Wut in der Wüste |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.11.2010Immer schon leben die Sahrauis in der Westsahara. Doch ihr Land ist
besetzt, und es geht ihnen schlecht. Jetzt kämpfen sie in einem
Zeltlager für ein besseres Leben
LAÂYOUNE. Die beste Aussicht hat man vom Dach einer Betonruine aus, die da mitten in der Wüste steht, eine Hinterlassenschaft der spanischen Armee, ein Relikt aus der Kolonialzeit. Es ist ein grandioses Panorama. Wohin man den Blick auch wendet - ein Meer von Zelten, deren weiße Dächer vor der brütenden Hitze Schutz bieten. Es sind Jaimas, die traditionellen Zelte der Nomaden. Und was man ebenfalls erst von hier oben sieht: Das riesige Lager ist umzingelt. Am Horizont stehen überall Militärlaster und Jeeps. Sie bilden einen Kreis um das Camp, nur etwa 200 Meter hinter den äußersten Zelten. Rund 20000 Sahrauis - so nennen sich die ursprünglichen Bewohner der Westsahara, eines Wüstenstrichs zwischen Marokko und Mauretanien - haben sich hier in über 2000 Jaimas niedergelassen, um für Wohnung und Arbeit zu demonstrieren. Es ist die größte Protestbewegung seit 1975, seit der völkerrechtswidrigen Annexion der früheren spanischen Kolonie durch Marokko. Es ist nicht
einfach, in das Lager hineinzukommen. Es liegt nur 15Kilometer außerhalb
von Laâyoune, dem Verwaltungszentrum der Westsahara, einer erst 1938
von den Spaniern gegründeten Stadt, die inzwischen 200000 Einwohner
zählt. Zwar erlauben die Militärs den Sahrauis, in der Stadt Wasser,
Lebensmittel und Medikamente zu besorgen und ins Lager zu bringen.
Journalisten aber wird der Zutritt zum Camp verwehrt. Sie brauchen eine
Sondergenehmigung des Innenministeriums. Und das liegt in Rabat, der 870
Kilometer entfernten Hauptstadt Marokkos. Dass man dort in nützlicher
Frist den richtigen Stempel nie und nimmer erhält, weiß jeder, der die
marokkanische Bürokratie kennt. Also versucht man es anders. Man
schüttelt erst einmal die Spitzel ab, die sich vor den Hotels von
Laâyoune tummeln und sich dem Fremden an die Ferse heften, verkleidet
sich als Araber und lässt sich mit ein wenig Glück nachts ins Lager
schmuggeln. "Willkommen", sagt Azaoui, ein Mann mit schwarzem
Turban und Gesichtsschleier, der nur die Augen freilässt, "du kannst
dich hier frei bewegen, mit jedem reden." Azaoui gehört der Leitung des
Komitees an, das das Lager verwaltet und ist zur Begrüßung an den
Eingang gekommen. Dank Handy - der Empfang im Camp ist gut - wusste er
schon von der Ankunft eines Ausländers. "Wir haben ausschließlich
soziale, keine politischen Forderungen", sagt er ungefragt, "wir wollen
Arbeit und eine anständige Wohnung." Es ist ein Uhr nachts. Man muss
höllisch aufpassen, dass man in diesem Labyrinth eng aneinander gebauter
Jaimas nicht über die Zeltschnüre und großen Heringe stolpert. Die
Nomadenzelte selbst aber sind geräumig, mit Teppichen belegt wie kleine
Wohnzimmer, in einer Ecke die Kochnische. Oft schlafen ein Dutzend
Personen in einem Zelt, ohne dass es sonderlich eng würde. Seit
vier Wochen besteht das Lager schon, seit zwei Wochen ist es militärisch
abgeriegelt. Wo haben diese Stadtmenschen denn plötzlich so viele Zelte
aufgetrieben? "Jede Sahraui-Familie hat eine Jaima zu Hause", sagt
Abdelaziz, "vor einer oder zwei Generationen waren wir alle Nomaden."
