Die Angst vor dem Crash |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 20.02.2015
In Griechenland wird hoch
gepokert. Steht das Land vor dem Grexit oder stolpert es in die nächste Runde?
Immer mehr Bürger plündern ihre
ATHEN. Der alte Mann hat eine Botschaft. In kariertem
Barchenthemd und mit schwarzer Baskenmütze hat er sich vor dem ehemaligen
Königspalast aufgestellt, in dem heute das griechische Parlament tagt. Reglos
wie eine Statue steht er da, spricht mit niemandem, schaut niemanden an. Auch
unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen zuckt er mit keiner Wimper. In der
rechten hochgereckten Hand hält er offene Handschellen, in der linken ein
Plakat: „Diebe ins Gefängnis“. Mit den Dieben meint er ganz offensichtlich die
korrupte Politikerkaste, die mit ihrer Vetternwirtschaft das Land in den Ruin
getrieben hat.
Unterhalb des Palastes, in den als erster König von
Griechenland einst ein Deutscher, der bayrische Prinz Otto, einzog, sind auf
dem weitläufigen Syntagma-Platz über 20.000 Menschen zusammengekommen, Junge
und Alte, die einen ärmlich gekleidet, die andern ausgesprochen schick. Sie
demonstrierten nicht gegen die Regierung, sondern für sie, für Alexis Tsipras,
den neuen Premier, der Europa, vor allem den Deutschen, die Stirn bietet. Es
herrscht Feststimmung. Einige tragen Plakate, auf denen die schlichte Botschaft
steht: „in Würde atmen“.
Am Syntagma-Platz liegt auch das Luxushotel Grande Bretagne,
in dem eine Suite über tausend Euro kostet. Auf der Treppe zur Edelherberge
sitzen einige Frauen mit roten Gummihandschuhen. Es sind entlassene Putzfrauen,
die monatelang das Finanzministerium belagerten. Ihre roten Gummihandschuhe
wurden zum Symbol des Widerstands. 400 Putzfrauen, die die Finanzämter sauber
gehalten hatten, waren gefeuert und durch eine Reinigungsfirma ersetzt worden.
Jetzt sollen sie wieder eingestellt werden. Die alte Regierung hatte ihrer
Entlassung kaum Geld eingespart, war aber der Forderung der Troika nach einer
Verschlankung des öffentlichen Dienstes nachgekommen.
Aber die Troika gibt es nicht mehr, sie soll jedenfalls
nicht mehr so heißen. Jetzt reden Brüsseler Diplomaten von den „Institutionen“,
wenn sie das Trio von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und
Internationalem Währungsfonds meinen. Mit dem Wort Troika verbindet der
gewöhnliche Grieche ein Monstrum, das sein Land im Würgegriff hält und wie eine
Zitrone auspresst. Und so ließ Wolfgang Schäuble vor einer Woche verlauten:
„Wir nennen die ‚Troika’ aus Rücksicht auf unsere griechischen Freunde
neuerdings nicht mehr ‚Troika’, sondern: ‚Die Institutionen’.“ Das neue Etikett
ändere aber nichts an deren Prüfauftrag. Wer den Schaden hat, braucht offenbar
für den Spott nicht zu sorgen.
So einfach lässt sich der widerspenstige Tsipras allerdings
nicht zähmen. In einer vom Fernsehen übertragenen Rede riet er dem deutschen
Finanzminister, der sein Mitleid für die Griechen wegen ihrer „ziemlich
unverantwortlichen Regierung“ geäußert hatte, er möge sein Mitleid für jene
Leute aufzusparen, die mit gesenktem Kopf einhergehen. Griechenland werde nicht
kapitulieren, lasse sich nicht erpressen und auch nicht wie eine Kolonie
behandeln. Am Vortag hatte die Euro-Gruppe Griechenland ein Ultimatum bis heute
Freitagabend gestellt: Wenn die griechische Regierung keine Verlängerung des
Hilfsprogramms mit seinen Sparauflagen beantrage, werde der Geldhahn zugedreht.
Schluss, aus. Heute wollen die Eurokraten beraten, ob ihnen das Schreiben
reicht, das der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis ihnen gestern
zukommen ließ.
