Straßenkämpfe nach der friedlichen Revolution |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 17.01.2011
TUNIS. Auf der Avenue Habib Bourguiba im Zentrum der tunesischen Hauptstadt hat die Armee massiv Stellung bezogen. Vor dem Innenministerium und vor der französischen Botschaft stehen schwere Schützenpanzer. An einigen Seitenstraßen, die in den für den Verkehr inzwischen gesperrten Prachtboulevard münden, entscheiden zivil gekleidete Personen mit mächtigen Holzprügeln in der Hand, wer durchgelassen wird. Anderswo ist der Zugang wiederum frei. Es ist unwichtig. Hunderte knüppelbewehrter Zivilpolizisten haben hier ohnehin alles unter Kontrolle. Die Geschäfte sind schon seit drei Tagen ausnahmslos geschlossen. Die zahlreichen Straßencafés ebenso. Die quirlige Avenue Habib Bourguiba, wo sonntags in gewöhnlichen Zeiten Tausende flanieren, ist ausgestorben. Aber die Zeiten sind nicht
gewöhnlich. Der langjährige Präsident des Landes, Zine el Abidine Ben
Ali, ist am Freitag nach Saudi-Arabien geflüchtet, nachdem er
vorübergehend Premierminister Mohamed Ghannouchi als seinen Nachfolger
eingesetzt hatte. Doch der blieb keine 24 Stunden in seinem neuen Amt.
Der Verfassungsrat ernannte am Sonnabend - nach Artikel 57 der
Verfassung, der den Fall eines Machtvakuums regelt - den
Parlamentspräsidenten Foued Mebazaa zum Staatspräsidenten. Mebazaa, 77
Jahre alt und Sportminister unter Ben Alis Vorgänger Habib Bourguiba,
gilt als braver Gefolgsmann des geflüchteten Despoten. Am Sonnabend
betraute er Ghannouchi mit der Bildung einer Koalitionsregierung. Der
Premier traf sich am Sonntag mit Oppositionspolitikern. Spätestens in
zwei Monaten müssen laut Verfassung Präsidentschaftswahlen stattfinden. Ben
Alis Anhänger wüten weiter Über ganz Tunesien wurde der
Ausnahmezustand verhängt, ab 17 Uhr gilt eine strikte Ausgangssperre.
Die verstärkte Präsenz der Armee wird von den meisten Tunesiern
gutgeheißen. Die Streitkräfte haben keinen schlechten Ruf. Sie waren
nicht in die Repression involviert, während die Polizei als korrupt und
brutal gilt. Dass die Armee am Flughafen offenbar die Ausreise
hochkorrupter Mitglieder des Familien-Clans von Ben Ali verhinderte,
möglicherweise Hunderte Polizisten von Spezialeinheiten festnahm und nun
auch gegen die Leibgarde Ben Alis vorgeht und deren Chef verhaftete,
mehrt ihren Ruf. Zivilpolizisten und bewaffnete Anhänger der
Regierungspartei, die man hier Milizionäre nennt, verbreiten jedoch auch
nach Ben Alis Flucht Terror. Im Hauptbahnhof von Tunis wurden sämtliche
Fahrkartenschalter und Läden zerstört sowie ein Café und ein Kiosk in
Brand gesetzt. Noch stinkt es nach Rauch. Die Züge fahren nicht mehr.
