Die Mühlen der Freiheit |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.03.2011 Auf dem Kasbah-Platz von Tunis kampieren an die tausend Menschen
für Reformen. Am Sportpalast dagegen demonstrieren täglich ebenso viele
für Ruhe und Ordnung. Die Jasmin-Revolution droht die tunesische
Gesellschaft zu spalten. TUNIS. Das Herz der Revolution schlägt auf dem Kasbah-Platz am oberen Ende der Medina, der Altstadt von Tunis, Zwischen dem Dar El Bey, einst Residenz des türkischen Statthalters, heute Amtssitz des Ministerpräsidenten, und dem Finanzministerium - dem "Diebstahlministerium", wie eine Plakette auf der Mauer verkündet - kampieren seit zwei Wochen an die tausend Personen. Nachts ist es empfindlich kalt. Tagsüber regnet es oft. Die Menschen liegen eng zusammen, in dicke Decken gewickelt. Vor einem Zelt sind sechs Fotos ausgehängt. "Es sind sechs Märtyrer", erklärt Afif pathetisch. Der 25-jährige Telekommunikationstechniker hat ein Diplom in der Tasche, ist arbeitslos und schlägt sich als Taxifahrer durchs Leben. Wie viele hier hat er sich in eine tunesische Fahne gehüllt. Auch er war auf der Demonstration, bei der vor einer Woche sechs Menschen erschossen wurden. "Seien
wir realistisch! Verlangen wir das Unmögliche!" Che Gueveras berühmtes
Diktum, Leitspruch der Rebellen vom Pariser Mai '68, ziert die Fassade
des Finanzministeriums. Ansonsten ist das auf Plakaten und Mauern am
häufigsten verwendete Wort "dégage!" - tritt ab, zieh Leine, verpiss
dich! Das wiederum hat sich als sehr realistische Forderung erwiesen.
"Ben Ali, dégage!" hatten am 14. Januar Zehntausende auf dem zentralen
Boulevard von Tunis geschrien. Noch am selben Abend suchte der verhasste
Präsident das Weite und setzt sich nach Saudi-Arabien ab. Afif war
dabei. Die Jasmin-Revolution hatte gesiegt, sie war aber noch lange
nicht zu Ende. Sechs Wochen lang hieß es danach "Ghannouchi, dégage!"
Dann trat auch der Ministerpräsident von der Bühne ab, der schon zwölf
Jahre lang dasselbe Amt unter Ben Ali innehatte. Afif freute sich. Demo mit Krawatte Die Ironie der Geschichte: Ben Alis
Nachfolger Fouad Mebazaâ ist 77 Jahre alt und Mohammed Ghannouchi wurde
durch den 84-jährigen Béji Caid-Essebsi ersetzt. Den jugendlichen
Rebellen wurden Opas vorgesetzt. Gewiss, beide haben staatsmännisches
Format, gelten als integer und verfügen über langjährige Erfahrung in
Staatsapparaten. Das gibt auch Afif zu und klagt dann verzweifelt: "Aber
das ist doch unsere Revolution!" Wem gehört die Revolution?