Schluss, aus? Wird hier nur gepokert, sind hier
hartgesottene Zocker am Werk. Ist es diesmal wirklich ernst oder stolpert man
bloß in die nächste Runde? Die Verunsicherung in Griechenland ist groß, und so
ziehen immer mehr Leute ihr Geld von den Banken ab, transferieren es ins
Ausland oder verstecken es in Sparstrümpfen oder unter dem Bett. Zur Zeit sind es wohl täglich an die
400 Millionen Euro. Noch herrscht in Athen keine Panik. Aber was passiert, wenn
es zu keinem Agreement kommt? Werden dann die Bankfilialen wie vor zwei Jahren
in Zypern vorsorglich schließen, bevor sie gestürmt werden, weil die
Bankautomaten leer sind?
Deutschland bestimmt den Kurs der Troika, davon ist man in
Athen weithin überzeugt. Und Schäuble ist auf dem besten Weg, als Beelzebub
Merkel in Griechenland abzulösen. Der deutsche Kassenwart steht unter dem Druck
von CSU, AfD und dem Bund der Steuerzahler. Tsipras muss auf seine
Anhängerschaft Rücksicht nehmen. Er hat die Wahlen mit dem Versprechen
gewonnen, das er nicht einfach brechen kann. Er kann die Politik seines
konservativen Vorgängers nicht einfach fortsetzen. Dafür ist er nicht gewählt
worden. Er hat ein anderes Mandat. Die Kosten für die Verwirklichung seines
Wahlprogramms - Erhöhung der Mindestlöhne, 13. Rente für jene mit den
niedrigsten Bezügen, Wiedereinstellung von 3.500 öffentlichen Bediensteten,
Lebensmittelhilfe und Krankenversorgung - veranschlagt sein Team mit elfeinhalb
Milliarden Euro. Um all dies zu finanzieren, will die neue Regierung nun
konsequent gegen Steuersünder vorgehen.
Just das aber hat die Troika schon von der alten Regierung
gefordert und ihr die Einrichtung eines Generalsekretariat für öffentliche
Einnahmen abgerungen. Geleitet wurde dieses von Haris Theoharis. Der 44-jährige
IT-Experte und ehemalige Banker bei Lehmann Brothers in London ist ein sportlicher
Mensch. Zum Treffen auf dem Lykavitos, dem dreihundert Meter hohen Hausberg von
Athen, zu dessen Gipfel eine Seilbahn hochfährt, kommt er zu Fuß. Die Aussicht
ist großartig. Auf der einen Seite die Akropolis mit dem Parthenon-Tempel, die
Hafenstadt Piräus, dahinter das Meer, auf der andern Seite frisst sich die
Stadt wie eine Krake in die Landschaft hinaus. Am Horizont ist ein weißer
Streifen zu erkennen. Dort, in Kifissia, leben die Superreichen, unter ihnen
viele Reeder.
Dem Staat Griechenland seien im Jahr 2013 etwa 6,5
Milliarden an hinterzogenen Steuern entgangen, sagt Theoharis, im Jahr 2014
wieder deutlich mehr, ungefähr 9 Milliarden. Kein Wunder, im Januar 2013 hatte
er sein Amt als oberster Steuerfahnder angetreten, im Juni 2014 hatte er den
Bettel entnervt hingeschmissen, obwohl er fünf Jahre lang unkündbar war. Der
umtriebige Spezialist hat gute Arbeit geleistet, für einige offenbar zu gute.
Zur Steuerfahndung setzte er eine Spezialeinheit ein, die auch prominenten
Steuersündern zu Leibe rückte . „Ich habe Drohanrufe erhalten“, sagt Theoharis
und macht eine Handbewegung, als verscheuche er eine lästige Fliege, „man hat
mir in E-mails alles Mögliche angedroht, aber gegangen bin ich, weil die
Regierung nicht zu mir hielt. Man bedeutete mir, ich solle etwas vorsichtiger
vorgehen, von gewissen Dingen die Hände lassen. Man hat es nicht so direkt
gesagt, aber es war schon klar. Man schätzte meine Arbeit nicht besonders, um
es vorsichtig auszudrücken.“ Genauer will er nicht werden.
