Eine paradiesische Diktatur |
Für Touristen ist Tunesien ein exotisches Urlaubsziel, für Einheimische ein
Polizeistaat. Nun lässt sich Ben Ali wieder einmal zum Staatschef wählen Thomas
Schmid, Berliner Zeitung, 23.10.2009 TUNIS. Mohamed
Talbi zählt zu den ganz großen Intellektuellen Tunesiens. Ein unabhängiger
Geist, ein scharfsinniger Denker mit Esprit, ein Kämpfer für die
Menschenrechte. Dann die Überraschung. In seinem recht luxuriösen Haus in einem
Vorort von Tunis sagt der Historiker seelenruhig: "Wir lieben ihn alle,
und deshalb wählen wir ihn alle. Die Oppositionellen heucheln, im Herzen sind
auch sie für ihn." Eine geschlagene halbe Stunde lang preist er den
tunesischen Ministerpräsidenten in den höchsten Tönen. "Zini El Abidine
Ben Ali ist unser Erlöser. Er hat uns allen geholfen. Ohne ihn wären wir
nichts. Gott hat ihn uns geschickt." Talbi ist 88 Jahre alt. Er redet mit
Fispelstimme, ist klein, wirkt zerbrechlich, sitzt zusammengekauert im Stuhl,
als wollte er sich vom großen Raum verschlucken lassen. Ist er senil geworden?
Oder hat er bloß Angst? Am kommenden
Sonntag wählt Tunesien ein neues Parlament und den alten Präsidenten. Ben Ali
will zum vierten Mal sein eigener Nachfolger werden und sein fünftes Mandat als
Präsident antreten. Er ist der zweite Staatschef in der 53-jährigen Geschichte
des unabhängigen Tunesiens. 1987 hatte er seinen Vorgänger Habib Bourguiba, der
ihn zum Sicherheitschef, dann zum Innenminister und schließlich zum
Premierminister ernannt hatte, für amtsunfähig erklären lassen und in einem
unblutigen Putsch die Macht an sich gerissen. Seither herrscht er unumschränkt.
Tunesien ist ein Polizeistaat mit einer demokratischen Fassade. Das Gespräch
mit Talbi scheint nicht zu fruchten. Der alte Mann wird nicht müde, die
Qualitäten des Präsidenten herauszustreichen, seine Güte, seine Vernunft, seine
Liebe zum Volk. Er scheint die Verwirrung, die seine Worte anstiften, zu
genießen. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Der Denker hat sich nur einen
bösen Scherz erlaubt. "Ben Ali ist schlimmer als Gott", behauptet er
unvermittelt, "denn Gott kennt immerhin Erbarmen. Das Touristenparadies
Tunesien ist eine Diktatur. Das freie Wort ist verboten. Wer schweigt, macht
sich schuldig. Schreiben Sie den deutschen und europäischen Politikern ins
Stammbuch: 'Mit eurem Schweigen unterstützt ihr die Diktatur.'" Talbi
sitzt nun aufrecht in seinem Stuhl, behauptet mit fester Stimme: "Wir
leben in einem mentalen Gulag." Vier Kandidaten
bewerben sich um die Präsidentschaft, vier Parteien um Sitze im Parlament. Bei
den letzten Wahlen, 2004, ließ sich Ben Ali 94,48 Prozent der Stimmen zuweisen.
