Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.02.2012
Der Sparkurs, der Griechenland
aufgezwungen wurde, hat Zehntausende ins Elend getrieben.
In Athen ist die Zahl der Obdachlosen dramatisch angestiegen.
ATHEN.
Vor zwei Jahren noch hat Markos in seinem Gebirgsdorf auf dem Peleponnes
ein kleines Stück Land bebaut, Weinstöcke beschnitten und Oliven
gepresst. Nun liegt er in sechs schmutzige Steppdecken gehüllt, drei
über sich, drei unter sich, auf dem Bürgersteig einer Gasse in der
Altstadt von Athen. Neben ihm schlafen vier Männer. Markos hält
Wache. Es ist kurz vor Mitternacht. "Die Marokkaner haben Messer",
sagt er, "sie rauben uns aus."
Es war ein ärmliches Leben,
das Markos, 47 Jahre alt, auf dem Peleponnes führte, ziemlich
langweilig und öde. Hätte er in seinem verdammten Bergkaff alt werden
sollen, sterben, da, wo er geboren war? Als ihm ein Freund in der
Hauptstadt einen Job bei der Stadtreinigung anbot, zögerte Markos
nicht lange. Er erhielt einen Zeitvertrag, knapp tausend Euro im
Monat, und durfte hoffen, nach dessen Ablauf, wie üblich, fest
angestellt zu werden und in unkündbarer Stellung bis zum
Ruhestand arbeiten zu können, mit der Aussicht auf eine Pension von 80
Prozent des letzten Gehalts.
Dann aber kam alles ganz anders. Die
Schuld gibt Markos den Politikern aller Parteien, dem
internationalen Kapital und vor allem Angela Merkel. Letztlich, da
kennt Markos keinen Zweifel, zieht sie die Fäden und diktiert seinem
Land die Politik. Vor zwei Jahren schon empfahl ein
Hinterbänkler ihrer CDU den Griechen, zwecks Haushaltssanierung einige
Inseln zu verkaufen. Und damals bildete ein deutsches Nachrichtenmagazin
auf der Titelseite neben der Schlagzeile "Betrüger in der
Euro-Familie" die Liebesgöttin Aphrodite mit Stinkefinger ab. Das stieß
vielen Griechen übel auf. Dass die Bundeskanzlerin in der
vergangenen Woche seinem Land einen Sparkommissar vorsetzen
wollte, sieht Markos als Bestätigung für seinen Verdacht.
Job
verloren, Wohnung weg
Lohnkürzungen, Steuererhöhungen, all das
hätte er noch hingenommen, aber dann kam die entscheidende Forderung
des Auslands: keine neuen Stellen im öffentlichen Dienst. Markos bekam
zwar noch einen zweiten Zeitvertrag, für 750 Euro im Monat, aber
als er anders als die Festangestellten zwei Monate lang nicht bezahlt
wurde, protestierte er - und wurde gefeuert. Dies ist jedenfalls seine
Version der Geschichte, unüberprüfbar und doch durchaus glaubhaft.
Die hundert Euro für die Kellerwohnung konnte er schon bald nicht
mehr aufbringen, und so verlor Markos nach der Arbeit auch seine Bleibe.
Seit anderthalb Monaten lebt er auf der Straße. "Wenn du Geld hast,
kannst du auch als größter Gauner gut leben", sagt er, "sonst bist du
verloren. Da schreit kein Hahn nach dir."
In Athen ist die Zahl
der Obdachlosen in den letzten Monaten rasant gestiegen.
Offiziell sind es mehr als 20 000, Hilfsorganisationen sprechen sogar
von 30 000, die Bevölkerung einer Kleinstadt, verstreut in der
Großstadt. In dunklen Gassen und in den hell erleuchteten Eingängen von
U-Bahn-Stationen, an Orten, die der Regen nicht erreicht und wo
es doch oft feucht ist, nach Urin stinkt, trifft man im
nächtlichen Athen auf die vermummten Gestalten. Sie schlafen meistens in
Gruppen, und die griechische Sprache hat auch schon einen Namen für
sie gefunden: "Neoftochi". Bislang gab es Arme und Reiche,
unterLetzteren viele Neureiche, die es mit üblen Machenschaften und
guten Beziehungen nach oben geschafft haben, in die Paläste von
Kolonaki oder die Villenviertel von Kifissia. Nun gibt es auch die
"Neoftochi", die Neuarmen, diejenigen, die abgestürzt sind.