Dass im Jahr 2013 Griechenland zum ersten Mal seit zehn
Jahren wieder einen primären Haushaltsüberschuss – einen Überschuss vor
Zinszahlung und Schuldentilgung – erwirtschaftete, schreibt sich Theoharis
durchaus als eigenes Verdienst zu. Noch positivere Resultate hätte er wohl
vorweisen können, wenn ihm das Finanzministerium die Lagarde-Liste ausgehändigt
hätte. Es ist die Liste mit Namen von 2.062 vermögenden Griechen, die ihr Geld
bei der Schweizer Niederlassung
der Hongkong and Shanghai Banking Corporation (HSBC) mit Hauptsitz in London
versteckt hatten. Ein Mitarbeiter der Bank hatte die Daten entwendet und der
französischen Finanzministerin Christine Lagarde, der heutigen IWF-Chefin,
zukommen lassen. Diese hatte die Liste im Jahr 2010 ihrem griechischen Amtskollegen
Giorgos Papakonstantinou von der sozialistischen Pasok weitergereicht.
Der aber ließ sie in einer Schublade verschwinden. Sein Nachfolger im Amt,
Evangelos Venizelos, ebenfalls Sozialist und bis vor einem Monat
Vizepremier, war auch im Besitz der Liste, hatte sie auf einen Datenstick
geladen, diesen aber dann irgendwann verloren. Als die brisante Liste im
Oktober 2012 wieder auftauchte, enthielt sie nur noch 2.059 Namen. Es fehlten –
wie ein Vergleich mit dem Original ergab - zwei Cousinen Papakonstantinous und eine weitere Person.
Und die schwerreichen Reeder, die keine Steuern bezahlen und
auf die fast jeder Grieche schimpft? Wollte Theoharis auch sie zur Kasse
bitten? „Das ist doch die einzige Industrie, die in Griechenland funktioniert“,
sagt er lachend, „die Reeder dürfen wir doch nicht vergraulen.“ Griechenland
hat die größte Handelsflotte der Welt. Zehntausende, oft hochqualifizierte
Arbeitskräfte, hängen von den Reedereien ab. Sie sind nach dem Tourismus die zweitgrößte Devisenquelle
der griechischen Wirtschaft. Die
Reeder müssen zwar eine geringe Steuer auf die Tonnage entrichten, ihre Gewinne
aber, die sie in der Regel auf Finanzplätzen in London und der Schweiz
realisieren, sind steuerfrei.
„Dieses Steuerprivileg der Reeder ist bei uns
verfassungsrechtlich verankert“, sagt Theoharis, „aber man wird irgendeine
Lösung anstreben, bei der sie etwas mehr Steuern abführen müssen.“ Theodore
Veniamos, Präsident der Vereinigung Griechischer Reeder, hat jüngst unverhohlen
auf die „attraktiven Angebote“ hingewiesen, die gewisse Länder griechischen
Reedern machten, um sie zu einer Niederlassung zu bewegen. Nein, den Standort
Griechenland, will weder Theoharis noch Tsipras in Gefahr bringen. Es wäre wohl
ein wirtschaftliches Harakiri.
Dem Staat aber fehlen Steuern, vor allem die Steuern der
Reichen. Und solange nicht auch die begüterten Bürger ihren Obolus entrichten,
solange keine Steuergerechtigkeit herrscht, ist es auch um die Steuermoral der
andern schlecht bestellt. „Die Menschen ächzen unter der Steuerlast“, sagt
Revekka Basmatzidou, „sie können einfach nicht mehr.“ Hinter dem Schreibtisch
der Präsidentin der Gewerkschaft der Steuereintreiber hängt ein Plakat von „Il
Quarto Stato“ (der vierte Stand). Das Gemälde des Piemontesen Giuseppe Pellizza
da Volpedo ist eine Hommage an die arbeitende Klasse, die aus dem Dunkel kommt
und dem Licht entgegenschreitet, eine blühende Zukunft vor sich.
