Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.06.2012
Am Sonntag wählen die Griechen ein neues Parlament. Ein Besuch bei ein paar Wählern, von denen
jeder eine ganz eigene Wahrheit zu haben scheint.
ATHEN.
Ein Gespenst geht um in Athen. Es verbreitet Angst und hat einen Namen:
Grexit. Dies ist das Kürzel für Griechenlands Exit aus der Eurozone.
Die Griechen räumen ihre Konten. Dreistellige Millionenbeträge
werden täglich von den Banken abgezogen. Wenn die vom charismatischen
Alexis Tsipras geführte Linkspartei Syriza am Sonntag die Wahlen
gewinnt, werde das Land zur Drachme zurückkehren müssen und
letztlich kollabieren: Mit dieser bald offen, bald unterschwellig
vorgetragenen Botschaft werden die Griechen seit Tagen
bombardiert - aus dem Inland mit Vorliebe von jenen Parteien, die den
Schlamassel zu verantworten haben, aus dem Ausland vor allem
von den Deutschen, auf die manch einer seine Aggression projiziert.
Angst vor dem Kollaps? Ilias Katsogiannis setzt ein gequältes
Lächeln auf. Bei ihm ist der längst angekommen. Der 35-Jährige
raucht
wie ein Schlot, eine Zigarette nach der andern. Sein
Geschäft, das der Gesundheit dienen soll, ist schrecklich
verqualmt. Katsogiannis ist Apotheker. In der Freizeit tritt er als
Rockgitarrist auf. Ein Hobby. "Aber jetzt habe ich ein zweites
Hobby", sagt er, "ein Hobby ist ja eine Beschäftigung, bei der man kein
Geld verdient. Eigentlich kann ich meinen Laden zumachen." Macht er
aber nicht, weil er seine Arbeit liebt. Im Keller stapeln sich
Reagenzgläser, Tuben, Schächtelchen, auf Regalen liegen Pinzetten und
Löffelchen. Katsogiannis mixt hier diverse Tinkturen, stellt
Salben her - vor allem aus homöopathischen Substanzen.
Schulden und
Kredite
Seit zwei Wochen verkaufen die griechischen Apotheker
ihre Medikamente nur noch gegen Bares. Von Ärzten ausgestellte
Rezepte nehmen sie nicht mehr an. Schuld ist die öffentliche
Krankenkasse (EOPYY), zu der im vergangenen November die
verschiedenen Berufskrankenkassen zusammengeschlossen wurden und bei
der nun neun der elf Millionen Griechen versichert sind. Früher
schickten die Apotheker die Rezepte an die Krankenkassen, diese
beglichen die Rechnungen. Oft mit Verspätung. Dann borgte sich
Katsogiannis bei seiner Bank einen Überbrückungskredit. Aber jetzt
wartet er schon seit vier Monaten auf Erstattung von der Kasse. Die
Bank gibt ihm keinen Kredit mehr, weil sie aus gutem Grund
fürchtet, das Geld nicht zurückzuerhalten. Und die Lieferanten der
nationalen wie der ausländischen Pharmaindustrie, die ihm früher eine
Zahlungsfrist von vier Monaten einräumten, wollen jetzt ihr
Geld nach zehn Tagen sehen. Also ordert er teure Medikamente nur noch
auf Bestellung von Patienten, die vorab bezahlen. "Die Krankenkasse
schuldet mir inzwischen über 60000 Euro", sagt Katsogiannis, "ich bin
am Ende."
Trotzdem kommt noch immer der bis auf die Knochen
abgemagerte junge Mann, der vor der Tür wartet, bis kein Kunde mehr in
der Apotheke steht. Zitternd, mit starrem Blick betritt er den Laden. Er
sagt kein Wort. Katsogiannis geht zu einem Schrank, nimmt eine frische
Spritze heraus und reicht sie dem Drogensüchtigen wortlos. "Das ist mein
Junkie", sagt er, als die Türe wieder ins Schloss fällt, "er kommt
täglich, ich kann ihn doch nicht hängen lassen."
Insgesamt
schuldet die Krankenkasse den Apothekern über 500 Millionen Euro. Die
Kasse hat kein Geld, weil in Jahresfrist fast 300000 Griechen
ihren Job verloren haben und viele von ihnen ihre Beiträge nicht mehr
bezahlen können.
Viele Patienten können sich die Medikamente, die
früher die Krankenkasse bezahlt hat, schlicht nicht leisten. Ilias
Katsogiannis Umsatz ist dramatisch eingebrochen. Vor der Krise hat er
viermal so viel verkauft. Einer seiner Stammkunden leide an einer
seltenen Art von Blutarmut, berichtet der Apotheker. Dreimal habe er
ihm das teure Medikament ausgehändigt. "Zahlen konnte der arme Kerl
nicht, und ich habe nun auch nicht mehr das Geld, es neu zu bestellen",
sagt er resigniert. "Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.