Allein der "Kasbah", den tausend Personen, die seit zwei Wochen die
Regierung erfolgreich unter Druck setzen, weil sie notfalls auch 100000
Menschen mobilisieren? Vor dem Sportpalast von El Menzah, einem noblen
Außenviertel von Tunis, sieht man das anders. Hier demonstriert seit
Montag täglich zwei Stunden die "schweigende Mehrheit", von der
Ghannouchi in seiner Rücktrittsrede gesprochen hatte. Es sind etwa
gleich viel Leute wie auf dem Kasbah-Platz. Doch ist es eine andere
Gesellschaft. Viele tragen Krawatte. Demonstriert wird zwischen 17 und
19 Uhr. Vorher arbeitet man schließlich. Man will ja ein neues Tunesien
aufbauen. Das wollen die Jugendlichen auf dem Kasbah-Platz gewiss auch,
bloß haben die meisten von ihnen eben keine Arbeit. "Die 'Kasbah'
spricht nicht für das Volk", sagt der Buchhalter Mohamed Hachicha, einer
der Organisatoren der "schweigenden Mehrheit", die nicht mehr schweigen
will. "Wir maßen uns ja auch nicht an, für das Volk zu sprechen." Die
Handelsdirektorin Ghaya Elfessi, die ebenfalls zum Organisationskomitee
gehört, meint: "Ben Ali war ein Dieb, aber Ghannouchi hat versucht, im
Stillen für das Volk das Beste zu tun." Unter den Demonstranten hält
einer ein selbst gemaltes Plakat hoch: "Weg mit Jrad" (dem
Gewerkschaftschef), "Weg mit Hama Hammami" (dem Chef der Kommunistischen
Partei), "Weg mit den Extremisten", "Weg mit dem sogenannten Komitee
zum Schutz der Revolution". In diesem haben sich linke Parteien, die
Anwaltskammer, die Gewerkschaft und die moderate islamistische Ennahda
zusammengeschlossen. "Ich warne vor dem Terror der Straße", hat ein
anderer auf sein Jackett geheftet. Aber es gibt auch versöhnlichere
Gesten. Eine Frau, ganz in Schwarz gekleidet und auf Bleistiftabsätzen,
hält lächelnd ihren Pappkarton vor die Kamera, auf dem steht: "Kasbah,
ich liebe dich - trotz unserer Meinungsverschiedenheiten." Sind es
die alten Kräfte, die Funktionäre der stillgelegten Staatspartei RCD,
die sich hier versammeln, wie Afif behauptet hatte, die Verlierer der
Jasmin-Revolution? Dieselben Kräfte, die die Habenichtse, die armen
Teufel, bezahlten, damit sie die friedlichen Massendemonstrationen vom
vergangenen Wochenende sprengten und in der Innenstadt kleine Läden
zertrümmerten? Dass nicht die "Kasbah" randalierte, sondern von wem auch
immer gesteuerte Jugendliche, die die Polizei zum Teil wohlwollend
gewähren ließ - daran gibt es inzwischen keine vernünftigen Zweifel
mehr. Wie schon am Tag nach der Jasmin-Revolution im Schutz der
Ausgangssperre Milizen des alten Regimes plünderten und für Terror
sorgten, so versuchen auch jetzt obskure Kräfte immer wieder, Unruhe zu
schüren, um bei der Bevölkerung die Sehnsucht nach Ordnung zu
mobilisieren. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sie nicht nur in der
"schweigenden Mehrheit" aktiv mitmischen, sondern ihre Spitzel auch in
der "Kasbah" haben - als Provokateure, die zur Gewalt anstacheln. Auf
dem Kasbah-Platz ist man sich des Problems bewusst. Der sympathische,
chaotische Haufen, der hier zusammengekommen ist, bemüht sich sehr, das
Bild eines Bürgerschrecks loszuwerden. Mehrere Putzkolonnen sind
permanent mit Schaufel und Besen unterwegs. Seit unbekannte Leute mit
Messern aufgetaucht sind, tastet ein Ordnungsdienst auch schon mal
verdächtige Personen auf Waffen ab. Und ein Informationskomitee
vermittelt Passanten und den wenigen Touristen, die sich hierher wagen,
die Forderungen der "Kasbah": Rücktritt der gesamten provisorischen
Regierung, Auflösung des Parlaments und Errichtung einer
parlamentarischen Republik. Nachdem der Präsident am Donnerstag Wahlen
für eine Verfassungsgebende Versammlung für den 24. Juli angekündigt
hat, will man das zweiwöchige Sit-In nun mit einer Riesenfete beenden.
