Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14.08.2013
In Tunesien begann der arabische Frühling. Jetzt
droht die junge Demokratie an Machtkämpfen und
Wirtschaftskrise zu scheitern.
GAFSA. Die Sonne hat
die kahlen Berge am nahen Horizont in goldenes Licht getaucht.
Wind wirbelt Staub über die Straße. Es ist brütend heiß. Hier, am Rand
der Wüste, hat Ridha Labidi eine Müllkippe gekauft, wenige Kilometer
außerhalb von Gafsa, einer Stadt im Zentrum Tunesiens. Er hat die
Abfallmassen abtragen lassen und 42000 Kubikmeter frische Erde
herangekarrt. Zwanzig Jahre ist das Geschäft her. Nun führt Labidi
den Besucher durch sein Paradies: Bananenstauden mit großen
lilafarbenen Blüten, mit Dattelbündeln beladene Palmen, Olivenbäume
und Blumen in allen Farben. Früher war Labidi Bauunternehmer, das
Geschäft machte ihn zu einem schwerreichen Mann. Jetzt hat er auf einem
billigen Plastikstuhl Platz genommen. "Das ist mein andalusischer
Garten", sagt er mit strahlendem Gesicht. Er scheint der
glücklichste Mensch der Welt zu sein.
Noch hat Labidi, Jahrgang
1958, seinen Traum nicht ganz verwirklicht. Zwar ist das große
schneeweiße Gebäude, das mit seinen Zinnen an ein Märchenschloss
erinnert, fertig. Doch die Innenausstattung lässt auf sich warten.
Der Kinosaal mit 200 Stühlen ist noch ein dunkles Loch. Immerhin hat
im fast fertigen Raum für Konzerte und Theater, der 700 Personen
Platz bietet, bereits die Rachidia gespielt, die älteste
Musiktruppe Tunesiens. Der Saal war rappelvoll. Für das Film-Festival
im kommenden Jahr erwartet Labidi sogar 3000 Besucher. Die
Veranstaltung wird unter freiem Himmel stattfinden.
Rebellion und Repression
Bevor er ins Baugeschäft einstieg, hat sich Labidi in Syrien mit
orientalischer Musik befasst, im Irak mit Kalligraphie und islamischer
Architektur. Über Politik redet er ungern, lieber über Kultur.
Aber seine Meinung zur Regierung der islamistischen Ennahda,
gegen die seit zwei Wochen massiv protestiert wird, tut er dennoch
kund. "Kultur bedeutet den Islamisten nichts", sagt er, "Dialog und
Auseinandersetzung sind ihnen fremd." Radikale Salafisten haben
Ausstellungen zerstört, Konzerte verhindert, Künstler
attackiert. Die Regierung ließ sie gewähren.
Ridha Labidi will
gegensteuern: Schulklassen einladen, internationalen Kulturaustausch
pflegen. Im kommenden Jahr soll in seinem Paradies ein Festival für
Dokumentarfilme mit ökologischen Themen stattfinden. Er hat schon 220
Filme beisammen, viele hat er aus dem Ausland erhalten - aus
Belgien, Marokko, Senegal.
Vielleicht wird es auch einen Beitrag
über seine Heimatstadt Gafsa geben. Das wäre spannend. Denn hier in
Gafsa sind die Themen Ökologie, Wirtschaft und Revolution eng
miteinander verknüpft. Es ist die Stadt, in der sich die Zukunft des
Landes entscheiden könnte.
Gafsa ist das Zentrum der
tunesischen Phosphatindustrie. Und Phosphat ist - vor dem
Tourismus - die wichtigste Devisenquelle. Tunesien gehört zu den
weltweit größten Exporteuren des Minerals, das in zahlreichen Bergwerken
zwischen Gafsa und der algerischen Grenze abgebaut wird. Doch bevor es
exportiert wird, muss es gewaschen und verarbeitet werden -
mit dramatischen Folgen.
Etwa ein Dutzend riesige Waschanlagen
gibt es in dem 6000 Quadratkilometer großen Phosphatbecken.
Das Wasser wird dort mit Chemikalien versetzt. Das Resultat:
sauberes Phosphat und verseuchtes Grundwasser. "Weil man die
industriellen Abwässer in der Wüste versickern lässt", sagt Ridha Labidi.
Den Schafen fielen sogar die Zähne aus. "Das wird Ihnen in der Oase von
Gafsa jeder Bauer bestätigen."
Aber es kommt noch schlimmer: Das
gewaschene Phosphat wird in der großen Chemiefabrik von Gafsa zu TSP
(Triple Super Phosphat) verarbeitet, das weltweit in
Düngemitteln und Waschpulver zum Einsatz kommt. Der Schlamm, der
zurückbleibt, übersäuert die Böden. "Dazu kommt die unsichtbare
Dauerberieselung mit Stäuben, die die Fabrikschlote in den Himmel
pusten", sagt Labidi und erzählt, dass die Krebsrate im Regierungsbezirk
Gafsa seit langem signifikant höher sei als im Rest des Landes.
