Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04.05.2013
Einmal im Jahr reisen Juden aus aller Welt nach
Djerba. Ihre traditionelle Wallfahrt führt sie zur
ältesten Synagoge Afrikas
DJERBA. Es war einmal eine
junge Frau. Sie lebte ganz allein in einer einfachen Holzhütte in einer
ziemlich öden Landschaft auf einer Insel, die heute Djerba heißt und
zu Tunesien gehört. Die Frau war so schön, dass keiner im Dorf es
wagte, sich ihr zu nähern. Erst als die Hütte eines Tages Feuer fing,
rannten die Leute hin und entdeckten zu ihrer großen Verwunderung,
dass die schlichte Behausung komplett abgebrannt, der Körper der
fremden Frau aber unversehrt geblieben war. Da wussten sie, dass
eine Heilige gestorben war, und sie errichteten am Ort eine
Synagoge, die sie El Ghriba, auf Deutsch "die Fremde", nannten.
Vielleicht hat es sich aber auch ganz anders zugetragen. Etwa so: Als
Nebukadnezar im Jahr 586 vor unserer Zeitrechnung Jerusalem eroberte,
den Tempel Salomos zerstörte und das jüdische Volk in die
babylonische Gefangenschaft führte, gelang einigen Juden
die Flucht. Sie nahmen einen Stein, vielleicht auch eine Türe des
zerstörten Tempels mit, schlugen sich durch die libysche Wüste und
errichteten auf Djerba eine Synagoge, die Ghriba, in die sie die
geretteten Reste des ersten Tempels von Jerusalem einbauten.
Wie
auch immer es gewesen ist: Die Ghriba gilt als älteste Synagoge
Afrikas, der erste Bau wurde im sechsten Jahrhundert errichtet.
Einmal im Jahr versammeln sich hier Juden aus der tunesischen Diaspora,
aus Frankreich, der Schweiz und Israel. Sie alle sind angereist zum Lag
Ba Omar, am 33. Tag nach dem Pessach-Fest. An diesem Tag soll Rabbi
Schimon Bar Jochai, ein Mystiker aus dem 2. Jahrhundert,
gestorben sein. Er gilt hier als der Verfasser des Zohar. Doch das
wichtigste Werk der jüdischen Kabbala wurde wohl erst tausend Jahre
nach dem Tod des Rabbi geschrieben. Über der Synagoge kreist ein
Militärhubschrauber. Die Zufahrt zur Wallfahrtsstätte, die weitab jeder
Siedlung steht, ist streng überwacht. Jedes Gepäckstück wird
geröntgt. Am Eingang der Ghriba erinnert eine Tafel in arabischer,
französischer und deutscher Sprache an die Tragödie, die sich hier vor
elf Jahren zugetragen hat. Ein 25-jähriger Selbstmordattentäter hatte
einen Tankwagen voll Flüssiggas vor der Synagoge zur Explosion
gebracht. 21 Menschen starben, unter ihnen 14 deutsche Touristen.
Nach dem Anschlag brach in Tunesien nicht nur der Tourismus
radikal ein. Seither pilgern auch deutlich weniger Juden nach
Djerba, zumal seit dem Wahlsieg der gemäßigten Islamisten vor anderthalb
Jahren radikale salafistische Gruppen Morgenluft wittern. Im
vergangenen Jahr rief ein salafistischer Scheich auf dem Prachtboulevard
im Zentrum von Tunis zur Tötung von Juden auf, und im Rundfunk
forderte ein salafistischer Imam die Ausrottung aller Juden.
Kamen vor dem Attentat am Lag Ba Omar noch jedes Jahr an die zehntausend
Juden zur Ghriba, sind es dieses Mal gerade noch etwas mehr als
tausend.