Wahrscheinlich pilgert er nun von Apotheke zu Apotheke, um zu schauen,
ob es irgendwo noch vorrätig ist."
Natürlich habe er Angst vor
der Rückkehr zur Drachme, der alten Währung, gesteht Katsogiannis,
eine Rückkehr, die sein bescheidenes Vermögen wohl halbieren
würde, aber anderes fürchte er noch viel mehr. Die Parteien, die das
Land 37 Jahre lang abwechselnd regiert und schließlich in den
Ruin getrieben haben, sind für ihn jedenfalls definitiv nicht wählbar.
Dimitris Karamanis ist 25 Jahre alt und Sekretär für
internationale Beziehungen der Jugendorganisation der Linkspartei
Syriza. Er gehört also zu denen, die derzeit so viel Angst und
Hoffnung verbreiten. "Wenn Griechenland aus der Euro-Zone fliegt",
behauptet Dimitris Karamanis, "dann kommt es zu einem
Domino-Effekt, am Schluss gibt es keinen Euro mehr und alle haben
verloren. Das weiß auch Merkel, und deshalb wird Griechenland in der
Euro-Zone bleiben - auch unter einem Premier Tsipras, der das
Memorandum aufkündigen wird."
Im Memorandum hat sich
Griechenland als Gegenleistung für die internationale Finanzhilfe zu
einem rigiden Sparkurs verpflichtet. "Wir weigern uns nicht
prinzipiell, die Schulden zu bezahlen", stellt Karamanis für seine
Partei klar, "wir sagen nur: Die rigide Sparstrategie ist gescheitert.
Griechenland ist in die Rezession getrieben worden. Wir müssen neu
verhandeln." Syriza fordert als erstes die Rücknahme der Kürzungen von
Mindestlohn und Arbeitslosengeld, die im Februar von der Troika
durchgesetzt wurden. Wichtig sei es vor allem, die Einkünfte des Staates
zu mehren. Immerhin entgehen dem Fiskus nach Angaben von Nikos Lekkas,
dem Leiter der griechischen
Steuerfahndungsbehörde jährlich 40 bis 45 Milliarden Euro. "Wenn wir nur
die Hälfte davon eintreiben könnten", hat der gesagt, "wäre
Griechenlands Problem gelöst."
Es sind offensichtlich die
Begüterten, die dieses Loch in den Staatssäckel reißen. Ein
Großteil ihrer hinterzogenen Steuern wird inzwischen wohl im Ausland
geparkt sein. Es wird viel Mühe kosten, diese Gelder aufzuspüren und sie
wenigstens zum Teil einzutreiben. Umso wichtiger sei es, meint der
jugendliche Politiker Karamanis, diejenigen zur Kasse zu bitten, die
von der Steuerbehörde systematisch geschont würden: die Reeder. Die
Begünstigungen, die man ihnen zugestehe, müssten endlich gestrichen
werden.
Michael Pateras ist einer von ihnen. Der Sitz seiner
Reederei liegt in einem modernen Büropalast in Kifissiß, dem nobelsten
Vorort von Athen. Das große Fenster im geschmackvoll eingerichteten
Chefbüro gestattet einen Blick auf das ausufernde Häusermeer von Athen.
"Wir haben dieselben steuerlichen Vergünstigungen, wie sie in den
EU-Staaten nun mal üblich sind, gerade auch in Ländern mit großen
Handelsflotten wie Großbritannien, Zypern, Deutschland", sagt der
63-jährige Eigner von sieben Handelsschiffen, "ausschlaggebend für den
Ort der Besteuerung ist die Flagge." Griechenland hat die größte
Handelsflotte der Welt. Von den 4100 Schiffen der ungefähr 850
griechischen Reedereien aber fährt nur etwa ein Viertel unter
griechischer Flagge. Wenn man ihnen die üblichen Steuervorteile
beschneiden würde, wäre es den Reedern ein Leichtes, innerhalb von
wenigen Tagen die Flagge zu wechseln.
Neunzig Prozent ihrer
Einkünfte, sagt Pateras, würden die griechischen Reeder, die etwa
ein Sechstel des gesamten maritimen Welthandels bestreiten, ohnehin
jenseits von Griechenland erzielen - mit dem Warentransport zwischen
den USA, China, Australien und Europa, fernab aller griechischen
Gewässer. Und in dieser Welt ist der Dollar und nicht der Euro die
Währung, in der Preise berechnet und Frachtraten wie Mannschaften
bezahlt werden. Eine Rückkehr zur Drachme würde die Geschäfte der
Reeder deshalb kaum tangieren, meint Michael Pateras, die Griechen
jedoch in noch größere Armut stürzen. Überdies trügen die
Reedereien, von denen etwa 200000 Arbeitsplätze abhängen, zum
griechischen Staatsbudget in etwa gleich viel bei wie der Tourismus.
