Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04-11-2015
Vor Lesbos spielen sich
dramatische Szenen ab. Täglich stranden hier tausende Mittelmeerflüchtlinge,
mehr als an jedem andern Ort Europas. Sie werden von kleinen ausländischen
Hilfsorganisationen empfangen und mit dem Nötigsten versorgt, oft auch aus
stürmischer See gerettet.
SKALA SKAMNIAS (LESBOS). Die alte Frau steht da wie
festgewurzelt, neben einer Feuerstelle mit Resten von verkohltem Holz. Sie hält
einen langen Ast in die Höhe, an dessen Ende eine Schwimmweste in grellem
Orange flattert. Es ist stürmisch. Das Meer tobt. Die Gischt klatscht an die
Felsen. Und die Frau steht einfach da und hält ihre leuchtende Fahne in den
Wind. Ihr Haus liegt direkt an der unbefestigten Küstenstraße, etwas außerhalb
des Dorfes. Vor dem kleinen Stall meckert eine Ziege. Unter den Olivenbäumen
scharren Hühner. Nachts macht die Bäuerin vor ihrem Haus ein Feuer an. Sie
signalisiert den Flüchtlingen, wo das Wasser flach ist, wo sie anlanden können.
Ihren Namen mag sie nicht nennen. „Ich bin nicht wichtig“, sagt sie.
Nur neun Kilometer Wasser trennen hier Asien von Europa. Die
griechische Insel Lesbos liegt weit weg von Athen, direkt vor der türkischen
Küste. Vier Fünftel der Mittelmeerflüchtlinge kommen in Griechenland an. In den
ersten zehn Monaten dieses Jahres waren es über 550.000, und über die Hälfte
von ihnen gingen in Lesbos an Land, die allermeisten am fünfzehn Kilometer
langen Küstenabschnitt zwischen Skala Skamnias und Molivos im Norden der Insel
– da, wo die alte Frau steht, die ihren Namen nicht nennen mag, und mit ihrer
improvisierten Flagge den Flüchtlingen den Weg weist.
Am Straßenrand beten fünf Männer, das Gesicht gegen Mekka
gerichtet. Es sind keine Flüchtlinge, sondern Engländer mit indischen Wurzeln.
Mohammed Agcha, ein drahtiger Mittvierziger mit gepflegtem Kinnbart, ist einer
von ihnen. Er arbeitet als Mathematiklehrer in Manchester. Er hat nur eine
Woche Herbstferien. Und die verbringt er hier mit einer Gruppe
indischstämmiger, muslimischer Briten. „Am Anfang haben wir alle geweint“, sagt
er. Der Anfang war vor einer Woche. Jetzt haben sie bereits Routine. Der
Kollege mit dem Feldstecher gibt das Signal. Sie steigen in ihr Auto, rumpeln
auf der holprigen Straße zur Stelle, wo gerade Flüchtlinge ankommen.
Das schwarze Gummiboot tanzt gefährlich auf den Wellen. Es ist brechend voll mit dunkelhäutige Menschen in
orangefarbenen Schwimmwesten. Zwei Männer in gelb-roten Gummianzügen springen
ins Wasser. Es sind Roger Comas und Dani Rodríguez. Sie gehören der
Hilfsorganisation „Proactiva“ an, einem Seenotrettungsdienst in Badalona bei
Barcelona. Als Anfang September Bilder von vier ertrunkenen Flüchtlingskindern
über Facebook verbreitet wurden, beschloss die Gruppe einzugreifen. Seit bald
zwei Monaten arbeitet sie nun schon auf Lesbos. Die gelb-roten Männer haben
hier Heldenstatus.
Comas und Rodríguez ziehen das Boot an Land, greifen sich
zuerst die Kinder heraus, schwingen sie den ausgestreckten Armen der Engländer
entgegen. Dann helfen sie den Frauen, eine Alte muss von vier Männern an Land
getragen werden. Schließlich steht die ganze Gruppe von etwa 40 Afghanen, die
wohl alle zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer gesehen haben, völlig
durchnässt und schlotternd auf der Straße. Zwei Norwegerinnen, die
Physiotherapeutin Berit Thorsund und die Fabrikarbeiterin Marit Eide Dahl,
nehmen haltlos heulende Kinder in die Arme. Die beiden gehören einer
norwegischen NGO an, die sich sonst um die Gesundheit von Frauen kümmert.