50 Kilo Gold für die Deutschen Das Ehepaar La Salle
aus dem französischen Nancy hat sich nicht abschrecken lassen. Die
beiden Rentner stehen im hinteren Teil der Synagoge, die aus zwei
überdachten Sälen besteht. Das Haupt hat er mit einer Kippa, sie
mit einem Kopftuch bedeckt. Er fotografiert die blau-weißen
Gewölbebögen, die Fayencen, die silbernen Votivtafeln, die Teva,
einen jüdischen Kalender, hebräische Inschriften und das
Mauerstück, das angeblich vom zerstörten Tempel Salomos stammt. Sie
beschriftet drei Eier mit den Namen ihrer Enkelinnen. Dann kriecht
sie mit einer brennenden Kerze durch eine Nische in der Wand in eine
kleine Höhle hinunter. Es ist die Stelle, an der der Legende
nach die Holzhütte der schönen jungen Frau gestanden hat. Dort stellt
Madame La Salle die Kerze auf und legt die Eier hin - in der Hoffnung,
dass es klappt und zwei ihrer Enkelinnen einen guten Ehemann
finden und die dritte ein gesundes Kind bekommt. Ob sie denn an die
magische Kraft des Ortes glaubt? "Schaden kann es jedenfalls nicht",
sagt sie etwas verlegen. Früher legten die Pilger rohe Eier hin, die
nach einer Nacht in der Wärme von Dutzenden Kerzen hart wurden. Heute
kauft man im Vorhof bereits gekochte Eier. Wahrscheinlich würden im
Gedränge ohnehin zu viele zerbrechen. Im vorderen Teil der
Synagoge geht es zu wie auf einem Jahrmarkt. Zwei beleibte Rabbiner
in Pluderhose, der eine mit einer Scheschia, einem roten Fez, auf dem
Kopf, der andere mit einer Kipa, psalmodieren, lesen aus heiligen
Büchern, weihen gegen einen kleinen Obolus den Boukha, einen
Feigenschnaps, der, in Plastikbechern abgefüllt, die Runde macht.
Ungesalzene Pistazien und andere Nüsse werden mit dem Hochprozentigen
besprengt. Auch sie machen die Runde, einige verschwinden in
Hosentaschen - für die Angehörigen, die zu Hause bleiben mussten. Frauen
stoßen traditionelle Youyou-Rufe aus, lange, spitze, modulierte
Schreie, um ihrer Freude Ausdruck zu geben. Über tausend Pilger
sind aus dem Ausland angereist. Aber auch die einheimischen Juden feiern
mit. "Es gibt in ganz Tunesien noch etwa 1500 Juden", sagt der
70-jährige Perez Trabelsi, "1200 von ihnen leben auf Djerba, die
übrigen fast alle in Tunis." Trabelsi ist seit 23 Jahren Präsident
der Ghriba. Haben die Juden jetzt, wo Islamisten das Land regieren,
Angst? "Ach was", wehrt Trabelsi ab, "das wird schon gehen." Es wird im Rückblick nur eine weitere Episode in der über 2000 Jahre
alten Geschichte der Juden in diesem Teil Afrikas sein, in der sie
der Herrschaft der Römer, der Vandalen, der Byzantiner, der Araber, der
Spanier, der Osmanen und der Franzosen unterworfen waren. Oft wurden sie
diskriminiert, manchmal wenigstens in Ruhe gelassen. Auch die
Deutschen waren sechs Monate im Land - von November 1942 bis Mai 1943.
Über 4000 Juden mussten in verschiedenen Lagern Zwangsarbeit leisten.
Die Besatzer erlegten den jüdischen Gemeinden zudem Zwangsabgaben auf.
"Wir auf Djerba hatten 50 Kilogramm Gold abzuliefern", berichtet
Trabelsi, "45 Kilo wurden aus Synagogen abtransportiert, für die
restlichen fünf mussten die jüdischen Familien aufkommen. Auch meine
Mutter gab ihren Schmuck her." Die "Endlösung" sahen die Nazis
auch für die tunesischen Juden vor. Doch so weit kam es nicht
mehr. Ihre Ausrottung in Tunesien hätte vor der
Weltöffentlichkeit nicht geheim gehalten werden können, schreibt der
tunesische Historiker Paul Sebag, ein profunder Kenner der
Geschichte der Juden seines Landes - und zum Abtransport in die
Todesfabriken von Auschwitz, Sobibor und Treblinka fehlten die
Schiffe und Flugzeuge. Die wurden für militärisch vorrangige
Aufgaben benötigt. 1946 gab es 70000 Juden in Tunesien, 10000 mehr als
zehn Jahre zuvor. Heute sind es noch 1500. Viele zogen nach der
Staatsgründung Israels weg, andere emigrierten, weil sie im seit 1956
unabhängigen Tunesien weniger Aufstiegschancen hatten als die Muslime.
Wieder andere kehrten ihrer Heimat nach den antijüdischen
Ausschreitungen während des Sechstagekrieges 1967 den Rücken.
