Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14.01.2013
In kleinen Städten wie Tataouine begann vor zwei
Jahren der arabische Frühling. Jetzt herrschen in Tunesien
die Islamisten - und haben den Winter zurückgebracht
TATAOUINE. Es ist
eine Augenweide: Tücher in leuchtenden Farben. Datteln, Safran und
getrocknete Pfefferschoten, aus denen die scharfe Harissa-Paste
hergestellt wird. Mit ihr würzen die Tunesier Fleisch, Suppe und
Nudeln. In einer Mauernische zwischen zwei Ständen sitzt ein
Mann, eingehüllt in einen Burnus, einen braunen Wollmantel mit
Kapuze, das traditionelle Gewand der Berber, das an eine Mönchskutte
erinnert. Er zerkrümelt braune Blätter, füllt den Kautabak in
Plastikbeutelchen ab. Der Souk, der prächtige Markt, strahlt in allen
Farben. Ansonsten ist Tataouine eine recht trostlose Stadt, eintönig,
grau, staubig, kein Ort, an dem man verweilen mag.
Tataouine
liegt im Süden Tunesiens, 50 Kilometer vom Meer entfernt, am Rand der
Wüste. Nicht von Tunis, der Hauptstadt im Norden, sondern von solchen
Städten im Landesinnern und im vernachlässigten Süden ging die
Jasmin-Revolution aus, die heute vor zwei Jahren - am 14. Januar 2011 -
den langjährigen Diktator Zine el Abidine Ben Ali ins Exil trieb und
den gesamten arabischen Raum erschütterte: In Ägypten stürzte der
Pharao Hosni Mubarak, in Libyen der Führer Muammar al-Gaddafi, und
in Syrien setzt Baschar al-Assad, im Kampf um seine Macht, schon die
Luftwaffe ein. Auch in Tataouine gingen Jugendliche auf
die Straße und forderten Arbeit, Freiheit und "karama", ein Leben in
Würde, ein Ende der "hogra", der täglichen Erniedrigung durch
Schikanen einer allmächtigen Bürokratie. Auch Tataouine bezahlte seinen
Blutzoll. Drei Jugendliche wurden an den letzten beiden Tagen der
Diktatur, am 13. und am 14. Januar, von der Polizei erschossen. Die
"Märtyrer der Revolution" heißen Nadhir Moumen, Mohamed Ben Salah und
Mohamed Dehim, sie waren 26, 20 und 19 Jahre alt. Die Namen kennt jeder
in der Stadt.
Milizen der Partei
"Wir dürfen sie nicht
vergessen", sagt Zorghani Chrif, der im Zentrum von Tataouine das
"Excellence" führt, eine verrauchte Kaffeestube, "ohne
Jugendliche, wie sie, würden wir hier nicht zusammen sitzen und frei
reden." Chrif, 40, ein bulliger Mann mit Schnäuzer und sorgfältig
gestutztem Kinnbart, hat nach der Flucht des Diktators zusammen mit
einigen Freunden sofort ein "Komitee zum Schutz der Stadt"
gebildet. Der Bürgermeister war getürmt, die öffentliche Verwaltung
war zusammengebrochen und die Polizei war von der Bildfläche
verschwunden. Es bestand die Gefahr von Plünderungen. "Wir schützten
die öffentlichen Gebäude, den Marktplatz, Parteiversammlungen", erinnert
sich Chrif, "und auch Hochzeiten - die werden bei uns in Tataouine
ja auf der Straße gefeiert."
Aus dem "Komitee zum Schutz der
Stadt" wurde schon bald eine "Liga zum Schutz der Revolution", die
nun Ende Dezember per Gerichtsbeschluss ihre Tätigkeit für zwei
Monate einstellen musste - wegen Ereignissen, über die noch zu
berichten sein wird. Chrif wäre es lieber gewesen, wenn die Liga gleich
für immer verboten worden wäre. Im Laufe des vergangenen Jahres haben
die Islamisten sie unterwandert und schließlich wurde sie
faktisch zur Miliz der Ennahdha, die im Oktober 2011 die Wahlen
gewonnen hat. Landesweit hatte die islamistischer Partei 37 Prozent
erhalten, in Tataouine waren es 60 Prozent. "Der Süden Tunesiens
ist traditionell konservativ", sagt Chrif, "die Leute sind tief
religiös, und deshalb haben sie Ennahdha gewählt. Auch weil die
Islamisten unter der Diktatur am meisten geblutet haben. Hamad Jebali,
seit einem Jahr Ministerpräsident, war 16 Jahre im Gefängnis, elf
davon in strenger Einzelhaft.
Inzwischen unterhält Ennahdha in
allen 24 Regierungsbezirken "Ligen zum Schutz der Revolution", die
sich oft als Schlägerbanden zur Einschüchterung der Opposition
entpuppen. Aber nur in Tataouine schritt die Justiz ein. Und der
Präsident der örtlichen Liga, Said Chebli, Religionslehrer am Gymnasium,
sitzt jetzt in Haft. Das hat mit dem Mord an Lotfi Nagued zu tun.