Die Griechen, sagt der Reeder, der seine Schiffe unter griechischer
Flagge fahren lässt, sähen die Vorteile, die ihnen der Euro
bringt, sie wollten aber nicht das Notwendige tun, um in der
Euro-Zone zu bleiben. Das hört sich wie eine versteckte Wahlempfehlung
an. Doch Pateras denkt weniger an ein Sparprogramm als an die
überfälligen strukturellen Reformen in der staatlichen Verwaltung. Ohne
solche komme Griechenland nicht aus der Talsohle heraus.
Da würde
ihm auch Nadia Valavani zustimmen. Die 58-Jährige hat drei
Gedichtbände, einen Roman und eine Sammlung von Essays über Kunst und
Politik veröffentlicht. Vor sechs Wochen ist sie auf der Liste von
Syriza ins Parlament gewählt worden, das sich am Tag nach seiner
Konstituierung auflöste, um Neuwahlen zu ermöglichen. "Ich war eine
One-Night-Stand-Parlamentarierin", sagt sie kokett und ironisch. Am
Sonntag wird sie nun wohl wieder gewählt werden. Auch sie wirft den
beiden Systemparteien, der sozialdemokratischen Pasok und der
konservativen Nea Dimokratia, die das Land seit 1974 abwechselnd
regiert haben, vor, die notwendigen strukturellen Reformen nicht in
Angriff genommen zu haben. Im übrigen hält sie die Querele um die
Besteuerung der Reeder für ein nachrangiges Problem.
Als
Jungkommunistin hatte sich Valavani am Widerstand gegen die
Militärdiktatur beteiligt. Sie wurde festgenommen, fünf Monate in
einem Haftzentrum des Geheimdienstes isoliert, gefoltert,
verbrachte weitere zwei Monate in einem Gefängnis und kam erst nach
dem Sturz der Diktatur im Herbst 1974 frei. Damals dachte sie, nun
werde eine völlig neue Gesellschaft aufgebaut. Sie träumte von einem
Paradies der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Wohlstands für alle.
Sie war gerade 20 Jahre alt.
Heute sagt Nadia Valavani nüchtern:
"Griechenland kann nur in der Euro-Zone bleiben, wenn es das Memorandum
aufkündigt. Wenn es hingegen beim Sparkurs bleibt, wird es zur
Drachme zurückkehren müssen." Wie bitte? Man glaubt, nicht richtig
gehört zu haben. Doch die Syriza-Politikerin verweist auf eine Rede,
die George Soros, die Börsenlegende, am vergangenen Sonnabend in
Italien gehalten hat. Der milliardenschwere amerikanische
Großinvestor geht davon aus, dass Syriza die Wahlen nicht gewinnt und
das Sparprogramm fortgesetzt wird. Dann habe Deutschland, die
wirtschaftliche Führungsmacht Europas, noch drei Monate Zeit, um
den Euro zu retten. Soros befürchtet, dass Merkel bei ihrem
ruinösen Kurs bleibt und der Euro dann verloren ist. Für alle.
Selbstmord und Suppe
Die rapide Verelendung drückt Nadia
Valavani in Zahlen aus: 2000 Griechen nahmen sich im vergangenen Jahr
das Leben. 485000 Ladenbesitzer mussten in den letzten zwei Jahren
schließen. Täglich werden in den Armenküchen Griechenlands 500000
Suppen ausgegeben.
Mit der Wirklichkeit, die sich hinter
diesen Zahlen verbirgt, hat Alkis Psychiagos jeden Tag zu tun. Er
arbeitet seit drei Jahren als Neurochirurg in einem der größten
Krankenhäuser Athens. Die Krankenkasse schuldet nicht nur den
Apothekern Geld, sondern auch den staatlichen
Krankenhäusern. "Wir haben zu wenig Spritzen und Plastikhandschuhe",
klagt Psychiagos, "und Watte bringen die Patienten inzwischen von
zu Hause mit." Schon müssten viele Operationen abgesagt werden. Stents
könnten oft nicht mehr implantiert werden. Auch fehle es an
Medikamenten für die Behandlung von Krebs. "Wir bewegen uns Richtung
Dritte Welt", sagt der junge Arzt.
Seit vier Monaten wartet er
auf die Bezahlung seiner Überstunden, die 30 Prozent seines Gehalts
ausmachen. In einem Jahr wird Alkis Psychiagos seine Fachausbildung
abgeschlossen haben. Dann läuft sein Vertrag aus. Eine Stelle als
Facharzt wird er in Griechenland so schnell wohl nicht finden. Er
plant, auszuwandern, wahrscheinlich nach Frankreich. Wie im
letzten Jahr 3000 Absolventen der medizinischen Fakultäten des
Landes. Griechenland blutet aus.
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