Viele Einwohner würden die umliegenden Ortschaften aus Angst
verlassen.
Mohamed Miraoui macht eine andere Rechnung auf. Der
regionale Generalsekretär des mächtigen
Gewerkschaftsbundes UGTT, ein Mann mit grauem Haar und grauem Schnäuzer,
bittet in sein karg eingerichtetes Büro im Zentrum von Gafsa. Er
bedauert sehr, dass die Phosphatproduktion nach der Revolution massiv
eingebrochen ist. Hatte Tunesien im Jahr 2010 acht Millionen
Tonnen gefördert, werden es 2013 gerade noch drei Tonnen sein.
Zugleich ist der Weltmarktpreis für TSP im selben Zeitraum auf
die Hälfte gefallen.
Tunesien nimmt somit über den Export von
Phosphat heute weniger als ein Fünftel dessen einnimmt, was es vor dem
Sturz der Diktatur eingenommen hat. Miraoui hofft, dass mit einer
zweiten Chemiefabrik, die gerade von Südkoreanern und Chinesen gebaut
wird, die Produktion vorrevolutionäres Niveau erreicht und
2000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. "Dann bräuchten wir keine
Auslandskredite mehr", behauptet er.
So stehen der ökologischen
Vernunft, an die der ehemalige Unternehmer Labidi appelliert, die
ökonomischen Zwänge entgegen, die der Gewerkschafter Miraoui ins Feld
führt: Wenn die Phosphatproduktion weiter einbricht, droht dem Land der
wirtschaftliche Kollaps. Es wäre der Todesstoß für die
Jasmin-Revolution, auf die so viele Tunesier ihre Hoffnungen
gesetzt haben.
Die "Compagnie des Phosphates de Gafsa" (CPG) ist
der größte Arbeitgeber der Region. Vor der Revolution waren 5000
Personen beim staatlichen Bergbaukonzern beschäftigt, heute sind es
6000. Trotz sinkender Produktion und sinkenden Preisen. "Um die
explosive Lage zu beruhigen", erklärt der Gewerkschafter. Doch
funktioniert hat das nicht. Seit der Revolution blockieren
organisierte Arbeitslose immer wieder die Zufahrtsstraßen
zu den Bergwerken oder besetzen die Gleise, auf denen das
verarbeitete Phosphat an die Küste gefahren wird. Der Gewerkschafter ist
strikt gegen die illegalen Aktionen. "Vor allem deshalb ist die
Produktion eingebrochen", sagt er. Aber er versteht die
militanten Aktivisten auch. "Sie wollen ja nur Arbeit." Mohamed
Miraoui ist 55 Jahre alt. Es könnten seine Kinder sein.
Außerdem
teilt er ihre Hauptforderung. Die organisierten Arbeitslosen verlangen
Transparenz bei der Jobvergabe. Zwar werden die wenigen freien Stellen
öffentlich ausgeschrieben, und es gibt ein Punktesystem, in dem die
Dauer der Arbeitslosigkeit, das Alter, das Familieneinkommen und die
Qualifikation eine Rolle spielen. Doch von Transparenz bei der
Auswahl kann keine Rede sein. Der Gewerkschaft wird jede Kontrolle
verwehrt. Den Arbeitslosen sowieso. Die Ennahda schanze freie Stellen
vor allem eigenen Mitgliedern und Sympathisanten zu, argwöhnt
Miraoui - und lässt durchblicken, dass es mehr als eine Vermutung ist.
Solange die Jobvergabe aber so ablaufe, komme Gafsa nicht zur Ruhe. Denn
der Druck ist hoch: Auf einen Job gibt es hundert Bewerbungen.
"Wenn es in den letzten Wochen weniger Blockaden und Barrikaden
gegeben hat", sagt der Gewerkschaftler, "ist dies wohl nur der
extremen Hitze und dem Fastenmonat Ramadan zu verdanken."
Gafsa ist keine schöne Stadt. Touristisch hat der Ort nichts zu
bieten. Kein Gebäude, vor dem man stehen bleiben würde. Kein
Plätzchen, das zum Verweilen einlädt. Nicht mal ein malerischer Markt.
Gafsa wirkt seelenlos, verlassen. Aber die Stadt ist das Herz der
tunesischen Arbeiterbewegung, und darauf sind viele stolz.
Rebellion und Repression haben hier eine lange Geschichte. Schon 1937
wurde ein Bergarbeiterstreik blutig niedergeschlagen, 17
Bergleute verloren ihr Leben. 1980 kam es zu einem lokalen Aufstand.
Und 2008 traten in der ganzen Phosphatregion Bergleute in den
Generalstreik, die Zentralen des Bergbaukonzerns wie der Gewerkschaft
wurden besetzt. Ein halbes Jahr lang dauerte der Aufstand, von dem
nur wenig nach außen drang, der aber die Saat legte für die Revolution,
die drei Jahre später die Diktatur hinwegfegte und den arabischen
Frühling auslöste.
