
über tausend Industriedenkmäler. "Trotzdem hat die Region ein lausiges
Image", sagt der Geschäftsführer von Ruhr 2010, "und genau das wollen
wir ändern." Es ist das Image von verrußten Häusern, grauen
Städten, schlechter Luft. Ein Image, das mit der Realität wenig zu tun
hat. Man braucht nur auf das Dach der Kohlenwäsche der Zeche Zollverein,
auf die Aussichtsplattform des alten Gasometers in Oberhausen oder auf
den Tetraeder in Bottrop, ein 60 Meter hohes pyramidenförmiges
Stahlgerüst, zu steigen und den Blick schweifen zu lassen. Ein
friedliches Ensemble von Stadt und Land liegt dem Betrachter zu Füßen,
ein von Mensch und Maschine gezeichnetes Panorama, aber erstaunlich viel
Grün und überraschend viel Wasser: Ruhr und Rhein, Emscher und
Rhein-Herne-Kanal. Sanfte Hügel am Horizont, im südlichen Teil des
Ruhrgebiets von der Natur geschaffen, im nördlichen von Menschenhand:
Abraumhalden längst stillgelegter Zechen, viele von Wäldern überwachsen.
Nur noch wenige Schlote rauchen. Die Hochöfen des stillgelegten
Stahlwerks von Krupp in Duisburg-Rheinhausen sind längst abmontiert, die
Anlagen der Hermannshütte von Dortmund-Hörde an China verschachert.
Noch gibt es das Stahlwerk von Thyssen-Krupp in Duisburg-Bruckhausen.
Aber die Produktion ist weitgehend automatisiert. Von über 3 200 Zechen,
die das Ruhrgebiet im Lauf von zwei Jahrhunderten prägten und die zum
Teil so wunderliche Namen tragen wie "Bergmannsglück", "Fröhliche
Morgensonne" oder "Wohlverwahrt", sind gerade noch vier in Betrieb. Von
der Zeche zur Brautmode Die Welt der Stahlkocher und Kumpel ist
verschwunden. Geblieben sind einige Werksiedlungen, wo die Arbeiter in
betriebseigenen Mehrfamilien- und Reihenhäusern wohnten und in den
Gärten Kaninchen oder Tauben züchteten, Hühner hielten, Gemüse pflanzten
und bei Geburtstagsfeiern "Glückauf, der Steiger kommt" sangen.
Geblieben sind die Trinkhallen, wo die Kumpel nach getaner Arbeit sich
zum Bier trafen, Kinder für einen Pfennig Klümpchen (Bonbons) kauften
und die Tasse Kaffee noch heute nur 70 Cent kostet. Und geblieben ist
die Liebe zum Fußball. "Der Fußball gehört zum Pott wie die
Kohle", sagt Willi Lippens, der heute in einem Wald am Stadtrand von
Bottrop mit zwei Söhnen eine gut besuchte Gaststätte führt mit dem
seltsamen Namen "Ich danke Sie". Die Geschichte kennt im Ruhrgebiet
jeder. Sie steht auch auf der Speisekarte. Lippens war von 1965 bis 1981
Profi-Fußballer, 13 Jahre bei Rot-Weiss Essen, ein Jahr in Dallas (USA)
und drei Jahre bei Borussia Dortmund. Seine Dribbelkünste haben eine
ganze Generation von Fans verzückt. Und auf den Mund gefallen war er
nie. Als ihn der Schiedsrichter einst anbellte: "Herr Lippens, ich
verwarne Ihnen!" und ihm die gelbe Karte zeigte, gab der Fußballer
schlagfertig zurück: "Herr Schiedsrichter, ich danke Sie!" - worauf
dieser ihm prompt die rote Karte vor die Nase hielt. An einer Wand von
Lippens' Waldrestaurant hängen Sportschuhe mit Stahlkappen. Sie gehörten
einst einer anderen Fußballlegende des Ruhrpotts: Helmut Rahn, der
seine größten Erfolge ebenfalls bei Rot-Weiss Essen feierte und 1954 mit
seinem historischen Tor das "Wunder von Bern" vollbrachte und
Deutschland zum Weltmeister machte. "Der Fußball ist Teil der
Volkskultur", sagt Lippens, "hier im Pott allemal." In der Tat: Was die
Quote von Kickern und Zuschauern betrifft, liegt die Region zwischen
Lippe und Ruhr mit Fußballhochburgen wie Brasilien oder Greater London
an der Weltspitze. Mit Borussia Dortmund und Schalke 04 spielen gleich
zwei Vereine aus dem Revier seit über zehn Jahren ununterbrochen in der
Bundesliga. Der FC Schalke 04 ist mit über 80 000 Mitgliedern nach dem
FC Bayern München der zweitgrößte Sportverein Deutschlands. Und die
Heimspiele tragen die Gelsenkirchener in der Veltins-Arena aus, die mit
ihrem ausfahrbaren Rasen zu den modernsten Stadien der Welt gehört.
