Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.02.2013
Die rumänische Provinzstadt Râmnicu Vâlcea gilt als
Zentrum des Internet-Betrugs. Die Cyberkriminellen
sorgen im Ort für einen neuen Reichtum.
RÂMNICU VÂLCEA. Es
ist eine friedliche Landschaft, durchzogen von sanft
geschwungenen Hügeln. Vor den Toren stattlicher Bauernhäuser tummeln
sich Gänse. Ab und zu ruckelt ein Pferdefuhrwerk vorbei. Am Horizont
türmen sich schneebedeckte Berge. Râmnicu Vâlcea liegt am
Fuß der Karpaten, in Oltenien, der westlichen Walachei, zwei Autostunden
von Bukarest entfernt. Die Oltenen gelten in Rumänien als besonders
pfiffig. Viele lassen sich senkrecht beerdigen, heißt es, damit sie am
Tag der Wiederauferstehung der Toten die ersten sind, die nach oben
fahren, am Himmelstor anklopfen und von Petrus empfangen werden.
Vielleicht ist es dieser Bauernschläue geschuldet, dass Râmnicu
Vâlcea eine besondere Stadt ist, eine besonders reiche. Im Zentrum
stöß
t man auf ungewöhnlich viele Edelshops mit Lederwaren,
teuren Parfums und Juwelen. Ungewöhnlich für eine rumänische
Provinzstadt ist auch die Anzahl schicker Limousinen der
Premium-Klasse von Mercedes, BMW und Audi, die durch die Straßen
kreuzen. Auffällig aber ist vor allem die Dichte der Schilder von
Western Union und MoneyGram, beides Dienstleistungsunternehmen, die
sich auf schnelle und unkomplizierte Geldüberweisungen
spezialisiert haben. In Râmnicu Vâlcea laufen viele krumme Geschäfte.
Redlich erworben aber hat sich die Stadt ihren Spitznamen:
Hackerville.
Râmnicu Vâlcea steht im Ruf, Welthauptstadt des
Internet-Betrugs zu sein. Eine Nummer kleiner würde es auch tun. Fest
steht jedenfalls: Hunderte, vielleicht weit über tausend Einwohner
haben sich hier ein Vermögen ergaunert, indem sie im Internet Waren
anbieten, die Kaufsumme einstreichen, aber dann nichts liefern,
indem sie Pins und Passwords "hacken", Kreditkarten klonen oder über
Phishing und Skimming, wie es im Fachjargon heißt, fremde Konten
plündern.
"Es ist eine mysteriöse Stadt", sagt Gheorge
Smeoreanu leise, und es liegt etwas Verschwörerisches in seiner Stimme,
"der Rubel rollt. Sie brauchen sich bloß die Gäste hier anzuschauen
und die Autos, die draußen parken." Am Tresen des Nobelrestaurants im
Stadtzentrum trinken zwei sportlich gekleidete junge Männer ihren
Whisky. Am Nebentisch schweigen sich vier Frauen an, alle in High
Heels, hautengen Klamotten, üppig geschminkt. Smeoreanu, 58 Jahre
alt, ist Journalist. Er hat nach dem Sturz der
Ceausescu-Diktatur 1990 die erste unabhängige Tageszeitung der Stadt
gegründet, leitet jetzt eine Wochenzeitung und kennt die Stadt wie
seine Hosentasche. "Nicht hinter jedem Steuer eines Luxuswagens
sitzt ein ehemaliger Hacker", sagt er, "aber hinter jedem zweiten
schon." Und ist Internet-Betrug für seine Zeitung ein Thema? Gibt es
journalistische Recherchen? "Ach was, das interessiert doch niemanden
hier", wehrt Smeoreanu ab. Das Thema ödet ihn an.
Hackerville?
"Natürlich weiß ich, dass ich hier in Hackerville bin", sagt auf der
Straße Ioan L., der aus dem siebenbürgischen Tirgu Mures stammt und in
Râmnicu Vâlcea eine militärische Ausbildung absolviert. Er zollt den
Internet-Betrügern durchaus Respekt. "Das muss denen erst mal einer
nachmachen. Chapeau."