"Wir hören nicht auf, wir geben nicht auf", sagt Afif, "wir suspendieren
den Protest nur." Die Jasmin-Revolution droht die tunesische
Gesellschaft zu spalten. Hier der Kasbah-Platz, dort der Platz vor dem
Sportpalast. Auf der einen Seite die Angst, dass das Rad der Geschichte
wieder zurückgedreht wird, die alten Kräfte letztlich obsiegen und alle
Müh und Courage umsonst waren. Auf der andern Seite die Angst, dass
Tunesien im Chaos versinkt, dass die Wirtschaft Einbußen erleidet, dass
Touristen und Investoren ausbleiben. Diese Spaltung der Gesellschaft ist
wohl unvermeidlich, in einer Revolution erst recht. Aber in solchen
Zeiten wittern natürlich die alten Kräfte, die Verlierer der Revolution,
die Konterrevolutionäre ihre Chance. Und die Situation ist in Tunesien
umso brenzliger, als am 17. März die Amtszeit des vom Verfassungsrat
eingesetzten Übergangspräsidenten Fouad Mebazaâ abläuft. "Dann tut
sich ein juristisches Vakuum auf", sagt Iadh Ben Achour. Der agile
Rentner war einst Dekan der juristischen Fakultät der Universität Tunis
und auch Mitglied des Verfassungsrats, der für Ben Ali ein neues
Grundgesetz ausarbeiten sollte. Doch konnte er sich mit seinen liberalen
Vorstellungen damals nicht durchsetzen und verließ 1992 das Gremium.
Heute leitet er die noch von Ghannouchi eingesetzte "Kommission für
politische Reformen und einen demokratischen Übergang". Sie soll den Weg
weisen, wie man von einer Diktatur zur Demokratie findet. "Spätestens
am 17.März wird der Präsident zurücktreten oder ankündigen, dass er
fortan sein Amt nicht mehr unter dem Dach der Verfassung ausübe",
prophezeit Ben Achour. "Er wird die Verfassung aufheben und ein Gremium
einrichten, das Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung
vorbereitet." Diese werde provisorisch als Parlament fungieren und eine
Regierung wählen sowie eine neue Verfassung ausarbeiten und
verabschieden. "Danach" sagt Iadh Ben Achour, "haben wir die zweite
Republik." Vier Monate lang - von Mitte März bis Mitte Juli - wird
Tunesien also mit dem Horror vacui leben müssen. Keine Verfassung, kein
Parlament, keine irgendwie demokratisch legitimierte Regierung. Eine
Revolution war in der alten Verfassung eben nicht vorgesehen.
Fallstricke gibt es genug. Wer wird über den Wahlmodus - Verhältnis-
oder Mehrheitswahlrecht - entscheiden? Und es gibt auch Alternativen zu
Ben Achours Road Map. Die Linkspolitiker Nejib Chebbi und Ahmed Brahim,
die einzigen beiden Vertreter von Parteien im Regierungskabinett, sind
am Dienstag zurückgetreten. Sie hätten vermutlich lieber als ersten
Schritt zum Übergang einen Präsidenten gewählt - und wären wohl selbst
gern Präsident geworden. Chebbi, Brahim, Ben Ali, Ghannouchi, Ben
Achour, Mezabaâ, Caid-Essebsi - von allen Politikern, die oben erwähnt
wurden und die heute im Zentrum der öffentlichen Debatte stehen, ist
keiner unter 60Jahre alt. Die Diktatur hat das Entstehen einer
alternativen jüngeren politischen Elite verhindert. Und die jungen
Menschen auf dem Kasbah-Platz haben keinerlei politische Erfahrung,
schon gar nicht in der Verwaltung. "Sie sind in gewisser Weise naiv",
sagt Nouri Bouzid und meint es gar nicht abwertend, "sie haben keine
Taktik, das macht sie für Manipulationen anfällig." Bouzid, der mit
seinem Hut, dem Stoppelbart und den Zahnlücken den Charme eines
gealterten Bohémien ausstrahlt, ist einer der bekanntesten
Filmregisseure Tunesiens. Er hat viel Sympathien für diese rebellische