Angesichts all dieser Superlative erwiesen dann auch die Organisatoren
der Kulturhauptstadt Europa dem runden Leder ihre Reverenz: Im Mai
findet der "Ruhr-Lit-Cup" statt, ein internationaler Cup der Literaten.
Die deutsche Mannschaft wird der Münchner Lyriker Albert Ostermaier
anführen. Ob er da hingehen wird, weiß Lippens noch nicht. "Aber die
'Ruhr 2010'", so hofft er, "wird der Region helfen, ihr schlechtes Image
loszuwerden." Aufgewachsen ist Lippens in Deutschland, am Niederrhein,
doch sein Vater war Holländer, und er selbst ist es, den Papieren nach,
bis heute. Trotzdem gehört er längst zum Ruhrpott. Auch Asli
Sevindim ist gewissermaßen eine typische Pflanze des Reviers. Aber die
36-jährige Journalistin und Buchautorin steht für eine andere
Generation. Ihr aus der Türkei eingewanderter Vater arbeitet als
Kranführer bei Thyssen. Sie moderiert die "Aktuelle Stunde" beim
Westdeutschen Rundfunk. Aufgewachsen ist sie in Duisburg-Marxloh, einem
Stadtteil, bei dessen bloßer Erwähnung schon mancheiner die Nase rümpft.
Marxloh hat den Ruf, abgehängt, ein soziales Getto zu sein. Sevindim
sieht jedoch auch die andere Seite. Zwar sind viele Arbeitsplätze
verloren gegangen, aber es entstehen neue. Die Zeche Walsum mit ihren 3
000 Beschäftigten, von denen viele in Marxloh wohnten, wurde vor
anderthalb Jahren geschlossen. "Aber allein an der Weseler Straße, der
Hauptstraße des Stadtteils, gibt es nun über 20 Brautmodegeschäfte -
auch eines für XXL", berichtet die Marxloherin, die noch immer in
Duisburg wohnt. "Früher reisten die Türken in ihre Heimat, um Kleider
für den Hochzeitstag zu günstigen Preisen zu besorgen. Jetzt kommen
viele, und beileibe nicht nur Türken, aus dem Rheinland, ja sogar aus
Belgien und Holland, um in Marxloh Brautkleider zu kaufen." Von
den 18 000 Einwohnern Duisburg-Marxlohs haben heute 60 Prozent einen
Migrationshintergrund, die meisten einen türkischen. Neben den
Brautmodegeschäften, die einen Allroundservice - Catering, Musik,
Einladungskärtchen, Goldschmuck - für den Hochzeitstag bieten, findet
man an der Weseler Straße Teestuben, Döner-Kebab-Buden, Frisiersalons,
Bäcker, die Simit und Baklava in der Auslage haben, und Metzger die
Halal-Fleisch anbieten. Und in der alten Trinkhalle liegen mehr
türkische als deutsche Zeitungen aus. Diese Entwicklung mag viele
Deutsche ängstigen. Auch die Türken scheinen sich dessen bewusst zu
sein. Gegen den Bau der 2008 fertiggestellten Moschee, die über tausend
Gläubigen Platz bietet, ein 34 Meter hohes Minarett hat und ein
interreligiöses Begegnungszentrum beherbergt, gab es keine Proteste. Der
Moscheeverein hatte bei der Planung mit den christlichen Kirchen
kooperiert und auch das Gespräch mit interessierten deutschen Einwohnern
gesucht. Das Ruhrgebiet hat seit Beginn der Industrialisierung
Zuwanderer angezogen. 1910 lebten etwa 500 000 Ruhr-Polen im Revier, das
damals drei Millionen Einwohner zählte. Schalke 04 verdankte Ruhr-Polen
in den 30er- und 40er-Jahren seinen Aufstieg und den von seinen Rivalen
damals gepflegten Ruf eines "Polacken-Vereins". Und auch Götz Georges
Alter Ego, der Duisburger Kriminalhauptkommissar Schimanski, ist
polenstämmig, wie sein Name - polnisch: Szymanski - verrät. Nach dem
Zweiten Weltkrieg kamen Griechen, Italiener, Jugoslawen und schließlich
Türken. Tauchen im Gasometer "Die Immigration hat im
Ruhrgebiet eine Tradition des Zusammenlebens, der Nachbarschaftshilfe
und Solidarität geschaffen", sagt Sevindim, "eine Tradition, mit der ich
groß geworden bin." Nun ist sie als eine der vier künstlerischen
Direktoren von Ruhr 2010 für den Bereich "Stadt der Kulturen" zuständig.