Eine rothaarige Frau verteilt allen zum Schutz vor Kälte
Plastikfolien in goldener Farbe. Es ist die irische Journalistin Olga Cronin,
die früher bei einer Tageszeitung arbeitete und nun als Freelancerin eigentlich
recherchieren und schreiben wollte. Sie hat in der vergangenen Woche ohnmächtig
zuschauen müssen, wie auf halber Strecke zwischen türkischer und griechischer
Küste ein Schiff mit 230 Flüchtlingen sank. Nur etwa ein Drittel von ihnen
konnte die Küstenwache retten. „Es war grauenhaft“, sagt sie, „das Bild werde
ich nie vergessen.“ Eigentlich hätte sie schon den Rückflug antreten sollen.
Doch sie hat eine neue Aufgabe gefunden und will vorerst auf der Insel bleiben.
Wohl über hundert Mitglieder von kleinen, weithin
unbekannten ausländischen Hilfsorganisationen aus aller Welt fahren täglich auf
der Ausschau nach Flüchtlingen die Schotterstraße an der Nordküste von Lesbos
ab. Auch einige wenige griechischen Helfer sind vor Ort. Bei gutem Wetter kamen
die Boote Mitte Oktober im Zehnminutentakt an. Jetzt, wo die Herbststürme
eingesetzt haben, sind es noch immer ein bis zwei Dutzend am Tag.
Schon um die 450 Menschen sind in diesem Jahr bei der
Überfahrt von der Türkei nach Griechenland – vor Lesbos, Kos, Samos, Chios und
andern Kleinasien vorgelagerten Inseln – nachweislich ertrunken. Die
Dunkelziffer lässt sich nicht einmal schätzen.
Es ist ein Riesendrama. Ein organgefarbener Streifen säumt die Nordküste von Lesbos:
Zehntausende weggeworfene Schwimmwesten zeugen von jenen, die es geschafft haben.
Und hunderte, vielleicht tausende Schlauchboote zeugen vom kriminellen
Milliardengeschäft der Schleuser. Doch hier, wo europaweit die allermeisten
Mittelmeerflüchtlinge stranden, glänzt der griechische Staat zu Wasser wie zu
Lande durch Abwesenheit: keine staatliche Hilfe, keine Seenotrettung,
höchstselten nur taucht die Küstenwache auf.
Aber immerhin sorgt der griechische Staat dafür, dass
Lesbos, das etwas über 80.000 Einwohner zählt, nicht aus allen Nähten Platz.
Täglich kommen zwar – je nach Wetterlage - 2.000 bis 7.000 Flüchtlinge an,
täglich aber besteigen auch einige tausend – nach ihrer Registrierung - die
Fähren nach Piräus oder Thessaloniki. So nimmt die Anzahl der Flüchtlinge auf
der Insel mal zu, mal ab und hat sich zwischen 10.000 und 15.000 eingependelt.
Zu rund 60 Prozent stammen die Gestrandeten aus Syrien, zu 30 Prozent aus
Afghanistan, die übrigen kommen aus Pakistan, Irak, Bangladesch, einige wenige
aus Afrika.
Im Stadtzentrum von Mytillini, dem Hauptort der Insel, sind
die Flüchtlinge omnipräsent. Männer in Kapuzenpulli und Trainingshosen bummeln
über die Hafenpromenade oder schlafen, in dicke Decken gehüllt, auf den
öffentlichen Bänken. Davor legen Frauen mit Kopftuch nasse Kinderwäsche auf den
Beton, sobald ihn die ersten herbstlichen Sonnenstrahlen erwärmen. Gewiss, es
gibt auch Griechen, denen all dies zuviel ist, die die Flüchtlinge zum Teufel
wünschen. Aber 10.000 Flüchtlinge sind eben auch 10.000 Kunden. Direkt oder
indirekt verdienen viele an ihnen. Wo Wasser, Pita, Hamburger verkauft oder
Handy-Chips aufgeladen werden, bilden sich Menschentrauben. Viele Ladenbesitzer
preisen ihre Ware auch in arabischer Schrift an. Zigaretten und Taschentücher
sind fast überall ausverkauft.
