Spiel ohne Grenzen |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.01.2011
Kriegsreporter ist ein gefährlicher Beruf. In einem Kursus bei
der Bundeswehr lernen Journalisten, sich im Kampfgebiet zu bewegen - ein
Selbstversuch
HAMMELBURG. Im Kriegsgebiet soll man als Journalist nie alleine unterwegs sein. Das ist eine eiserne Regel. Zu viert also - ein Kameramann, eine Reporterin der Deutschen Welle, ein freischaffender Journalist und ich - fahren wir im Kleinbus über den holprigen Weg durch den Wald. Es ist kalt. Weithin keine Seele in dieser Einöde. Da versperren plötzlich aufgeschichtete Äste die Weiterfahrt. Wir schauen uns an. Zum Wenden ist es bereits zu spät. Maskierte Männer reißen die Tür auf, fuchteln mit Kalaschnikows, stoßen uns auf den Weg, schreien uns auf Englisch an: "Los! Los!", "Auf die Knie!", "Hände hinter den Kopf!"In jedem zweiten Satz, den sie bellen, kommt das Wort "fucking" vor. Unter sich sprechen sie russisch. Wir sind an einen
Checkpoint der Aufständischen geraten. Geld, Dokumente, Handys, alles
müssen wir abgeben. Eine halbe Stunde lang knie ich im kalten Matsch,
Kopf nach unten, Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sobald ich mich auch
nur ein bisschen bewege, um die schmerzhafte Stellung zu ändern oder um
aus den Augenwinkeln zu erspähen, ob meine Kollegen noch da sind,
schreit mir ein Mann ins Ohr: "Don't move!" - Keine Bewegung!
Schließlich werde ich zum Kommandanten gebracht. Er knallt einen Dolch
auf den Tisch. Das Verhör beginnt. Wenn er meint, ich lüge, schreit er
mich an. Neben ihm fuchtelt ein maskierter Mann mit seinem Revolver.
Schließlich muss ich mich zusammen mit dem Kommandanten vor einer Fahne
der Rebellen ablichten lassen. Widerstand ist zwecklos. Sie haben
Kalaschnikows, ich nur mein Notizbuch. Das Wichtigste: Überleben Die
Szene könnte sich etwa so in Tschetschenien abspielen. Aber wir sind im
Nordwesten Bayerns, unweit von Schweinfurt. Und die maskierten Männer
sprechen russisch, weil sie Russlanddeutsche sind. Es sind Soldaten der
Bundeswehr, die auf einem Truppenübungsgelände bei Hammelburg
Journalisten in "Schutz und Verhalten in Krisenregionen" schult.
Eigentlicher Anlass für die Kooperation zwischen dem
Verteidigungsministerium und der Berufsgenossenschaft Druck und
Papierverarbeitung war vor elf Jahren der Tod der Journalisten Gabriel
Grüner und Volker Krämer. Die beiden Stern-Reporter waren am 13.
Juni 1999, dem Tag des Einmarsches internationaler Truppen ins Kosovo,
zusammen mit ihrem mazedonischen Dolmetscher Senol Alit erschossen
worden. Der Mörder war höchstwahrscheinlich ein russischer Söldner in
serbischen Diensten, der das Auto der Journalisten benötigte, um vor den
anrückenden Truppen zu fliehen. Grüner und Krämer waren erfahrene
Kriegsreporter. Das kann man von vielen Journalisten, die das
Interesse, der Kitzel oder das Honorar an die Front zieht, oder die von
der Redaktion in ein Krisengebiet geschickt werden, nicht behaupten.
Kriegsreporter gilt vielen als Traumberuf. So geht manch einer für die
große Story oder für das eine, finale Bild einen Schritt zu weit. 57
Journalisten wurden weltweit allein im vergangenen Jahr bei der Ausübung
ihres Berufes getötet - im Durchschnitt mehr als einer pro Woche.
Einige von ihnen würden wohl noch leben, hätten sie alle Regeln strikt
befolgt, die den Kursteilnehmern in Hammelburg eingebläut werden. "Das
Wichtigste ist: Überleben", doziert Oberstleutnant Volker Dewenter, der
die Ausbildung leitet. "Spielen Sie nie den Helden!" Überleben heißt:
Bei Beschuss sofort in Deckung gehen - jede Zehntelsekunde zählt. Die
Straße nicht verlassen um zu pinkeln - man könnte auf eine Mine treten.
Dem Entführer nicht in die Augen schauen - er könnte es als Aggression
auffassen. Am Checkpoint im Auto nachts die Innenbeleuchtung einschalten
- das mindert das Risiko, dass eine Bewegung als Griff zur Waffe
missverstanden wird. Sich den Befehlen des Kidnappers nicht widersetzen -
er hat ohnehin die stärkeren Mittel. Und vor allem Ruhe bewahren. Bloß,
wie soll man Ruhe bewahren, wenn von rechts - oder war es doch von
links? - geschossen wird, vorne eine Handgranate explodiert, röhrend ein
Panzer heranrollt und ein Schwerverletzter erbärmlich um Hilfe schreit?