Ghazela Mhamdi erinnert sich noch genau an das
Jahr 2008. Es war das Jahr, in dem ihr die Polizei mit
Fausthieben die Nase brach, weshalb sie 30 Tage im Krankenhaus lag. Die
damals 30-Jährige organisierte in jener Zeit die Solidarität mit den
streikenden Bergarbeitern und bekochte sie, sammelte
Unterschriften, verbreitete Informationen, ging mit Freunden zu
Demonstrationen und trat sogar in einen Hungerstreik. Kurz nach dem
Angriff wurde sie als Zeugin vor Gericht geladen, aber in aller
Öffentlichkeit vor dem Gerichtsgebäude erneut zusammengeschlagen. Noch
heute benötigt sie Therapien für ihr Kniegelenk.
In Gafsa kennt
jeder die mutige Frau, die ihr langes schwarzes Haar stets offen trägt
und die - höchst ungewöhnlich im konservativen Süden Tunesiens -
als unverheiratete Frau nicht bei den Eltern wohnt, sondern ein
Single-Dasein führt. "Noch jedenfalls", sagt sie lachend. Ghazela
Mhamdi wurde schon in die USA eingeladen, um über die Geschichte der
Jasmin-Revolution zu berichten, die von jungen Akademikern aus dem
Landesinnern ausging, die Arbeit suchten - als Voraussetzung für ein
normales Leben, für die Gründung einer Familie, für ein Leben in
Würde. Schon 2005 hatte Ghazela Mhamdi zusammen mit Freunden die
erste Vereinigung arbeitsloser Akademiker gegründet. Heute
sind diese längst landesweit organisiert.
Sprecher der
Initiative in Gafsa ist Faiez Akermi. Er ist Historiker,
spezialisiert auf Mediävistik, Erforschung des Mittelalters. Seine
Diplomarbeit hat er über byzantinische Geschichte geschrieben. Nicht
gerade die Fachrichtung, die auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist.
Andererseits hätte er als Ingenieur nur geringfügig bessere Chancen,
weil die Arbeitslosigkeitsrate in Gafsa über 40 Prozent beträgt.
Akermi ist bereit, jeden Job anzunehmen. Seit 2009 ist er
arbeitslos.
Jüngst habe ihm der von der Ennahda kontrollierte
Phosphatkonzern dann doch eine Stelle angeboten, im Transportwesen,
berichtet Akermi. "Ich habe abgelehnt, weil man von mir verlangte,
mich öffentlich von der Union akademischer Arbeitsloser zu
distanzieren." Es sei nur darum gegangen, die Organisation zu
zerschlagen, behauptet er. Akermi ist 34 Jahre alt und lebt wie seine
fünf arbeitslosen Geschwister und die Mutter von der Rente des Vaters.
Der Staat bezahlt dem ehemaligen CPG-Angestellten 600 Dinar im Monat,
etwa 300 Euro. Kein Stein, kein Tränengas
Ghazela Mhamdi
hingegen hat inzwischen eine Arbeit beim örtlichen Steueramt. Aber
die Aktivistin lässt sich nicht ruhigstellen. "Die Islamisten
haben uns die Revolution gestohlen", sagt sie, "ich habe für ein
anderes Tunesien gekämpft, als jenes, das wir jetzt haben." Und sie
erinnert noch mal an ein Treffen: "Um 17 Uhr am Supermarkt Carrefour."
Über Hundert Personen sind am Abend zum Supermarkt gekommen. Auch
Ghazela Mhamdi. Einige tragen Fotos eines jungen Mannes. Der Trauerzug
pilgert zum Friedhof. An einem Grab werden Blumen niedergelegt.
Es wird gebetet. Hier liegt Mohamed Al Mufti. Vor dem Regierungsgebäude
in Gafsa demonstrierte er am 26. Juli gegen den Mord an einem
Linkspolitiker, der vermutlich von Salafisten erschossen worden
war. Die Tat trieb im ganzen Land Hunderttausende auf die Straße,
die den Rücktritt der Regierung forderten. Al Mufti wurde von einer
Tränengasgranate getötet.
Der Trauerzug verlässt den Friedhof,
wird zum Demonstrationszug, zieht vor das Regierungsgebäude. Einige
entzünden Kerzen an dem Ort, an dem Al Mufti tödlich verletzt wurde.
Polizisten mit Knüppeln und schusssicheren Westen beziehen zehn
Meter entfernt Stellung. Ihre Gesichter haben sie hinter
Strumpfmasken verborgen. Kein Wort fällt. Kein Stein. Keine
Tränengasgranate. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Dann
löst sich die kleine Demonstration auf. Es ist kein Blut geflossen. Aber
beide Seiten wissen, dass es morgen schon anders sein kann.
© Berliner Zeitung
In der publizierten Fassung wurde der frühere Bauunternehmer Abidi genannt. Er heißt in Wirklichkeit Labidi. Der Fehler wurde in der vorliegenden Fassung korrigiert. |