Hackerville? "Ja, das hier ist Hackerville,
den Ausdruck kennt hier jeder", sagt der Bildhauer Marian F.,
der davon lebt, Marmorkreuze für die Toten zu meißeln. Für die
kriminellen Hacker hat er kein gutes Wort übrig: "Das ist purer
Diebstahl! Die sollen sich eine anständige Arbeit suchen."
Polierter Landrover
Hackerville? "Nie gehört", sagen zwei junge Männer, der eine mit
Kapuzenpulli, der andere mit Basecap, in Ostroveni, einem arg
heruntergekommenen Plattenbau-Viertel am Rand der Stadt.
Ostroveni gilt hier gemeinhin als als Stadtteil mit der höchsten
Dichte an Internet-Betrügern. In den kaum beleuchteten
schmuddeligen Straßen trifft man auf auffällig viele Luxuswagen.
"Nein, wir können Ihnen wirklich nicht weiterhelfen", entschuldigen sich
die beiden, verschwinden in einem nagelneuen, auf Hochglanz
polierten Landrover und brausen davon.
Das Dezernat für
Organisierte Kriminalität ist in einem einstöckigen Häuschen
untergebracht, das versteckt in der Innenstadt liegt. Chef ist Kommissar
L.M. Er bittet, in der Zeitung nur seine Initialen zu publizieren,
obwohl man kein Hacker zu sein braucht, um im Internet seinen vollen
Namen zu finden. Aber versprochen ist versprochen. L.M. also ist ein
Einmeterneunzigmann, athletisch gebaut. Sein Büro ist spartanisch
eingerichtet. An der Garderobe hängt ein Gummiknüppel. Vier
Polizisten seines Dezernats beschäftigen sich ausschließlich mit
Internet-Betrug.
"Ungefähr um die Jahrtausendwende wurden wir
auf die Cyberkriminalität aufmerksam", erinnert sich der Kommissar.
"Am Anfang war alles recht einfach. Da offerierte ein Täter auf der
geklonten Website eines Online-Anbieters eine Ware gegen Vorkasse und
lieferte sie nicht, strich aber das Geld ein, das das Opfer auf das
Konto, das auf dem gefälschten Formular angegeben war, einbezahlt
hatte." So simpel lief Internetkriminalität ab, als sie noch in ihren
Kinderschuhen steckte. Damals fiel es L.M. noch leicht, den
Betrügern auf die Schliche zu kommen.
"Schon bald verfeinerten die
Kriminellen ihre Methode", fährt L.M. fort. "Einer bot die Ware an, ein
anderer ließ sich das Geld überweisen." Dieser zweite, der sein
Konto zur Verfügung stellt, wird im Jargon der Ganoven "Pfeil"
genannt. Er kassiert eine Kommission zwischen fünf und sieben Prozent.
Und bei Entdeckung hat er eben keine Ahnung, weshalb ihm jemand
Geld auf sein Konto überwiesen hat. Clevere "Pfeile" arbeiten
mitunter gleich für mehrere Betrüger, die sie in der Regel gar nicht
persönlich kennen. Man steht nur im E-Mail-Kontakt miteinander.
"Angeboten werden Möbel, Laptops, Uhren, Boote, Autos, Parfums,
wirklich alles", sagt L.M., "in der Regel zum halben Ladenpreis - gegen
Vorkasse oder wenigstens Teilanzahlung." Der deutsche Schnäppchenjäger
sieht auf der gefälschten Website eines seriösen Unternehmens das
Objekt seiner Begierde und überweist Geld auf ein deutsches Konto,
das auf einen deutschen Namen läuft. "Bei rumänischen Namen werden ja
manche misstrauisch." Längst sind zwischen Tätern und Opfern mehrere
"Pfeile" zwischengeschaltet, die sich untereinander nicht kennen und oft
in verschiedenen Ländern oder gar auf verschiedenen Kontinenten
wohnen. Das Geld läuft so nacheinander über verschiedene Konten.