Vor der Eingangshalle haben Soldaten Stellung bezogen. "Es waren
Milizionäre", sagt der Bahnhofsvorstand, der vor Ort war, mit
Bestimmtheit, "Männer des Regimes, keine Demonstranten, genau wie im
Hôpital Charles Nicolle, glauben Sie mir." Das Hôpital Charles
Nicolle, das zweitgrößte Krankenhaus der Hauptstadt, liegt oberhalb der
Medina, der Altstadt mit ihren überdachten Souks. Auf dem Gelände vor
der Chirurgie-Station diskutiert aufgeregt eine Gruppe von Ärzten. "Sie
kamen nach Inkrafttreten der Ausgangssperre mit Ketten und Eisenrohren
und verlangten Zutritt zum Gelände", berichtet Nadia Kaffel Ben Cherif,
Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, "es waren
Milizionäre." Zusammen mit herbeigeeilten Anwohnern hätten die Ärzte die
Eindringlinge abwehren können. Offenbar handelte es sich um einen
Racheakt. Über 5000 Mitarbeiter verschiedener Krankenhäuser hatten am
Freitag hier oben auf einer Demonstration den Rücktritt Ben Alis
verlangt. In La Marsa allerdings hat auch die andere Seite
zugeschlagen. La Marsa ist der Nobelvorort von Tunis. Hier, direkt am
Meer, etwa zwanzig Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, hat der
verzweigte Clan Ben Alis und seiner Ehefrau Leila Trabelsis seine
Villen. Rached Achour kennt sie alle, denn sie haben in seinem Laden
Fisch, Garnelen und Muscheln gekauft. "Leila Trabelsi", sagt der
Fischhändler, "kam aus der untersten Unterschicht, sie war Friseuse, sie
musste in ihrer Kindheit vieles entbehren, vielleicht ist sie deshalb
so raffgierig geworden." Dann zeichnet Achour ein Organigramm des Clans:
Leila Trabelsi, ihr Neffe Imed, ihre Brüder Med, Mourad und Monsef,
dessen Sohn Moez, ihre Schwestern und deren Ehemänner ... 28 Namen
hängen am gekritzelten Stammbaum, dann ist das Blatt voll und Achour
bittet um noch einen Zettel, denn die Verwandten der Verwandten sind
längst nicht alle aufgezählt. Mindestens neun Angehörige des Clans
habe die Armee, die am Freitag den Flughafen vorübergehend schloss, an
der Ausreise gehindert, behauptet Achour. Und Imed Trabelsi sei in der
Abflughalle getötet worden. Am Abend wird der Tod des ersten Mitglieds
der Familie des geflüchteten Präsidenten offiziell mitgeteilt. Imed
Trabelsi, von Frankreich im Zusammenhang mit dem Diebstahl einer
Luxusyacht polizeilich gesucht, war vor Kurzem Bürgermeister von La
Goulette geworden. Dort soll der bedeutende Frachthafen erweitert werden
und es winke viel Geld, behaupten die Leute. Ungefähr 20 Villen
wurden in La Marsa geplündert und zum Teil in Brand gesteckt. "Sie
gehörten alle dem Trabelsi-Clan", behauptet Achour. Die ersten beiden
Häuser stehen keine zehn Fußminuten vom Fischladen entfernt. Sie sind im
neoklassischen Stil erbaut. Die Fenster sind eingeschlagen, im Garten
liegen zerbrochene Möbel. Einige Mauern sind rußgeschwärzt. Bürgerwehr
im Badeort Auf der Hauptstraße, die zum Badeort Gammarth führt,
gibt es über ein Dutzend Straßensperren aus Betonklötzen,
Plastikstühlen, Blumentöpfen und Abfalleimern, errichtet von Anwohnern.
Die Menschen haben Angst vor Plünderern. Sie stehen da mit langen
Stöcken, Ketten, Schaufeln und Pickeln, um ihre Habe zu verteidigen:
Betagte Männer, junge Frauen, Halbwüchsige beiderlei Geschlechts. "Die
Gewerkschaft hat uns aufgerufen, uns kollektiv zu verteidigen", sagt
Nina, eine schmächtige Frau mit einer großen Axt in den Händen, "gestern
Nacht kamen Räuber und brachen hier überall in unsere Häuser ein. Wir
werden nun die ganze Nacht Wache halten." Auch der Ministerpräsident
hatte dazu aufgerufen: Die Polizei könne die Sicherheit nicht gewähren -
die Leute glauben, dass sie es auch gar nicht will. Der Rückweg
in die Stadt führt über Carthage, das alte Karthago. Hier residierte bis
vor drei Tagen Ben Ali, und hier ist ein Supermarkt abgebrannt. Auch er
gehörte dem Trabelsi-Clan. Dutzende Autos fahren am Sonntagnachmittag
vor und laden ein, was übriggeblieben ist. Die Lebensmittel sind
schließlich vielerorts knapp geworden. Zurück im Zentrum. Die
Avenue Habib Bourguiba ist menschenleer. Vor der französischen Botschaft
fallen zwei Schüsse. Weitere Panzerfahrzeuge fahren vor. Die Soldaten
sind nervös und rennen zum Teil mit gezückten Pistolen über den
Bürgersteig. Von Auseinandersetzungen zwischen Zivilpolizisten und
Soldaten ist die Rede, vielleicht sind es auch Angehörige der Leibgarde
Ben Alis. Niemand weiß Genaues. In den Hauseingängen kauern Menschen. Es
fallen weitere Schüsse, keine Salven, aber Dutzende von Einzelschüssen,
immer wieder, seit einer halben Stunde schon. Heckenschützen? Am
Freitag hatten hier über zehntausend Menschen den Sieg über Ben Ali
gefeiert. |