Abdelaziz ist, wie die meisten Männer hier, arbeitslos, schlägt sich
irgendwie durchs Leben. Im Lager ist er zuständig für Sicherheit. Er
organisiert die Wachen, die die Soldaten beobachten. "Wir haben
ausschließlich soziale Forderungen: Wir verlangen Wohnungen und Arbeit",
sagt auch er, bevor er dem Gast eine Kamelhaardecke reicht. In der
Wüste kann es nachts kalt werden. Es ist sieben Uhr früh, die
Sonne geht über der Wüste auf, und Brahim friert trotz seiner
Lederjacke. Er hat Wache geschoben. "Weiß die Welt, dass wir hier
sitzen, umzingelt von Soldaten, um für Wohnung und Arbeit zu
demonstrieren?", fragt er. "Wir haben keine politischen Forderungen. Wir
haben keine Fahne gehisst." Er meint: keine Fahne der RASD, der
Demokratischen Arabischen Republik Sahara. Diese ist ein Pseudostaat mit
einer Regierung in Tindouf, einer Stadt in der algerischen Wüste hinter
der marokkanischen Grenze. Dort regiert die Befreiungsfront Polisario
90000 sahrauische Flüchtlinge. Der verminte Sandwall Wie
das alles kam? Als der spanische Diktator Franco auf dem Sterbebett
lag, ließ der marokkanische König Hassan II., Vater des heutigen
Monarchen, am 6. November 1975, just vor 35 Jahren, 350000 unbewaffnete
Zivilisten in die spanische Kolonie Westsahara einmarschieren. Nach
diesem "Grünen Marsch" trat Spanien die Verwaltungshoheit über die
Kolonie an Marokko und Mauretanien ab. Die 1973 gegründete Polisario,
die schon gegen die spanische Kolonialherrschaft gekämpft hatte,
erklärte nun den neuen Machthabern den Krieg. Rund 100000 Sahrauis
flüchteten vor den marokkanischen Besatzern ins algerische Tindouf. Nach
dem Rückzug Mauretaniens aus dem Süden der Westsahara annektierte
Marokko 1979 die gesamte ehemalige spanische Kolonie und baute einen
2400 Kilometer langen Sandwall quer durch die Wüste, um sich gegen die
Angriffe der Guerilla zu verteidigen. Seit 1991 herrscht ein
Waffenstillstand, der von Blauhelmen der Uno überwacht wird. Östlich des
verminten Sandwalls ist Polisario-Gebiet. Westlich davon, wo die
wenigen Städte der Westsahara, die Küste mit ihren fischreichen
Gewässern und die vermutlich größten Phosphat-Vorkommen der Welt liegen,
regiert Marokko. "Vier Monate habe ich im Gefängnis gesessen",
berichtet Emmaama, "bloß weil ich einen Schlüsselanhänger mit dem Wappen
der Demokratischen Arabischen Republik Sahara am Gürtel trug." Der
junge Mann, gewandet in eine Darra, den langen, weißen Rock der
sahrauischen Männer, lädt zu einer Schale Gofio ein, zerstampfte
geröstete Maiskörner, aufgelöst in kaltem Wasser. An der Wäscheleine
unter dem Zeltdach hängt rohes Kamelfleisch. Man wähnt sich hier weit
weg von jeder Zivilisation, in einer andern Zeit. Doch dann fliegt ein
Armeehubschrauber im Tiefflug über die Zelte hinweg, holt einen in die
Gegenwart zurück. "Marokko baut uns Straßen und Gefängnisse und
klaut uns Fische und Phosphat", sagt Abdallah, der sich dazugesetzt hat,
"wir wollen unsern eigenen Staat." Er ist 1976 als Vierjähriger mit