Jeder "Pfeil" sahnt eine Kommission ab. Beim Betrüger kommt dann
vielleicht noch die Hälfte des ergaunerten Betrags an.
Die Spur des Geldes wird nach allen Regeln verbrecherischer
Kunst verwischt. Es werden Konten unter Vorlage gefälschter
Ausweispapiere eröffnet. Die Überweisung über Western Union oder
MoneyGram, die weltweit Filialen - oft Büros mit Einmannbetrieb -
unterhalten, ist unkompliziert. Man zahlt Geld ein, erhält
eine Transaktionsnummer, die man dem Empfänger über E-Mail mitteilt,
der dann noch in derselben Minute unter Angabe dieser Nummer das Geld -
abzüglich einer Kommission - in einer andern Stadt abholt. So
zirkuliert das Geld im Eiltempo rund um den Erdball. "Die Vertreter
von Western Union und MoneyGram sind zwar verpflichtet, die Identität
der Kunden festzuhalten", sagt L.M., "doch wie soll ein ungeschultes
Auge einen gefälschten Ausweis erkennen?" Und wird notfalls nicht manch
einer zwei Augen zudrücken, wenn es dem eigenen Geldbeutel dient?
Längst haben Großkonzerne oder Auktionshäuser wie Ebay
Formulare für Polizeianzeigen auf ihre Websites gestellt, um
betrogenen Kunden entgegenzukommen. Und längst stellen pfiffige
Betrüger diese Formulare auf die geklonten Websites, um ihre Seriosität
unter Beweis zu stellen. Die einen verschlüsseln immer komplizierter,
die andern hacken immer gewiefter. "Der technische Fortschritt
hilft beiden Seiten", stellt L.M. lakonisch fest. Oft scheint es ein
Rennen zwischen Hase und Igel. Ick bün all dor! Wie viele Fälle er zur
Zeit bearbeitet, will der Kommissar nicht verraten. Er sagt nur:
"Viele."
Der Justizpalast in neoklassizistischem Stil ist das
imposanteste Gebäude von Râmnicu Vâlcea. Eine breite Treppe führt zu
den mächtigen Säulen vor dem Eingang. Hoch oben, auf dem Dach, thront
Justitia, wie es sich gehört, mit verbundenen Augen. Adrian
Gheorghita empfängt nicht in Richterrobe, sondern im gestreiftem
Pullover. Sein kleines Büro ist vollgestopft mit Hunderten Büchern:
Wirtschaftsrecht, Strafrecht, Strafprozessordnung,
Kommentare, juristische Nachschlagewerke. Der 38-jährige Präsident
des Strafgerichts hat jede Woche mit Internetbetrügern zu tun.
"Am Anfang waren es oft noch Einzeltäter", sagt der Richter, "jetzt
hingegen sind wir immer häufiger mit großen, gut organisierten
Gruppen von einigen Dutzend Kriminellen konfrontiert. Sie
arbeiten mit Prepaid-Handys, Satellitentelefonen, gehen in
Restaurants und Hotels drahtlos ins Netz, um die IP-Adresse ihres
Computers nicht preiszugeben. Wir hatten Gruppen, die bei bis zu 500
Opfern abgezockt haben, da kommt auch mal eine Schadenssumme von einer
Million Euro zusammen." Es geht um Betrug, Fälschung, Geldwäsche,
Organisierte Kriminalität. "Solche Prozesse dauern dann oft zwei
Jahre", sagt der Richter, "zumal die Täter alles Erdenkliche tun, um
das Verfahren zu verschleppen." Und sieht Gheorghita Fortschritte
im Kampf gegen die Cyberkriminalität? "Vor vier Jahren haben wir
zwei große Gruppen aus dem Verkehr gezogen", sagt der Richter.
"Seither gibt es wohl etwas weniger Internetbetrug hier in der Stadt.
Die Kriminellen weichen auf andere Städte aus." In Râmnicu Vâlcea ist
der Verfolgungsdruck doch sehr groß. Man will das Label
Hackerville loswerden.