Ihr Geheimtipp fürs Kulturhauptstadtprogramm, verrät sie, sei das
Projekt "Mehr Licht! Die europäische Aufklärung weitergedacht". Es ist
eine Diskussion von regionalen wie internationalen Schriftstellern,
Philosophen und Wissenschaftlern, bei der es wesentlich auch um das
Zusammenleben der Menschen im Ruhrgebiet geht und um die Zukunft der
Region im europäischen wie globalen Kontext. "Das Ruhrgebiet atmet
nicht mehr Staub, sondern Zukunft" so die pathetischen Worte des
Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg, der der europäischen Jury
angehörte, die den Titel der Kulturhauptstadt zu vergeben hatte. Es ist
die lyrische Umschreibung von "Strukturwandel", einem Wort, das den
Bewohnern des Potts zum Hals heraushängt. In den letzten beiden
Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts gingen 500 000 Arbeitsplätze im
produktiven Bereich verloren, und es entstanden 300 000 Jobs im
Dienstleistungsbereich. Wer durch die Metropole Ruhr reist, kann
diesen Wandel sinnlich erfahren. Auf dem Gelände des früheren
Krupp-Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen steht heute die Zentrale eines
Logistikunternehmens. In der Essener Zeche Zollverein wird am 10. Januar
das neue Ruhr-Museum eröffnet.Und aus Thyssens Eisenhüttenwerk in
Duisburg ist ein Erlebnispark besonderer Art geworden: Der alte
Gasometer wurde mit 20 Millionen Liter Wasser gefüllt, sodass man dort
nun in luftiger Höhe 13 Meter tief zum Wrack eines Schiffs tauchen kann;
in der riesigen Kraftzentrale finden Regisseure eine Theaterbühne, von
der andere nur träumen können; die Gießhalle mit ihrem imposanten Knäuel
von Rohren, Kesseln, Treppen und Brücken bietet das richtige Ambiente
für ein Gala-Dinner, und nachts erstrahlen Hochöfen, Kamine und
Stahlgerüste in grellen Farben - es ist eine artifizielle
Traumlandschaft. Das Ruhrgebiet hat durchaus touristisches
Potenzial. Die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 wird es zum Teil erschließen.
Und die Bewohner des Reviers? Wie verkraften sie den Wandel? "Wir dürfen
nicht alles kaputtreden, wir müssen den Menschen Mut machen", meint die
Journalistin Asli Sevendim. "Fragt man einen Bayern, weshalb er
in Bayern lebt", erzählt der Duisburger Kabarettist und Krimi-Autor
Klaus Magnus Sting, " so sagt er: Wir lieben unsere grünen Wiesen,
unsere Brezeln und unsere Berge, mir san mir! Fragen Sie einen Kölner,
wird er Ihnen vom Dom und vom Kölsch erzählen. Weshalb aber bloß soll
ein Ruhri im Pott bleiben?" Dann findet der Künstler eine einfache
Antwort: "Na ja, vielleicht einfach, weil es anderswo ja auch Scheiße
ist." Mit dem Satz verweist der Kabarettist auf den Kern des
Problems. Essen hat seine Zeche Zollverein, Bottrop seinen Tetraeder,
Oberhausen seinen Gasometer. Man ist Duisburger oder Dortmunder, den
Ruhri aber gibt es nicht. Die Metropole Ruhr hat noch keine Identität
gefunden. Aber in einem Jahr, wenn der Marathon von Shows, Spektakeln,
Spielen, Ausstellungen, Konzerten und Festen vorbei ist und Fritz
Pleitgen sein Büro in Essen räumt, ist man vielleicht einen Schritt
weiter. |