Jugend und hofft, dass sie nie vergisst, wofür sie gekämpft hat. "Wir
haben ihr die freie Luft zu verdanken, die wir heute atmen, ohne sie
würden wir noch immer tuscheln in den Cafés, statt offen zu
diskutieren." Bouzid weiß dies zu schätzen. Er selbst hätte sich
fünf Jahre Gefängnis gespart, wenn Tunesien in den Siebzigerjahren so
frei gewesen wäre wie heute. Wegen unbotmäßiger politischer Betätigung
kam er unter Ben Alis Vorgänger Bourguiba hinter Gitter. Doch brechen
lassen hat er sich nie. In seinen späteren Filmen sparte er kein Tabu
aus. Er machte Folter, Sextourismus, Pädophilie zum Thema. Das brachte
ihm den Ärger der Zensur und Todesdrohungen ein. Einige Filme konnte er
nur im Ausland zeigen. Auch sein letzter Film war in Tunesien zunächst
verboten. Er zirkulierte nur auf DVD, tausendfach raubkopiert. Dann aber
erhielt "Making of - Kamikaze", gedreht 2006, die Goldene Tanit, den
ersten Preis des Filmfestivals von Karthago. Tanit ist die Schutzgöttin
des antiken Karthago, und der Film durfte öffentlich gezeigt werden. Es
ist ein prophetischer Film. Bahta, ein junger Mann, Breakdancer, kriegt
Ärger mit der Polizei, die Tänzer nicht mag. Er sieht keine berufliche
Perspektive mehr und will schließlich in einem Boot übers Meer nach
Sizilien fliehen. Kein Job, kein Geld, keine Zukunft im eigenen Land und
keine Möglichkeit, nach Europa auszureisen: Das ist für einen Großteil
der tunesischen Jugend die bittere Realität. Da staut sich vieles an. Es
ist eine riesige Frustration, die die Jasmin-Revolution genährt hat.
Der Auslöser war Mitte Dezember die Selbstverbrennung von Mohamed
Bouazizi, einem arbeitslosen Informatiker, der sich als Gemüsehändler
durchschlug. Die Polizei hatte seine Ware auf die Straße geworfen, weil
er das Bestechungsgeld nicht bezahlen wollte. Auch Bahta, die Hauptfigur
in "Making of - Kamikaze", verbrannte sich selbst, wenn auch aus andern
Gründen: aus religiöser Verblendung. Mit Facebook gegen
Ben Ali Lotfi Abdelli, 40, der den jungen Bahta spielt, hat mit
seinem schwarzem Basecap, dem schwarzen Halstuch und dem Einwochenbart
das Outfit eines frechen Ganoven. Blick und Gestik sind fahrig, als ob
er ständig verfolgt würde. Noch immer geht er ungern allein in die
Innenstadt von Tunis. Aus Vorsicht. Er ist sehr bekannt, wegen seiner
Rollen in drei Filmen Bouzids und vor allem wegen seiner
Facebook-Präsenz. Drei Tage vor der Flucht des Diktators postete er:
"Ben Ali, du bist wie ein Joghurt. Verfallsdatum abgelaufen. Wegwerfen.
Dégage!" Heute lacht er darüber. Damals ist er für vier Tage unsichtbar
geworden - aus Angst vor den omnipräsenten Polizeispitzeln. "Es gibt sie
immer noch", sagt er, "sie sind nur auf Tauchstation gegangen." Abdelli,
Sohn von Analphabeten, hat nur sieben Jahre die Schule besucht, dann
wurde er Tänzer wie Bahta, sein Alter Ego. Sein Vorbild ist die deutsche
Tänzerin und Choreografin Pina Bausch. Die spielte zwar in einer
anderen Liga. Aber immerhin hatte er in Paris vor einer Woche eine
Performance vor 11000 Zuschauern. Noch mehr allerdings staunt er über
die neue freie Atmosphäre in seiner Heimat: "Vor drei Monaten hätte man
jeden für verrückt erklärt, der gesagt hätte, die Zustände würden in
drei Monaten so sein, wie sie jetzt sind. Wir hatten gar nicht genug
Zeit, zu verstehen, was ablief." Und dann sagt er: "Wir haben die
Freiheit errungen, aber noch keine Gebrauchsanweisung dafür." |