seinem großen Bruder nach Tindouf geflohen, hat 30 Jahre in den
Flüchtlingscamps in der algerischen Wüste verbracht und kam vor vier
Jahren zurück nach Laâyoune, weil sein Vater krank wurde. Es ist
schwierig, mit einem der Männer ein längeres Gespräch zu führen. Jeder
will seine Geschichte loswerden; es sind Geschichten von Gefängnis,
Folter, Frustration, Demütigung. Die Frauen schweigen, sitzen da in
ihren Melhfas, den weiten, farbigen Gewändern, und bereiten den nächsten
Tee zu, flicken Zeltwände, spülen Geschirr, beruhigen schreiende
Kinder. Wie lange noch wollen die 20000 Sahauris hier in der Wüste
ausharren - ohne fließendes Wasser, ohne Elektrizität, ohne sanitäre
Anlagen? "Bis unsere Forderungen erfüllt sind", antwortet Emmama. Bis
jeder eine Arbeit hat, wo es doch in ganz Marokko Millionen Arbeitslose
gibt? Bis jeder eine anständige Wohnung hat, wo doch allein in
Casablanca Hunderttausende in Slums leben? Wie laufen denn die
Verhandlungen? "Wir verhandeln nicht, solange wir umzingelt sind", kommt
die Antwort aus mehreren Kehlen. Doch die Regierung behauptet, es werde
verhandelt. "Sie lügt. Du darfst der Presse kein Wort glauben", warnt
Abdallah. Alle hier betonen - wie abgesprochen -, dass sie nur
soziale Forderungen hätten: Arbeit und Wohnung. Doch jedes Gespräch
mündet sehr schnell in die Politik. Es geht um das von der Uno verbürgte
Recht auf Selbstbestimmung, auf einen eigenen Staat. Niemand bekennt
sich offen zur Polisario. Dass hier alle mit ihr sympathisieren, ist
offenkundig. Doch sie wissen: Würden sie eine Fahne der Polisario oder
ihres Pseudostaates hissen, würden die Militärs das Lager sofort räumen.
In Marokko darf man heute vieles sagen, vieles schreiben. Aber es gibt
zwei Tabus: die Person des Königs und die territoriale Integrität. Wer
offen für die Abschaffung der Monarchie eintritt oder für die Abspaltung
der annektierten Westsahara, landet im Gefängnis. Dass die
Sahrauis die Zeltstadt errichten konnten, sei ein Beweis für das
freiheitliche Klima, das in Marokko herrsche, verkündete der Sprecher
des Kommunikationsministers. Weshalb lässt man die Journalisten dann
nicht hinein? Und vor allem: Warum hat man Lgarreh Ennajem erschossen?
Der 15-Jährige wurde wenige Meter vor dem Eingang des Lagers von Kugeln
durchsiebt. Aus dem Auto, in dem er saß, sei das Feuer auf die Militärs
eröffnet worden, behaupteten diese, ohne einen Beweis vorzubringen. Das
ist höchst unwahrscheinlich. Möglicherweise aber hielt sein Auto bei
einer Militärkontrolle nicht an. "Die tödlichen Schüsse fielen am
Sonntagabend um halb sechs", sagt Bana Hmeidi, die Mutter des Jungen.
Sie ist zusammen mit zwei Töchtern zum Treffen in einem Viertel von
Laâyoune erschienen. Alle drei haben verheulte Gesichter. "Man hat mir
meinen Sohn nicht gezeigt, ich durfte nicht ins Leichenschauhaus", klagt
die 50-jährige Frau, "man hat ihn schon am Montagabend kurz vor
Mitternacht heimlich beerdigt. Ich weiß nicht einmal, wo er liegt."