Vielleicht war es, juristisch betrachtet, auch nur Totschlag.
Innenminister Ali Lârayedh sprach von einem Herzinfarkt, Staatspräsident
Moncef Marzouki, ein ehemaliger Menschenrechtler, von
Lynchjustiz und der 86-jährige Caid Essebsi, bis zu den Wahlen
Übergangspremier und heute Chef von Nida Tounes, der inzwischen wohl
größten Oppositionspartei, vom "ersten politischen Mord seit der
Revolution". Lotfi, 55 Jahre alt, war Stammgast im
"Excellence". Taher Nagued, Cousin und gleichzeitig Schwager des
Opfers, kommt auch oft her. "Er saß immer am Tisch da hinten", sagt er.
An jenem Oktobertag aber, es ist bald drei Monate her, war Lotfi nicht
hier. Also zogen die rund 200 Anhänger der Liga zum Schutz der
Revolution, die wegen Lotfi vor dem "Excellence" aufmarschiert waren,
weiter zum Büro des Bauernverbandes, dessen lokaler Vorsitzender Lotfi
war."
Kaum hat der Schwager seine Erzählung begonnen, setzt sich
im fast leeren Lokal ein Mann in schwarzer Lederjacke just an den
Nebentisch. Einer mit zu großen Ohren. "Folgen Sie mir ", sagt
Taher und steht auf. Er geht hoch auf die Dachterasse, hier kann man
ungestört reden. Auch das erzählt einiges über Tunesien, zwei Jahre
nach der Revolution.
"Dort vor dem Büro des Bauernverbandes",
setzt er auf der Dachterrasse seine Erzählung fort, "waren inzwischen
über tausend Personen zusammengekommen. Sie schrien "Allahu akbar"
(Gott ist groß) und warfen Steine." Er habe alles genau gesehen, es war
zwölf Uhr mittags und der Mob war keine hundert Meter von seinem
Arbeitsplatz, einem Jugendzentrum, entfernt.
"Ich rief die
Polizeidirektion an. Man sagte mir, die Polizei sei schon längst vor
Ort. Aber sie war nicht da. Ich rief den Armeekommandanten an. Er
versprach, Soldaten zu schicken. Sie kamen schließlich, stiegen aber aus
ihrem Bus gar nicht aus, als Demonstranten das Büro bereits
gestürmt hatten und Lotfi auf die Straße zerrten."
Er muss auf der
Treppe gestürzt sein, wurde mit Fäusten, Holzprügeln und Eisenstangen
traktiert. Er war wohl schon im Koma, als er ins Krankenhaus
gebracht wurde und dort, kaum angekommen, um 13.30 Uhr verstarb.
Lotfi Nagued war nicht nur Präsident des lokalen Bauernverbandes,
sondern auch Chef der örtlichen Sektion von "Nida Tounes", einer
Sammlungsbewegung, die versucht, ein Bündnis der laizistischen
Kräfte zu schmieden. "Nida Tounes" fordert die Auflösung der
"Ligen zum Schutz der Revolution", ein demokratischer Staat dürfe
Parteimilizen nicht tolerieren, dürfe nicht hinnehmen, dass
islamistische Schlägerbanden die Opposition einschüchtern.
Die
örtliche Zentrale von Ennahdha liegt in einem unauffälligen grauen
Gebäude unweit des farbenfrohen Marktes. Koranverse schmücken die
Wand im Empfangsraum. Mohammed Boumkhla gehört der lokalen Führung
der islamistischen Partei an. Er behauptet, die Ligen seien eine von
Ennahdha unabhängige Organisation. Aber man habe eben gemeinsame
Interessen. Der Politiker, der zur Zeit der Diktatur oft im Gefängnis
gesessen hat, wendet sich vehement gegen eine Auflösung der Ligen, weil
die Revolution des Schutzes bedürfe - vor den Angriffen jener, die
"den Prozess" destabilisieren wollen. Vor den Angriffen von "Nida
Tounes", die von Kräften der aufgelösten Partei des geflüchteten
Diktators Ben Ali gesteuert werde. Im Übrigen sei noch gar nicht
geklärt, ob Lotfi bloß die Treppe hinuntergestürzt oder erschlagen
worden sei.
Houga Nagued, 38, Lotfis Frau, schüttelt über solche
Unverfrorenheit resigniert den Kopf. Noch immer wird sie von Islamisten
eingeschüchtert - weil sie nicht schweigen mag. Doch wen interessiert
es, dass sie anonyme Anrufe erhält, dass ihr ein Auto im Schritttempo
folgt, wenn sie die Einkäufe nach Hause trägt? Kein Polizist, kein
Ermittlungsrichter hat sie je vernommen. Der Cousin wurde angehört.
Aber mit ihr hat niemand geredet, sie ist ja nur eine Frau. Dabei hätte
sie einiges über die zahlreichen Drohungen berichten können.
Zwei Wochen vor dem Tod ihres Mannes erschien auf Facebook die
Nachricht: "Lotfi, den Galgen für dich haben wir nun aufgestellt - das
ist die letzte Warnung." Sie hat ihren Mann gebeten, sich von der
Politik zurückzuziehen. Doch der habe gelacht und gesagt,
er lasse sich nicht einschüchtern.
