Die befreite Stadt |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 29.08.2011
Ein Krankenhaus voller Leichen, Freudenschüsse im Zentrum,
Familienfotos in der Diktatorenresidenz - Tripolis ist frei, die Zukunft
muss erst noch beginnen.
TRIPOLIS. Wo kam der schwarze Mann in Tarnuniform her? Aus dem Tschad, aus Mali oder Niger? Wird dort jemand von seinem Schicksal erfahren? Und wer war der andere, dessen Kopf sich auf dem aufgedunsenen Bauch des Schwarzen auszuruhen scheint - einer jener Heckenschützen, die von den Dächern und aus Fenstern auf Passanten feuerten? Der Mann mit dem langen grauen Haar und den blaugrünen nackten Füßen sieht aus wie ein schlafender Guru. Die hochschwangere Frau hat sich bestimmt auf ihr Baby gefreut. Weshalb liegt sie hier? Und was waren die letzten Gedanken der beiden Kinder? Konnten sie zwischen Kriegsspiel und richtigem Krieg überhaupt unterscheiden? Im Vorgarten des Krankenhauses von Abu
Salim, einem Stadtteil von Tripolis, in dem bis Freitag besonders heftig
gekämpft wurde, liegen 17 Leichen neben- und übereinander, zum Teil
seltsam verkrümmt, offenbar achtlos hingeworfen. Auf den unbedeckten
Teilen der Körper, auf Nasen, Augen, Händen und Füßen, auch auf Bäuchen,
haben sich Fliegen niedergelassen. Es stinkt entsetzlich. Es sind 34
Grad im Schatten und die Leichen liegen seit mindestens zwei Tagen,
vielleicht sogar schon doppelt so lange da, der gleißenden Sonne
ausgesetzt. Direkt vor dem Eingang des Krankenhauses liegen
weitere sieben Leichen auf Liegen, ein grünes Tuch bedeckt sie. Gleich
soll ein Lastwagen kommen und sie zum Leichenschauhaus fahren. Oder
werden sie irgendwo verscharrt? Unten im Keller des Krankenhauses
wischen junge Männer und Frauen den Boden auf. Dort unten sind jetzt
keine Leichen mehr, aber der süßliche Geruch verwesenden Fleisches lässt
sich nicht so schnell wegspülen. Ohne Mundschutz hält man es nicht aus. Die
Leichen im Garten sind ein furchtbarer Anblick - und doch nur ein Teil
des Grauens, das sich in der Klinik den vergangenen Tagen abgespielt
haben muss. Die Ärzte und Krankenschwestern seien geflohen, als die
Kämpfe begannen, sagt Mourad Boukcita, der Apotheker des Krankenhauses.
Als er die Klink betrat, seien da nur noch Tote gewesen, 72 hat er
selbst gesehen. Bruno Steven, ein Fotograf aus Belgien, erzählt, er habe
mehrere Stunden lang beobachtet, wie Lastwagen vorfuhren und Leichen
abtransportierten. Er hat 130 Tote gezählt, ist aber sicher, dass
deutlich mehr Menschen hier starben, zumal die Abtransporte schon in
Gang waren, als er ankam. Im ersten Stock hat er viele Tote entdeckt,
die - aus den Schusswunden zu schließen - wohl hingerichtet worden
seien. Andere Patienten sind vermutlich gestorben, weil sie nicht mehr
versorgt wurden. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass etwa 200
Menschen im Krankenhaus von Abu Salim starben und ihre Leichen tagelang
verwesten. Wer aber waren die Täter? Wer die Opfer? Die schwarzen Männer
in Tarnuniform waren wohl Söldner Gaddafis, vermutlich im Kampf
erschossen, von den Rebellen. Wer aber hat sie so respektlos in den
Vorgarten des Krankenhauses geworfen? Waren es Anhänger des
untergehenden Regimes, die den Journalisten zeigen wollten, wozu die
Rebellen fähig sind? Und die Toten aus dem ersten Stock? Waren es
Patienten, ermordet von Gaddafis Getreuen, kurz bevor sie die Klinik
räumten? Noch ist wenig geklärt und es ist fraglich, ob es je Antworten
geben wird. Bis Freitag noch hingen in Abu Salim viele grüne
Fahnen, Fahnen des Regimes von Muammar el Gaddafi. Nach Gefechten, bei
denen möglicherweise über hundert Menschen starben, haben die Rebellen
nun auch diesen Stadtteil unter Kontrolle - und damit, nur fünf Tage
nach Beginn der militärischen Angriffe auf Gaddafis Truppen in der
libyschen Hauptstadt, ganz Tripolis. Die Herrschaft des Diktators ist zu
Ende, Tripolis erobert, es war ein Kampf, der seinen Preis gefordert
hat, wie das Beispiel des Krankenhauses von Abu Salim zeigt. Doch
noch herrscht Unsicherheit in der Stadt. Gaddafis Einheiten scheinen wie
vom Erdboden verschluckt. Sind sie nur abgetaucht, um zu günstigerer
Stunde wieder loszuschlagen? Junge Rebellen kontrollieren an eilig
errichteten Barrikaden die Autos, die durch die Millionenstadt fahren.