Harry Potter hackt
Die
Internet-Betrüger selbst halten sich in Râmnicu Vâlcea bedeckt.
Jeder weiß, dass die Stadt Hackerville genannt wird, aber keiner will
einen Hacker kennen. Nach zwei Tagen hat sich immerhin herumgesprochen,
dass ein Reporter aus Deutschland in der Stadt ist und Kontakt zu
Cyber-Kriminellen sucht. Ein junger Mann bittet um eine
Zigarette, offensichtlich nur um einen Anlass zu finden,
ein Gespräch anzuknüpfen. Mit seiner großen Brille sieht er ein
bisschen aus wie Harry Potter. Man kann sich gut vorstellen, wie er
nächtelang am Computer sitzt und auf die Tasten seines Keyboards
hackt. Sein Englisch ist ausgezeichnet.
Schnell kommt das
Gespräch auf Internet-Betrüger. Der Mann druckst ein bisschen herum,
sagt schließlich: "Ich war vier Monate in Untersuchungshaft. Ich
bin Hacker. Ich kann Ihnen meine Geschichte erzählen." Gerne. Wir setzen
uns in ein Café. In die hinterste Ecke. "Nennen Sie mich einfach
Gabriel", beginnt der Mann, um zu signalisieren, dass er in
Wirklichkeit anders heißt. Ist ja verständlich. Doch dann verlangt er
50 Euro für seine Geschichte. Na ja, für 50 Euro kann jeder eine
gute Geschichte erfinden! Das Argument leuchtet ihm ein. Er kratzt sich
am Kopf. Schließlich redet er trotzdem.
Er wohne in Ostroveni,
erzählt Gabriel, sein Vater sei arbeitslos, seit das
Chemie-Kombinat, der größte Arbeitgeber der Stadt, die
Produktion faktisch eingestellt habe. Er selbst habe zwar eine
Ausbildung als Elektroingenieur, aber keine Arbeit gefunden, sei nach
Spanien gegangen, wo er drei Jahre als Maurer geschuftet habe. Und
tatsächlich spricht Gabriel auch spanisch. "In Alcalá de Henares,
einem Vorort von Madrid, sprach mich ein Kollege an und fragte mich,
ob ich bereit sei, ein Konto zu eröffnen, auf das jemand Gelder
einzahlen werde. So wurde ich, was man 'Pfeil' nennt", sagt Gabriel.
"Als ich zurück nach Râmnicu Vâlcea kam, war mir das zu wenig. Ich
wollte aufsteigen und lernte Websites klonen."
Irgendwann ist
ein Handy-Gespräch abgehört worden, eine IP-Adresse aufgeflogen, und
Gabriel geriet in die Justizmühle. "Doch nachweisen konnte man mir
nur die Sache mit einem einzigen Konto, über das einige Geschäfte
abgewickelt wurden. Aber ich hatte mehrere Konten, unter falschen
Namen." Wie viel Geld er auf kriminellem Weg verdient hat, will er
nicht verraten, nur: "Ich habe nicht schlecht gelebt, einen BMW
gefahren und viele Mädchen gehabt." Und was sagten seine Eltern, als
er in Untersuchungshaft kam? "Na ja, ich gab ihnen ja auch Geld. Sie
fragten nicht, woher ich es hatte. Und ich habe meiner Schwester
eine Ausbildung bezahlt." Und er selbst? "Ich bin wieder da, wo
ich schon mal war. Habe nichts mehr. Keine Arbeit. Kein Geld. Kein
Auto. Nichts." Wird er gleich um ein bisschen Geld bitten? Der
junge Mann spürt den Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Geschichte.
Ungebeten sagt er: "Ich kann Ihnen die Papiere zeigen: Prozess,
Urteil, Entlassung aus Untersuchungshaft. Alles offizielle Papiere." Ja,
bitte. Ostroveni ist nicht weit. "Ich bin spätestens in einer
Stunde mit den Papieren wieder hier", verspricht Gabriel und nimmt
das Geld entgegen für ein Taxi hin und zurück: drei Euro. Er ist
nicht wieder gekommen.
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