So wie es in Bonnland geschieht, einem Dorf unweit von Hammelburg. Der
Reporter der Deutschen Welle wirft sich in einen Graben, der Fotograf
packt schnell seine Fototasche, er will - ein möglicherweise
lebensgefährlicher Fehler - seinen teuren Apparat und die Objektive
retten. Ich sehe im Fenster eines Hauses erst einen Mann und dann das
Mündungsfeuer. Normalerweise wäre ich jetzt tot. Bonnland
hat alles, was zu einem richtigen Dorf gehört: Kirche, Bürgermeisteramt,
Gasthaus, Bäckerei, Wohnhäuser, Ställe, einen Markt und einen Friedhof -
nur keine Einwohner. Unter der Nazi-Herrschaft wurde das Dorf 1938
abgesiedelt, wie es im Fachjargon heißt. Nach dem Krieg wurden
Flüchtlinge dort untergebracht. Als die Bundesrepublik dann ihre Armee
aufbaute, wurde Bonnland erneut abgesiedelt. Heute dient es als
Übungsdorf für den militärischen Häuserkampf - und ab und zu auch für
die Ausbildung von Journalisten. Wir verlassen die gespenstische
Siedlung, gehen die Straße Richtung Hammelburg, als es plötzlich knallt.
Fünf Meter vom Wegrand entfernt liegt eine jammernde Frau in der Wiese.
Sie blutet, ist offenbar auf eine Mine getreten. Sofort eilt ein
Reporter hin, um ihr zu helfen. "Stopp!", ruft Hauptfeldwebel Alexander
Christ, "falsch!" Man muss die Frau jammern lassen, jeder Schritt in die
Wiese kann tödlich enden! Vielleicht liegen noch mehr Minen herum. Es
bleibt nichts anderes übrig, als mit einer Sonde - notfalls mit einer
Stricknadel - auf einer Breite von anderthalb Metern alle fünf
Zentimeter vorsichtig schräg in den Boden zu stechen, um eventuell Minen
aufzuspüren, dann fünf Zentimeter vorzurücken und wieder von vorn zu
beginnen. Um ein Feld von anderthalb mal fünf Metern auf diese Weise
abzusuchen, müsste man etwa 3000 Mal kontrolliert in den Boden stechen.
Würde man das ungefähr alle fünf Sekunden tun, bräuchte man dazu über
vier Stunden. Da könnte die Frau allerdings längst verblutet sein. Noch
gefährlicher als Tretminen sind die Sprengfallen in Gebäuden. Der
Hauptfeldwebel führt uns in ein Haus. Es ist ein wahres Gruselkabinett.
Macht man die Tür auf, fällt eine Mine zu Boden. Will man ein schräg
hängendes Bild geraderücken, löst man eine Explosion aus. Setzt man sich
auf den Toilettendeckel, verbinden sich automatisch zwei Drähte zu
einem Kurzschluss. Der mörderischen Heimtücke sind offenbar keine
Grenzen gesetzt. Auf freiem Feld lässt der Offizier zwei Gramm
Plastiksprengstoff an eine Schweinspfote binden - nur zwei Gramm. Als
wir nach der Explosion aus der Deckung kommen, zeigt er uns einen
blutigen Fleischklumpen. Die Pfote des Schweins und die Hand des
Menschen sollen eine ähnliche Konsistenz aufweisen. Kriegsberichterstatter leben gefährlich. Oft bewegen sie sich zwischen allen Fronten. Das war nicht immer so. Bis in die jüngere Vergangenheit bemühten sie sich gar nicht um eine unabhängige Berichterstattung, sondern waren Partei, und manchmal sind sie es auch heute noch. Der erste, der erkannt hat,
wie wichtig es ist, die Öffentlichkeit für seinen Krieg zu gewinnen, war
vermutlich Alexander der Große. Auf seine Feldzüge nahm er Schreiber
mit, die von seinen ruhmreich geschlagenen Schlachten künden sollten.
Über tausend Jahre später meinte Napoleon Bonaparte, drei feindliche
Zeitungen seien mehr zu fürchten als tausend Bajonette. Im Ersten
Weltkrieg war es selbstverständliche Aufgabe der Kriegsreporter, die
Moral der Truppe aufrechtzuerhalten und die Daheimgebliebenen zu
besänftigen. Auch im Zweiten Weltkrieg waren die Kriegsberichterstatter
oft Teil der kämpfenden Truppe und trugen - wie Ernest Hemingway -
selbstverständlich Uniform. Wie im Dritten Golfkrieg dann wieder die
"embedded journalists", die in Kampfeinheiten der US-Armee eingebetteten
Reporter, die von diesen völlig abhängig waren und mitunter auch
gezielt mit falschen Informationen versorgt wurden. In Afghanistan
wiederum kann sich der Journalist zumindest in gewissen Gebieten von
der Bundeswehr oder anderen westlichen Truppen absichern lassen. In
vielen Ländern aber ist er weitgehend auf sich selbst gestellt, zum
Beispiel in Somalia, wo sich islamistische Banden befehden, an der
Elfenbeinküste, die vor einem Bürgerkrieg steht - oder auch in Rhönland. In
Rhönland führten die Unterdrückung ethnischer und religiöser
Minderheiten, aber auch die wachsende wirtschaftliche Kluft zwischen dem
reichen, industrialisierten Süden und dem landwirtschaftlich geprägten,
verarmten Norden zu Spannungen. Die Revolutionären Streitkräfte von
Nordrhönland riefen schließlich eine eigene provisorische Regierung aus.