Vor dem Zollgebäude, da wo die Fähren ablegen, haben
Dutzende Familien ihre farbigen Iglu-Zelte aufgeschlagen, die sie jemandem
abgekauft haben und die sie schon bald weiterverkaufen werden. Geldwechsler bieten Euros für Dollars
und türkische Lire an. Die Flüchtlinge müssen ihre Fahrt aufs griechische
Festland selbst bezahlen: 45 Euro kostet der Trip. Doch aufs Schiff wird nur
zugelassen, wer registriert ist. Ohne Fingerabdruck darf keiner die Insel
verlassen.
Das wissen auch die völlig durchnässten Flüchtlinge, die an
der Nordküste von Lesbos gerade an Land gegangen sind. Und viele von ihnen
können die Länder an der Balkan-Route der Reihe nach richtig aufsagen:
Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich, Deutschland. In ihre
goldenen Plastikfolien gehüllt, bietet die Gruppe ein gespenstisches Bild. Sie
macht sich auf den Weg nach Skala Skamnias. Schon vor dem Dorfeingang werden
die Flüchtlinge mit heißem Tee und Sandwichs versorgt von einer
Hilfsorganisation, die sich vor zehn Tagen gegründet hat. Sie nennt sich
„Lighthouse“ (Leuchtturm). „Wir sind fünf Personen“, sagt Henry Hartley, ein
Engländer, der gerade sein Lehrerstudium abgeschlossen hat, „ein Däne, ein
Spanier, ein Norwegerin, eine Schottin und ich.“ Die Fünferbande hat sich in
einer Taverne des Dorfes zusammengefunden. Alle sind sie individuell angereist,
um irgendwie zu helfen. Bei einem Bauern haben sie ein Stück Land gemietet und einige
Zelte aufgebaut, damit sich erst mal ausruhen kann, wer will.
Aber die meisten Flüchtlinge wollen sofort weiter. Zum
Transitlager, das oberhalb des Dorfes liegt, eine halbe Stunde Fußmarsch, für
einige auch eine Stunde. Hier werden sie mit trockenen Kleidern und warmem
Essen versorgt. Ein Arzt kümmert sich um Kranke und Verletzte. Chef des
Transitlagers ist Christoforos Schuff. Die schwarze Kutte mit dem hölzernen
Kreuz weist ihn als griechisch-orthodoxen Mönch aus. Doch Shuff ist Amerikaner,
lebt aber schon seit 14 Jahren auf Lesbos, die letzten acht Jahre hat er im
Kloster Leimonas im Zentrum der Insel verbracht. „Viele Leute rufen mich an und
fragen, wie sie helfen können“, berichtet er, „und dann bringen sie Milch,
Brot, Kleider.“ Vom Staat erhalte er keine Unterstützung, sagt er, „auch von
oben nicht“, wobei er nicht Gott meint, sondern die Bischöfe.
Beim Mönch bleiben die Flüchtlinge höchstens einen Tag und
eine Nacht. Dann werden die
syrischen Familien zur Registrierung ins Lager Kara Tepe gefahren, alle andern
– auch Syrer ohne Familie – in ein Lager bei Moria. Kara Tepe, wo zwischen
2.000 und 3.000 Flüchtlinge campieren, wird von der Gemeinde Lesbos und dem
UNHCR gemeinsam geführt. Am Eingang des Lagers haben Händler ein halbes Dutzend Minimärkte und Imbissbuden
aufgestellt. Vodafone lädt Handys auf. Die „Ärzte ohne Grenzen“ haben eine
Krankenstation eingerichtet, und auch „Safe the Children“ ist vor Ort. Es gibt
einen Kinderspielplatz, und es sieht alles ziemlich sauber aus. Lagerleiter Stavros
Myrogiannis läuft mit Sonnenbrille wie ein Oberkommandant durchs Areal und
schreit unentwegt: „Frauen da längs! Zurück! Alle in eine Reihe! Ich verspreche
euch, ihr werdet innerhalb von 24 Stunden registriert!“
„Kaum eine Familie muss hier länger als einen Tag warten“,
bestätigt Fred Morlet, ein Franzose aus Bordeaux, der ausgezeichnet deutsch
spricht. Er war jahrelang Chef für Öffentlichkeitsarbeit der Armee im
französischen Sektor West-Berlins. Nun ist er als freiwilliger Helfer hier. Er
sorgt dafür, dass im Durcheinander von Ankommenden und Wegziehenden jede
Familie in einem Zelt unterkommt, dass der Abfall weggeräumt wird und für