"Sie
lassen sich in drei Kategorien aufteilen", sagt Giorgos
Apostolopoulos. "Erstens: Alte, die mit ihrer nun auf 300 Euro
gekürzten Minimalrente nicht mehr auskommen. Zweitens: kinderreiche
Familien, denen Wasser und Strom gesperrt wurde, weil sie die Rechnung
nicht mehr zahlen konnten und die nun nicht einmal mehr eine warme
Mahlzeit zubereiten können. Drittens: Menschen, die ihre Arbeit verloren
haben, deshalb die Miete für die Wohnung nicht mehr aufbringen und
oft mit Laptop unter dem Arm bei uns anklopfen."
Giorgos
Apostolopoulos arbeitet im städtischen Obdachlosenheim, das 160
Personen beherbergt und jeden Tag 1450 Arme verköstigt - am Mittag
Griechen und jetzt, am Abend, auch Ausländer. Im Hinterhof stehen
sie an für eine warme Suppe. Brot, Milch, Reis, Nudeln und auch
Kleider werden ausgegeben. Vorsorglich stehen ein halbes Dutzend
Polizisten bei den Töpfen. "Manchmal gibt es eben Zoff", sagt
Apostolopoulos, "aber wir haben mit ihnen eine Übereinkunft getroffen:
Sie führen keine Identitätskontrollen durch." Unter den Ausländern
sind viele, die illegal ins Land gekommen sind.
Das Obdachlosenheim
liegt im Stadtzentrum, nur wenige hundert Meter vom Omonia-Platz
entfernt, wo Prostitution und Drogenhandel blühen. Abseits
der verkehrsreichen Hauptadern trifft man hier nachts keine Griechen
mehr, und auch tagsüber meiden die meisten die engen Straßen des
Viertels, aus Angst vor kleinkriminellen Banden, die auf
Handtaschenraub spezialisiert sind.
Viele Athener ärgern sich
darüber, dass sie am Omonia-Platz nicht mehr wie zu alten Zeiten sorglos
flanieren können. Dass vor einer Woche das Parlament ein Gesetz
verabschiedete, das generell eine vorzeitige Freilassung von
Strafgefangenen vorsieht, löste weithin Kopfschütteln aus. Um die
überfüllten Haftanstalten zu entlasten, müssen künftig Häftlinge mit
einer Strafe bis zu drei Jahren Haft nur noch ein Zehntel dieser Zeit
absitzen. Wer bis zu fünf Jahren verurteilt ist, kommt nach einem
Fünftel auf freien Fuß, und wer bis zu zehn Jahren verdonnert wurde,
kommt nach der Hälfte frei. Die Kriminellen, die das Viertel
unsicher machen, daran gibt es kaum Zweifel, sind fast ausschließlich
Ausländer. Viele Griechen fühlen sich ihnen schutzlos
ausgeliefert. Immer wieder machen Schlägertrupps aus dem Umkreis der
rechtsradikalen Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) Jagd
auf alle, deren Haut dunkler ist als ihre eigene.
Über 85
Prozent all jener, die auf illegalem Weg in die Europäische Union
einwandern, kommen in Griechenland an. Daran ist die Geografie schuld. Denn die Grenze zwischen dem
türkischen Festland und den ihm vorgelagerten zahllosen griechischen
Inseln lässt sich nur schwer überwachen. Die meisten illegalen
Einwanderer möchten weiterziehen, vor allem nach Deutschland oder
Frankreich, doch sie bleiben in Griechenland stecken, weil nach EU-Recht der Staat, in dem die Einwanderer EU-Boden
betreten, verpflichtet ist, sie aufzunehmen oder in ihre
Herkunftsländer abzuschieben. Das ist bequem für Länder wie
Deutschland, die keine EU-Außengrenze haben. "Europa lässt uns mit
dem Problem allein", klagen viele Griechen, die durchaus ein Herz für
gestrandete Immigranten haben.
Hunderttausende illegaler
Immigranten, eine Arbeitslosigkeit von 19 Prozent, bei Jugendlichen
unter 25 Jahren erreicht sie sogar 47 Prozent, eine scharfe
Wirtschaftsrezession, die Hunderttausende ins Elend stürzt - das ist
gesellschaftlicher Sprengstoff. In Athen wird nahezu täglich
demonstriert. Aber eine Aufstandsstimmung herrscht nicht. Eher machen
sich Depression, Hoffnungslosigkeit, Resignation breit. "Doch die
Situation kann jederzeit umschlagen", meint Dimitris Parsanoglou,
Soziologe an der Athener Panteion-Universität. Eine von
Gewaltausbrüchen begleitete soziale Revolte mag er nicht ausschließen.