Inzwischen hat sie bei der Staatsanwaltschaft Strafantrag gegen
Unbekannt gestellt. Dass diese den Fall ernsthaft untersucht, glaubt
niemand. Die meisten Sahrauis finden, die Uno müsse sich der Sache
annehmen. Überhaupt sei es Zeit, dass sie sich auch mit Misshandlung und
Folter befasse. "Wir sind an unser Mandat gebunden", sagt Hany
Abdel-Aziz in seinem geräumigen Büro in Laâyoune. Der Ägypter ist
Sondergesandter des UN-Generalsekretärs und Chef der Minurso, der
UN-Mission für ein Referendum in der Westsahara. "Die Menschenrechte
werden hier grob verletzt wie in allen arabischen Ländern", gibt er
freimütig zu, "das sage ich Ihnen als Araber. Aber dies zu untersuchen
oder gar zu stoppen, gehört nun mal nicht zu unserem Mandat." Die 203
Blauhelme sollen den Waffenstillstand überwachen und für die
Durchführung eines Referendums sorgen. Der Waffenstillstand hält seit 19
Jahren. Doch eine Volksabstimmung über die Zukunft der Westsahara liegt
ferner denn je. "Ich bin der Erste, der für die Durchführung eines
Referendums ist", sagt Abdel-Aziz, "aber wir von der Minurso können es
nicht erzwingen." Die Uno hat seit 1965 in Dutzenden von
Resolutionen das Recht der Sahrauis bestätigt, in einem Referendum zu
entscheiden, ob sie einen eigenen Staat oder den Anschluss an Marokko
wollen. Lange haben sich Polisario und Marokko darüber gestritten, wer
abstimmungsberechtigt ist. 1975 gab es in der Westsahara nur Sahrauis
und Spanier, beschäftigt in der Armee oder der Kolonialverwaltung. In
den vergangenen 35 Jahren hat Marokko jedoch gezielt und massiv die
Besiedlung der Westsahara mit Marokkanern betrieben. Und so sind die
Sahrauis in der früheren Kolonie heute eine Minderheit. Trotzdem lehnt
Marokko ein Referendum ab. "Wir werden auf kein Sandkorn der Westsahara
verzichten", tönte jüngst König Mohammed VI. Marokko sitzt den
Konflikt aus. Die EU hat mit dem Königreich vor Jahren ein
Fischereiabkommen geschlossen, das den Fangflotten erlaubt, auch in den
Gewässern der Westsahara zu fischen - ein völkerrechtswidriges Abkommen,
wie ein Rechtsgutachten des EU-Parlaments feststellte, weil die nie
entkolonialisierte Westsahara, "die letzte Kolonie Afrikas", gar nicht
zu Marokko gehört. Doch wen kümmert es? Nur Algerien, das faktisch die
Polisario kontrolliert, macht sich für die Sahrauis stark, vor allem aus
eigenen Interessen. Das Land strebt nach einem Zugang zum Atlantik. Im Elend In Laâyoune, wo die Hälfte der Bevölkerung der
Westsahara lebt, sind die Sahrauis heute nicht nur eine Minderheit,
sondern auch die Unterschicht. Die Jobs im öffentlichen Dienst geben die
Marokkaner den Marokkanern. Kaum einer der Sahrauis, die in der Wüste
ihr Lager aufgeschlagen haben, hat eine geregelte Arbeit. Viele wohnen
in der Stadt in elenden Behausungen, die kaum mehr Komfort bieten als
ein Leben im Zelt. Die Regierung in Rabat befürchtet Unruhen, wie vor
fünf Jahren, als es in Laâyoune zu einem wochenlangen Aufstand der
Sahrauis kam. Schon hat der - marokkanische - Gouverneur den
Lagerbewohnern 600 Parzellen für Wohnungsbau samt Kleinkrediten in
Aussicht gestellt. Auch bietet er in Härtefällen umgerechnet 130 Euro
Arbeitslosengeld an. "Man versucht, uns zu ködern", sagt der Mann im schwarzen Turban mit Gesichtsschleier, der mich aus dem Lager herausschmuggelt, "aber es gibt keine Deserteure. Wir verhandeln erst, wenn die Blockade aufgehoben ist und die Journalisten freien Zutritt haben." © Berliner Zeitung |