Doch während die Zahl der Juden im Großraum Tunis seit Kriegsende auf
weniger als ein Prozent geschrumpft ist, ist sie auf Djerba im selben
Zeitraum nur auf knapp 30 Prozent gefallen. Die 1200 Juden
Djerbas wohnen ausschließlich in zwei Dörfern: In Hara Saghira (auf
Deutsch: kleines Dorf) unweit der Ghriba, gibt es heute noch 80 Juden,
sie sind längst zur Minderheit im Dorf geworden. Über tausend Juden
leben in Hara Kebira (großes Dorf), das ein Außenviertel von Djerbas
Hauptstadt Houmt Souk ist. Hier leben sie unter sich. Neben fast jedem
Türeingang hängt eine Mesusa, eine Schriftkapsel mit einem
Thora-Vers. Auf einige Hausmauern sind blaue Fische, Hände und die
Menorah gemalt. "Die Fische stehen für Fruchtbarkeit", erklärt
Laula, "die Hände sollen das Böse abwehren, die siebenarmige Menorah
symbolisiert die Erleuchtung. Wo du solche Symbole siehst, da
hat jemand geheiratet." Getrennte Geschlechter Laula
ist 14 Jahre alt, trägt Kippa und Designer-Brille und besucht wie
alle Kinder hier eine Jeschiwa, eine jüdische Schule. Er ist in der
Abschlussklasse. Ins Gymnasium wird der Junge nicht wechseln. Nicht,
weil es seine Noten nicht zulassen. Der Vater ist dagegen. Das
Gymnasium ist eine gemischte Schule. Da sitzen auch Muslime. Und
zudem werden im Gymnasium wie in allen staatlichen Schulen Tunesiens
Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet. In den Jeschiwas hingegen
herrscht Geschlechtertrennung. Laulas Schule steht
neben einer der elf Synagogen des Dorfes. Der Klassenraum ist
vollgestopft mit Büchern in hebräischer Sprache. Zuhause sprechen
die Kinder einen arabischen Dialekt. In der Schule lernen sie neben
Hocharabisch Französisch und Hebräisch - bei einem alten Mann, der in
Pluderhose und schwarzem Talar ins Klassenzimmer kommt. Doch reden
will der Hebräischlehrer mit dem Reporter nicht, jedenfalls nicht
ohne Genehmigung des Großrabbiners. Der Großrabbiner von
Tunesien lebt ebenfalls in Hara Kebira. Er heißt Haim Bittan und führt
einen Tante-Emma-Laden. Aber auch er mag nicht reden. Vielleicht hat
er einfach keine Lust mehr, nachdem seine jüngsten Äußerungen
für einiges Aufsehen gesorgt haben. Die Partei, die die Juden
Tunesiens am besten verteidigt, hatte er gesagt, sei Ennahda, die
islamistische Regierungspartei. Drei Monate vor der Jasmin-Revolution
im Januar 2011 hatte er den damaligen Diktator Zine el Abidine Ben Ali
gebeten, 2014 erneut zu kandidieren. Vielleicht ist beides
demselben Reflex geschuldet: Als Repräsentant einer Minderheit, die sich
doch bedroht fühlt, will er den Mächtigen ganz diplomatisch
positive Signale senden. "Nein, bedroht fühlen wir uns nun
wirklich nicht", sagt Samuel, "wir laden uns doch gegenseitig zu den
Festen ein, sie kommen zum Rosch ha Schana, wir gehen zum Aid el Fitr."
Samuel besitzt eines der 40 jüdischen Schmuckgeschäfte, die im Basar von
Houmt Souk eines neben dem andern stehen. Die meisten seiner Kunden
sind Muslime, die hier für die Hochzeit ihrer Töchter die fein
ziselierten Stücke kaufen, die sein Bruder, ein Gold- und Silberschmied,
herstellt. In der Oukala, der Karanwanserei der Ghriba, der
Herberge, in der früher arme Pilger nächtigten, wird der Abschluss des
Lag Ba Omar gefeiert. Eine jüdische Musikgruppe spielt traditionelle
Tanzmusik, es herrscht Feststimmung. Man sitzt auf Holzbänken, isst
Couscous. Einige vom Feigenschnaps angeheiterte Männer tanzen.
Die Menara, ein Kultobjekt, das eine Braut symbolisiert, die auf den
Bräutigam wartet, wird mit farbigen Tüchern und Blumen geschmückt und
danach auf einer dreirädrigen Handkarre in einer Prozession
übers Gelände der Ghriba gefahren, bevor sie wieder in die Synagoge
zurückkehrt. Früher führte der Umzug zu den beiden Synagogen im nahen
Hara Saghira. Aber aus Sicherheitsgründen hat man auch dieses Jahr
wieder darauf verzichtet. Einige Hundert muslimische Polizisten
sind zum Schutz des jüdischen Festes abkommandiert. Man ist auf Djerba
stolz auf das friedliche Zusammenleben der Religionen. "Es gibt nur
einen Gott", hört man immer wieder, "ob er nun Allah heißt oder
Jahwe."
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