Im Süden des Landes operieren die reguläre Armee, aber auch
paramilitärische Gruppen. Blauhelmen der Uno gelang es schließlich, eine
Pufferzone zu installieren. Doch es kommt immer wieder zu Scharmützeln. Das
ehrwürdige Schloss Greifenstein, das sich am Rand von Bonnland befindet
und in dem wir genächtigt haben, liegt schon jenseits der
UN-Pufferzone, auf südrhönländischem Gebiet. Wir haben gerade
gefrühstückt, als uns brüllend und wild um sich schießend ein Dutzend
Männer in einen Nebenraum drängt. Ich werde gefesselt und man verpasst
mir eine schwarze Augenbinde, wie man sie in den Flugzeugen aufsetzt,
wenn man schlafen will. In einen Bus geschubst begreife ich: Ich bin
entführt. Man schreit mich an, lässt mich niederknien, wieder aufstehen,
bedroht mich, befiehlt mir, einen Eimer mit Sand aufzufüllen. Mit
verbundenen Augen ertaste ich den Sandberg und den Eimer und fülle
diesen. Doch er wird nie voll, weil er keinen Boden hat. Die Terroristen
lachen, machen sich über mich lustig, beleidigen mich, schubsen mich
herum, brüllen mich an. Ich werde zum nächsten Ort gefahren, denke, nun
ist alles vorbei. Aber nein, alles beginnt von vorne. Man will meinen
Willen brechen. Schließlich werde ich zum Anführer der
südrhönländischen Paramilitärs gebracht. Er fragt in gebrochenem
Englisch, was ich vom Konflikt zwischen den Süd- und Nordrhönländern
halte. Ich erwidere, ich sei erst dabei, den Konflikt zu recherchieren.
Er wirft mir vor, mit den Nordrhönländern unter einer Decke zu stecken.
Ich bestreite dies vehement. Er lässt kurz meine Augenbinde entfernen
und zückt ein Foto, das mich mit einem nordrhönländischem Kommandanten
vor der nordrhönländischen Flagge zeigt. Ich sage, man habe mich dazu
gezwungen, für das Foto zu posieren. "Du elende Memme!", schreit er und
lässt mir die Augen wieder verbinden. Ich werde abgeführt, und irgendwo
mitten im Schnee geht alles wieder von vorne los: niederknien, Hände
hinter den Kopf, aufstehen, weitermarschieren. Nach vier Stunden
wird abgepfiffen. Das Spiel ist zu Ende. In der Regel dauert eine
Entführung eher vier Wochen oder vier Monate. Trotzdem, es hat
gereicht. Ich musste mir während der vier Stunden in den Händen
der Entführer immer wieder einhämmern: Es ist nur ein Spiel, ein Spiel,
ein Spiel. Sonst hätte ich diese Situation wohl schlecht durchgehalten.
Vorsichtshalber hatte Oberstleutnant Dewenter schon am ersten Tag des
Kurses bekannt gegeben, dass es hart werden würde, aber jeder jederzeit
aussteigen könne. Doch sei der Ausstieg dann unwiderrufbar. Ich hätte
nur das Codewort "Exit" sagen müssen, und man hätte mir die Augenbinde
weggenommen, mich freundlich zur Kaserne begleitet und zum Bahnhof
gebracht. Versteckte Gefahren Die Nachbereitung der Übung
findet in der Kaserne statt. Unser Verhalten während der Entführung und
des Verhörs wurde, was wir mit verbundenen Augen nicht bemerken konnten,
auf Video aufgenommen. Wir haben gelernt, wie wir uns bei Beschuss
verhalten sollen, wir haben eine Ahnung davon bekommen, wie hilflos man
sich als Opfer von Gewalt fühlt. Wir haben unsere Grenzen gespürt. Der
Kurs sensibilisiert für versteckte Gefahren, das kann im entscheidenden
Fall das Überleben sichern. Der Kriegsreporter auf dem Weg in den
Einsatz lernt in Hammelburg manch Nützliches: wie er sich auf eine Reise
ins Krisengebiet vorbereitet, wie er sich im Notfall verhält. Eine
andere Geschichte ist das Danach. Wie verarbeiten Reporter den Anblick
von Toten, wie verkraften sie Terror und vielleicht Entführung? Für
Soldaten, die traumatisiert aus dem Krieg zurückkehren, gibt es längst
eine professionelle Betreuung. Aber auch Journalisten sehen dort Bilder,
die sie nie wieder vergessen werden. Traumatische Erfahrungen und
posttraumatische Belastungen bei Journalisten sind nur selten ein Thema.
Vielleicht, weil sich Kriegsreporter, anders als mittlerweile viele
Soldaten, noch immer gern als Helden fühlen. |