Basmatzidou aber sieht schwarz. „Wie sollen wir mit weniger
Steuerbeamten mehr Steuern eintreiben?“, fragt sie. Früher waren es 10.500,
aufgrund der Sparmaßnahmen sind es noch 9.000. In Deutschland ist ein
Steuerbeamter im Durchschnitt für 730 Steuerzahler zuständig, in Griechenland
aber für 1.127. „Und in den letzten zwei Jahren wurde die Steuergesetzgebung 48
mal geändert“, klagt die Gewerkschaftlerin, „wie sollen da unsere Beamten noch
mitkommen? Wir brauchen klare Vorgaben der Politik, wir brauchen
Weiterbildungsmöglichkeiten. Schäuble hat angeboten, 500 deutsche
Steuereintreiber zu schicken. Bitte sehr. Sie sind willkommen.“
Was kann Basmatzidou tun, nachdem Zehntausende, vielleicht
Hunderttausende die verhasste Immobiliensteuer vorsorglich nicht gezahlt haben,
weil auf deren Abschaffung unter der neuen Regierung hofften? Strafverfahren einleiten?
Bis zu einem rechtskräftigen Urteil können bis zu 13 Jahren vergehen, denn bei
Beginn der Krise waren bei den Verwaltungsgerichten 800.000 Verfahren
aufgestaut? Wohnungen pfänden? Tsipras hat gerade angekündigt, dass seine
Regierung ein Gesetz einbringen werde, das die Pfändung von Erstwohnungen
verbietet und das erlaubt, geschuldete Steuern in bis zu hundert Raten zu
entrichten.
Das ist alles schön und gut. Der Staat aber braucht Cash
flow, einen Nettozufluss liquider Mittel, sonst ist er pleite. Spätestens Ende
März könnte es so weit sein, wenn in diesen Tagen keine Lösung gefunden wird.
In Griechenland kennt jeder das Diktum von 1893: „Dystichos eptochevsamen“ -
„Leider sind wir bankrott“. Mit diesen dürren Worten konfrontierte damals
Charilaos Trikoupis die Öffentlichkeit mit der harten Wirklichkeit, nachdem er
einen Monat zuvor zum siebten Mal Ministerpräsident geworden war.
„Wann werden Sie ‚Dystichos eptochevsamen’ sagen müssen?“
Dimitris Mardas, Vizefinanzminister und zuständig für den Rechnungshof, ist
amüsiert über die Frage. „Wir werden einen Weg finden“, sagt er in seinem
schlicht eingerichteten Büro, „es wird mit den Geldgebern eine Übereinkunft
geben.“ Mardas ist Professor der Wirtschaftswissenschaft - wie sein Chef
Giorgos Varoufakis, das Enfant Enfant terrible der Brüsseler Diplomatie. Doch
anders als der neue Politstar mit der Lederjacke und dem freundlichen Grinsen
wirkt er bescheiden, geerdet in den Mühen des Alltags. Die Ärmel hat er
hochgekrempelt. Vor Mitternacht kommt er selten nach Hause.
„Wir werden die Euro-Zone nicht verlassen“, sagt Mardas, der
bis Januar, bis Ende des Semesters, noch an der Universität von Thessaloniki
gelehrt, geforscht und geprüft hat, „die Drachme ist keine Perspektive.“ Sein
wissenschaftliches Spezialgebiet sind die öffentlichen Finanzen. Ein Grexit,
prophezeit er, würde für eine kaum kalkulierbare Dynamik auslösen, dann gehe es
bald nicht mehr um Milliarden Euro, sondern um Billionen. Er meint dies nicht
als Warnung an die andere Seite. Er ist nicht der Typ Zocker. Er gibt dies
einfach als Wissenschaftler zu bedenken.
Nüchtern im Gedankengang, trocken im Ton, unaufgeregt. Wer
Mardas reden hört, hätte ihm nie zugetraut, dass er neben einer Reihe von
wissenschaftlichen Fachbüchern auch einen Roman geschrieben hat. Da geht es um
Schwarzgeld, Erpressung und um ein Mitglied einer EU-Kommission, das sich in
eine geheimnisvolle Person verliebt. Der Polit-Thriller, erschienen 2012, trägt
den Titel „Der Charme eines Crash“. (nicht redigierte Version, die publizierte Version mag von dieser hier geringfügig abweichen). In der publizierten Version habe ich geschrieben, dass Giorgos Papakonstantinou der Nea Dimokratia angehört. Das ist falsch. Er gehört der sozialistischen Pasok an. Das habe ich nun hier korrigiert. © Berliner Zeitung
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