Das war recht bescheiden. Fünf Jahre zuvor hatte er sich noch 99,44 Prozent
genehmigt. Neben Ben Ali haben zwei Satellitenparteien ihre Kandidaten
aufgestellt. Der eine von ihnen, Mohamed Bouchiha, meinte zu Wochenbeginn über
Ben Ali: "Die politische Ethik gebietet es, die Hauptrolle zu
unterstreichen, die Präsident Ben Ali für die globale Entwicklung des Landes
unaufhörlich einnimmt." So klingen tunesische Blockflöten. Der vierte
Kandidat heißt Ahmed Brahim. Er kandidiert für die aus der Kommunistischen
Partei hervorgegangene Ettajdid, die Bewegung für die Erneuerung. In der
Parteizentrale, einer Zweizimmerwohnung, strahlt der 63-jährige Professor der
Linguistik, als ob ihm der Sieg gewiss sei. Dann sagt er mit gequältem Lachen:
"Ich kenne natürlich die Machtverhältnisse, ich weiß, dass ich keine
Chance habe." Brahim ist mit 19 Jahren in die Kommunistische Partei
Tunesiens eingetreten. Er will auch jetzt kämpfen, ein Zeichen setzen. In
Deutschland, sagt er, wäre er Mitglied der Partei Die Linke. Nejib Chebbi, 65, der Präsidentschaftskandidat der stärksten Oppositionspartei, der sozialdemokratisch orientierten PDP, wurde legal ausgebootet. Nachdem er im Februar seine Kandidatur erklärt hatte, ließ Ben Ali im März das Parlament ein Gesetz verabschieden, das nur Kandidaten zulässt, die seit mindestens zwei Jahren ihre Partei führen. Es war eine Lex Chebbi. In der vergangenen Woche hat die PDP auch ihre Beteiligung an den Parlamentswahlen abgesagt. "Man hat uns in 19 von 26 Wahlkreisen nicht zugelassen", gibt der verhinderte Präsidentschaftskandidat zu Protokoll, "auch in der Hauptstadt nicht." An den
Machtverhältnissen ändert der Rückzug der PDP ohnehin nichts, da drei Viertel
aller Sitze - so will es das Gesetz - nach dem Mehrheitswahlrecht verteilt und
mit Sicherheit allesamt an die regierende Staatspartei RCD fallen werden. Ein
Viertel der Sitze geht an die Parteien der "Opposition", proportional
zu ihrer Stärke. Mit diesen Mandaten wird das Regime, das sich bei der
Abwicklung der Wahl nicht in die Karten schauen lässt, vor allem die
Blockflöten belohnen. Von einer fairen und freien Wahl kann nicht die Rede sein. Eine internationale Überwachung der ganzen Veranstaltung stand nicht einmal zur Debatte. Talbi, Brahim
und Chebbi sind sich in einem einig: Frankreich, Deutschland, Europa, die USA,
sie alle haben sich mit dem Polizeistaat Tunesien arrangiert. Wichtiger als
demokratische Verhältnisse ist ihnen - spätestens seit dem 11. September 2001 -
die Sicherheit, die Bändigung der islamistischen Gefahr. In Tunesien ist die
moderate islamische Partei verboten. Einige hundert, vielleicht über tausend
jugendliche Dschihadisten oder Salafisten, jedenfalls islamistische
Extremisten, sind in Haft. Ben Ali sorgt
für Sicherheit und Stabilität. Sein Porträt hängt seit 22 Jahren
zehntausendfach in Kneipen, Frisierstuben, Ämtern, Hotels. Man hat sich daran
gewöhnt. Deshalb kleben nun zusätzlich an Mauern, Straßenpfählen, Schaufenstern
rot umrandete Plakate, auf denen Ben Ali die rechte Hand aufs Herz hält, ein
Gestus, der sich mit "ich liebe euch" übersetzen lässt. Ansonsten
findet kein Wahlkampf statt. Ben Ali hat ihn nicht nötig, und Brahim findet in
der Millionenstadt seit zwei Wochen keinen Saal . Alles ausgebucht, heißt es.