Dann holt Houga eine
CD, legt sie in den Computer. Sie zeigt ein verwackeltes Video, das den
Sturm auf das Büro ihres Mannes zeigt. Lotfi selbst sieht man auf
dem Film nicht, nur Männer, die schreien, auf jemanden einprügeln,
mit Füßen treten. Am Boden muss er gelegen haben, halb tot. Ihr
kommen die Tränen, sie verscheucht ihre Kinder. Sie sollen das nicht zu
sehen, diese entfesselte Gewalt, der ihr Vater zum Opfer fiel. "Hätte
Lotfi doch auf mich gehört!"
Nun steht sie allein mit Nour,
Mohamed, Achraf, Farouk, Saif und Fahad, ihren sechs Kindern im Alter
zwischen zwei und zwölf Jahren. Einkünfte hat sie keine. Jeder
der vier Brüder gibt ihr monatlich hundert Dinar, bleiben nach Abzug der
Miete noch 250Dinar, umgerechnet 125 Euro. Fast 20 Jahre lang
hatte Lotfi in Frankreich gearbeitet, ein kleines Restaurant in Paris
geführt. 1995 war er zurückgekommen, hatte ein Jahr später geheiratet,
ein Hamam, ein Badehaus, gekauft. Zuletzt wollte er außerhalb von
Tataouine einen Vergnügungspark einrichten. Er war ein umtriebiger
Mensch, hat nach Ausbruch des Krieges gegen Gaddafi die Hilfe für die
libyschen Flüchtlinge organisiert. 30000 waren damals, vor zwei Jahren,
bei Familien im grenznahen Tataouine untergekommen, das
selbst nur 60000 Einwohner zählt. Houda geht zum Schrank, holt eine
Urkunde und einen fein ziselierten Messingteller, auf dem Lotfis Name
und der Dank der Flüchtlinge eingraviert sind. "Hätte er sich bloß nicht
in die Politik eingemischt!"
Lotfi war ein Revolutionär der
ersten Stunde. Wie Chrif, der Kaffeehausbesitzer, gehörte auch er
dem "Komitee zum Schutz der Stadt" an, das sich gleich nach der
Jasmin-Revolution vor zwei Jahren gebildet hatte. "Wir waren acht
Mitglieder", sagt Ali Mourou, der heute als Schulinspektor
arbeitet, "wir wollten eine Rückkehr des alten Regimes
verhindern." Zwei Monate nach der Flucht des Diktators wurde Mourou zum
Bürgermeister der Stadt gewählt. Das Amt hatte er anderthalb
Jahre inne, bis zum vergangenen Juli. Heute glaubt er, dass die
Revolution scheitern wird, wenn es nicht gelingt, die wirtschaftlichen
Probleme zu lösen. Tatouine ist die Stadt mit der höchsten
Arbeitslosenrate Tunesiens, landesweit sind es 18 Prozent, in
Tataouine 52 Prozent.
Armut im Reichtum
Der Süden und das
Landesinnere, die Wiege der Revolution, sind wirtschaftlich
weiterhin abgehängt. "Ennahdha will alles kontrollieren, alles
beherrschen", sagt Mourou, "die Islamisten haben die Gesellschaft
quasi unter Beschlag genommen. Aber sie haben keine
Verwaltungserfahrung, keine Kompetenz, keine Vision." Und so hat der
Schulinspektor eine Bürgerinitiative gegründet. Sie heißt schlicht
"Für Tataouine" und hat sich zum Ziel gesetzt, wirtschaftliche
Perspektiven für die Stadt und die Region aufzuzeigen.
Bislang
hat Tataouine vor allem auf den Wüstentourismus gesetzt. Doch das hat
schon vor der Revolution nicht mehr funktioniert. Seit 2008
braucht man für einen Trip in die Sahara eine
Sondererlaubnis. Man muss einen militärischen Geleitschutz bezahlen.
Sind 2007 noch über 45000 Touristen in die tunesische Wüste
aufgebrochen, waren es letztes Jahr gerade noch 676. Am Tourismus hingen
viele Arbeitsplätze.
Jobs sind rar in Tataouine. Im
Regierungsbezirk liegen zwar die Öl- und Gasvorkommen Tunesiens.
"Doch raffiniert wird das Öl im Norden, und verflüssigt wird das Gas an
der Küste, und dort vor allem sind Arbeitsplätze entstanden ", sagt
Mourou, "wir haben weltweit die zweit- oder drittgrößten Vorkommen an
hochwertigem Gips, aber nur zwei kleine Fabriken, die zusammen 50
Arbeiter beschäftigen."
In der reichsten Gegend Tunesiens sind
die Menschen am ärmsten. Die Revolution hat die Islamisten, die an ihr
keinen Anteil hatten, an die Macht gebracht. Die Jugendlichen aber,
die alles riskierten, haben kaum etwas erreicht. Das ist
ungerecht, aber das ist ja oft so bei Revolutionen.
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