Das Politbarometer spricht eine deutliche Sprache. Das linke und das
rechte Lager sind zwar weiterhin ungefähr gleich stark. Vor allem bei
der Linken aber zeichnet sich eine dramatische Entwicklung ab.
Würde morgen gewählt, wäre neuesten Umfragen zufolge die
sozialdemokratische Pasok, die vor zwei Jahren mit 44 Prozent die
Parlamentswahlen haushoch gewann, mit nur acht Prozent gerade noch
fünftstärkste Partei. Die linksradikale Syriza würde ihren
Stimmanteil von fünf Prozent auf zwölf Prozent steigern und die
Kommunisten ihren von acht Prozent auf 13 Prozent. Stärkste Kraft im
linken Lager aber würde die ebenfalls links von der Pasok
angesiedelte Demokratische Linke, gegründet vor erst anderthalb
Jahren, mit 18 Prozent.
Als Griechenland vor knapp zwei Jahren nur durch ein erstes Hilfspaket in Höhe von 110
Milliarden Euro dem Bankrott entging, waren sich die seriöse
Wirtschaftswissenschaftler weitgehend einig, dass ein radikales
Sparprogramm in eine Rezession münden müsse. "Wir waren Rufer in der
Wüste", sagt Parsanoglou, "heute aber geben uns alle recht." Natürlich
musste eine radikale Kürzung der Löhne zu weniger Einnahmen aus
Einkommenssteuern führen, zu weniger Konsum, zur Schließung von Läden,
zu mehr Arbeitslosigkeit, zu einem wirtschaftlichen Rückgang, der
ein neues größeres Hilfspaket erforderlich machte. Weshalb hat die
Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem
Währungsfonds trotzdem diesen desaströsen Weg erzwungen? Man
findet in Athen keine Antwort auf die Frage. Und so sprießen
Verschwörungstheorien. Viele Griechen meinen, Deutschland wolle
sich Europa unterwerfen.
Spenden für die Bedürftigen
"Wozu
Opfer bringen", gibt Dimitris Parsanoglou, der Soziologe, zu bedenken,
"wenn der Sinn nicht klar ist, wenn ein Ende des Tunnels nicht in
Sicht ist?" In Technopolis, dem alten Gaswerk von Athen, das zum
Kulturpark umgebaut wurde, nächtigen illegal eingewanderte
Marokkaner und "Neoftochi", Neuarme, die die Krise aus der Bahn
geworfen hat, gemeinsam in den zum Schlafsaal mutierten
Ausstellungshallen.
Die orthodoxe Kirche verköstigt allein in den
Armenküchen Athens über 17 000 Personen, in ganz Griechenland nach eigenen
Angaben 250 000. Die Lebensmittel, die sich bei der Kirche des Heiligen
Geistes im Stadtteil Thissio stapeln, stammen von vielen Gläubigen,
einfachen Leuten, die helfen wollen. Theodoros Manoussos, der die
Spenden sammelt und verteilt, kann zwischen den zahlreichen
Telefonanrufen keinen Satz zu Ende bringen. Ein junger Mann bietet
eine Fleischlieferung aus dem Großmarkt an. Eine resolute Frau hat
in vier Fünfsternehotels der Hauptstadt das Management überredet,
Lebensmittel, die zu normalen Zeiten weggeworfen werden - bereits
gegrillte, aber von der Kundschaft nicht georderte Hähnchen etwa -,
der Kirche zu spenden. In Manoussos' Büro türmen sich Kartons mit
vollen Weinflaschen, angeliefert von einer Kooperative auf dem
Peleponnes. Die Hilfe ist überwältigend.
Auch Markos, der,
eingewickelt in sechs Decken, auf dem Bürgersteig einer Gasse der
Altstadt Wache schiebt, hat von der Armenspeisung erfahren. Doch er
steht nicht mehr auf, wenn es hell wird. Seit Tagen hat er Fieber. Der
Rücken schmerzt. Ein Streetworker bringt ihm Essen. Ins Obdachlosenheim
will Markos nicht. Dort sei es ihm zu eng, zu schmutzig, sagt er,
dort gebe es immer nur Streit. Wie es weitergeht, weiß er nicht.
Vielleicht kehrt er in sein Dorf zurück.
© Berliner Zeitung
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