vieles andere mehr. Morlet kennt sich aus in der Gegend, auch auf der
türkischen Seite. Seine Frau ist Türkin, die Schwiegereltern wohnen in Ayvalik,
da wo die Fähre nach Mytilini ablegt. Er war auch in Assos, das just gegenüber
von Skala Skamnias liegt. „Ich habe zugeschaut, wie dort die Flüchtlinge in die
Boote steigen“, sagt er, „aber fahren Sie nicht hin, das ist sehr gefährlich,
mit den Leuten lässt sich nicht spaßen, da geht es um ein Geschäft von zwei
Millionen Euro täglich.“
Im Oktober setzten an vielen Tagen über 2.000 Syrer und
Afghanen von Asien nach Europa über, und jeder zahlte tausend Euro. „Die
Schlepper fahren 50 Meter mit“, sagt Morlet, „dann springen sie ins Wasser und
lassen die Flüchtlinge allein. Oft muss derjenige, der bereit ist, das Boot zu
steuern, nach vorheriger Absprache nur hundert Euro bezahlen.“ Bei sehr starkem
Wellengang gibt es manchmal einen Risikorabatt. Dann kostet der Trip nur 500
Euro. Afghanen lassen sich eher darauf ein als Syrer – vielleicht, weil sie das
Meer nicht kennen, vielleicht, weil sie in der Regel noch ärmer sind als jene.
In den letzten Tagen war das Meer sehr stürmisch. Es kamen fast nur Afghanen
an.
Sie werden alle ins Lager bei Moria geleitet, das mit über 7.000 Menschen völlig
überlaufen ist. Griechenland hat auf Druck der EU zugesagt, fünf Hotspots zur
Registrierung der Flüchtlinge einzurichten. Das Lager von Moria steht unter
direkter Kontrolle von Athen. Die Polizei ist massiv präsent. Es ist der erste
und bisher einzige Hotspot. In Kara Tepe werden syrische Flüchtlingsfamilien
nur deshalb registriert, weil Moria mit der bürokratischen Erfassung nicht
nachkommt. Doch ist längst klar, dass registrierte Flüchtlinge, die weiter
westwärts wandern, später nicht nach Griechenland zurückgeschickt werden
können, wie es das Dublin III-Agreement eigentlich vorsieht. Griechenland, von
der Wirtschaftskrise arg gebeutelt, kann die Flüchtlinge nicht alle aufnehmen. Deshalb haben sich acht
EU-Länder sowie die Balkanstaaten Serbien, Mazedonien und Albanien Ende Oktober
darauf geeinigt, 100.000 Plätze zur Aufnahme und Registrierung von Flüchtlingen
zu schaffen, 50.000 sollen in Griechenland entstehen.
Aber 50.000 Flüchtlinge kamen allein in zwei Oktoberwochen
in Griechenland an! Und sehr viele haben es nicht geschafft. Die Leichenhalle
in Mytilini ist übervoll. Für die geborgenen Toten will der Bürgermeister von
Lesbos, Spyros Galinos, einen neuen Friedhof errichten. Auf dem Gottesacker bei
der Kirche des Heiligen Panteleimon, wo sie bisher bestattet wurden, ist kein
Platz mehr. Dort sind jetzt schon zahlreiche namenlose Gräber durchnummeriert,
auf den einen steht „agnosto“ (unbekannt), auf anderen „afthanos“ (ertrunken).
Am Wochenende machte Galinos, der im übrigen der rechtspopulistischen Anel
angehört, einen ungewöhnlichen, aber doch naheliegenden Vorschlag: Ein
Fährdienst soll die Flüchtlinge aus der Türkei abholen und sie auf sicherem Weg
nach Griechenland bringen.
© Berliner Zeitung.
In der veröffentlichten Fassung stand, dass in diesem Jahr schon über 3.300 Flüchtlinge bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken seien. Das ist falsch und ist in der oben stehenden Version korrigiert. Über 3.300 Flüchtlinge sind in diesem Jahr bei der Überfahrt übers Mittelmeer ertrunken, davon um die 450 in der Ägäis. Obwohl etwa vier Fünftel der Mittelmeerflüchtlinge von der Türkei nach Griechenland übersetzen, ertrinken immer noch die meisten auf dem weiten Weg von Libyen nach Italien, während die Strecke von der Türkei auf eine der ägäischen Inseln oft nur zehn Kilometer lang ist.
|