Niemand will Ärger mit dem Regime. Ärger, wie sich
ihn Sihem Bensedrine seit Jahren einhandelt. Die berühmteste tunesische
Dissidentin ist Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheiten. Das Büro der
Organisation, die sich seit über einem Jahrzehnt vergeblich um einen legalen
Status bemüht, liegt im Stadtzentrum. Etwa zwei Dutzend Polizisten in Zivil
sind in der knapp hundert Meter langen Sackgasse positioniert und hindern jeden
Einheimischen am Zutritt zum Gebäude. Ausländer hingegen werden nicht
behelligt, nur aufmerksam beobachtet. Doch Bensedrine lässt den vereinbarten
Interview-Termin platzen. Sie zieht die Ärmel des Pullovers hoch und zeigt die
Hämatome auf dem Oberarm. Sie will bei der Polizei Anzeige erstatten. Vor einer
Stunde wurde sie bei einer Pressekonferenz zusammengeschlagen - als einzige
Anwesende, wortlos, ohne Vorankündigung. Es waren Polizisten in Zivil. Daran gibt es für sie keinen Zweifel. Es ist der mutigen Menschenrechtlerin bereits öfter passiert. Man hat auch schon die Bremsleitungen ihres Autos angesägt und einen Hund am Fensterkreuz ihrer Wohnung aufgeknüpft. Omar Mestiri, ihr Mann, fand eines Tages einen geköpften Vogel unter dem Scheibenwischer seines Autos, mit einem Brief, in dem seine Gattin als Hure beschimpft wurde. Doch Bensedrine
lässt sich nicht einschüchtern. Sie macht weiter, gibt ihre Zeitschrift Kalima
heraus. Nicht auf Papier, nur im Internet. Zwar ist die Website in Tunesien
gesperrt. Wer technisch versiert ist, kann sie jedoch dennoch lesen, andere
lassen sich die Artikel von Freunden aus dem Exil mailen. Seit Jahresbeginn
produziert die Kalima-Redaktion über Satellit auch Radiosendungen, die im
Internet abrufbar sind. Es sind kleine Breschen in die Mauer des Medienmonopols
der Machthaber. Sämtliche Fernseh- und Radiosender wie auch Tageszeitungen
gehören entweder dem Staat oder der Partei oder Sakhr Materi, dem mächtigen
Schwiegersohn des Präsidenten. Wo es an
zuverlässigen Informationen mangelt, sprießen die Gerüchte. Der 73-jährige
Präsident ist krank, heißt es. Seit mindestens drei Jahren schon. Er soll an
Prostata-Krebs leiden. Aber vielleicht ist es doch etwas anderes. Wird Ben Ali
in Deutschland behandelt oder auf Malta? Wer wird ihm folgen? Sakhr Materi, der
bald die erste islamische Bank im Land eröffnen wird? Oder Leila Trabelsi, die
Ehefrau des Präsidenten, die sich politisch immer mehr in den Vordergrund
drängt? Hat sie nicht längst die eigentliche Macht inne und ist Ben Ali
vielleicht nur noch der Hampelmann? "Die Macht des Regimes", erklärt Ridha Kefi in der Lobby eines Luxushotels, "basiert auf Angst und Belohnung für Gehorsam." Dass sich zwei Männer just am Nebentisch niedergelassen haben, obwohl fast alle andern Tische frei sind, stört den Journalisten nicht. Er ist die Allgegenwart von Polizeispitzeln gewohnt. "Wer nicht spurt, kriegt Ärger", sagt Kefi, "er kriegt keine Sozialwohnung, keinen Kredit bei der Bank, er geht bei der Arbeitsvergabe leer aus, seine Kinder erhalten keinen Studienplatz." Ridha Kefi war
Chefredakteur einer Wochenzeitung, bis ihn der Verleger auf Druck hoher
politischer Kreise und aus Angst, bei der Zuteilung staatlicher Inserate leer
auszugehen, entließ. Heute hat er keinen Presseausweis mehr. Und einen
Wahlausweis hat er trotz Nachfrage keinen erhalten. Also kann er an der Wahl
nicht teilnehmen. Seinen Eltern hingegen wurden Wahlunterlagen zugeschickt, obwohl sie gar keine angefordert hatten. Auch Taoufik
Ben Brik, 48 Jahre alt und das enfant terrible der tunesischen
Kulturschaffenden, hat keinen Wahlausweis. Dabei würde er gern selbst Präsident
werden. Wie schon vor fünf Jahren. Damals hatten Günter Grass, Werner Herzog,
Gabriel García Marquez, Bob Dylan, Woody Allan und viele andere Künstler mit
ihrer Unterschrift die symbolische Kandidatur des Schriftstellers unterstützt.
Es war ein Gag, ein Protest gegen die Farce des Regimes. Im Jahr 2000
hatte Ben Brik mit einem anderthalbmonatigen Hungerstreik gegen die
Beschränkung seiner Reisefreiheit und seiner Meinungsfreiheit protestiert und
weltweit Aufsehen erregt. Einige seiner Romane sind im renommierten Pariser
Verlag La Découverte erschienen. Er legt sie alle auf den Tisch. Die Bücher
tragen Titel wie "Ich werde nie abhauen", "Eine so süße
Diktatur" und "Ben Brik Präsident". Jetzt will er wieder
Präsident werden. Wieder sucht er Unterschriften. Die erste hat er bereits. Sie
stammt, wenn man dem Schreiben glauben will, das er dem Besucher unter die Nase
hält, vom "scheidenden Präsidenten, seiner Exzellenz Zini El Abidine Ben Ali". © Berliner Zeitung |