Alle sind sie bewaffnet - mit Pistolen, Karabinern und Kalaschnikows.
Einige sehen wie brave Schüler aus, andere verwegen, sie tragen
Fliegerbrillen und schusssichere Westen. Den Stolz auf ihre Waffen sieht
man ihnen an, die einen haben sich das Gewehr lässig umgehängt, andere
haben es schussbereit im Griff, wieder andere halten ihre Gewehre in die
Luft und schießen drauflos. Sie freuen sich wie Kinder und kommen sich
vor wie Erwachsene. Vielleicht fühlen sich zum ersten Mal in ihrem Leben
ernst genommen. Ohne all diese gleichermaßen leichtsinnigen wie
todesmutigen Jugendlichen wäre Gaddafi noch immer in Bab al-Asisija,
seiner schwer befestigten Residenz in Tripolis. Auch Achraf
Bouchagoure hat eine Kalaschnikow, der 37-Jährige wirkt ernsthafter,
nachdenklicher als viele der jüngeren Kämpfer. Er ist schon am 17.
Februar auf die Straße gegangen. An diesem "Tag des Zorns" kam es in
zahlreichen Städten Libyens zu Kundgebungen gegen Gaddafi. Es war der
Beginn des Aufstands gegen das Regime. "Wir wurden sofort beschossen",
erinnert sich Bouchagoure, "es gab Tote." Danach richtete Gaddafis
Polizei Kontrollstellen entlang des Küstenboulevards ein. Seit knapp
zehn Tagen stehen dort die Barrikaden, die Bouchagoure organisiert hat.
Alle tausend Meter eine, jede wird von etwa einem Dutzend Rebellen
bewacht, rund um die Uhr. "Wie habt ihr Gaddafis Polizei am Ende
vertrieben?" - "Bewaffnet natürlich", sagt Achraf Bouchagoure ruhig.
"Und woher habt ihr die Waffen?" Er pfeift einen Jungen herbei, der ein
kleines, gebogenes Stück Wasserrohr aus der Tasche kramt. Er hat es mit
Dynamit gefüllt, wie es Fischer hier bei ihrer Arbeit benutzen, er hat
ein kleines Loch gebohrt, in das Loch einen Zünder hineingesteckt -
fertig war die teuflische Waffe. Der Junge fuchtelt mit dem Feuerzeug
herum. "Mit diesen Sprengsätzen haben wir Kasernen der Armee überfallen
und Gewehre geplündert", sagt Bouchagoure, "und nicht nur Gewehre." "Und
was hast du in deinem früheren Leben gemacht, Achraf?" Der Mann, der
für die militärische Verteidigung seines Viertels zuständig ist, zögert ,
dann sagt er: "Haschisch verkauft." Er hat nichts dagegen, dass dies in
der Zeitung steht, zusammen mit seinem Namen. "Bei uns hat die Jugend
viel gekifft, aber das ist jetzt vorbei. Wir haben eine Aufgabe." Auf
dem Grünen Platz, den die Aufständischen in Platz der Märtyrer
umgetauft haben, wird geschossen. Es sind Salutschüsse. Bärtige Männer
marschieren auf. Die Verstärkung aus Bengasi, der Hauptstadt des
befreiten Ost-Libyen, ist nach zwanzigstündiger Schifffahrt
eingetroffen. Noch nicht angekommen sind die über 30 Schiffe, die, so
die Rebellen, Wasser und Medikamente für Tripolis bringen sollen. Das
Leben in der Stadt wird schwieriger: Immer wieder fällt der Strom aus,
Lebensmittel und Benzin werden teuer und 70 Prozent der knapp zwei
Millionen Bewohner von Tripolis sollen nur wenig oder gar kein
fließendes Wasser haben. Wieder hört man Salutschüsse, der Platz
der Märtyrer, dessen Boden bedeckt ist von Patronenhülsen, ist in diesen
Tagen ein Ort der Freude über die neu gewonnene Freiheit. Kleinlaster
umfahren den Platz, auf den offenen Ladeflächen Kanonen, Raketenwerfer
und Flugabwehrgeschütze. Und überall die neue Fahne, die die alte des
von Gaddafi 1969 gestürzten König Idris ist. Mit wehenden Fahnen sind
sie auch an die Fronten gestürmt. Es hatte etwas Archaisches an sich.
Archaisch aber ist für die Menschen hier die Herrschaft Gaddafis, dieses
selbstverliebten Tyrannen mit seinem Kult um Beduinenzelt und
Kamelmilch. Auf einer Bank am Rande des Platzes sitzt Mustafa
Khalifa, er ist 42 Jahre alt und eigentlich Chefkoch bei einer
Ölgesellschaft. "Dort über der Treppe", sagt Khalifa und zeigt auf das
Haus der Polizeizentrale, "hat Gaddafi im April seine letzte öffentliche
Rede gehalten. Hunderttausende applaudierten." Die Hälfte der Zuhörer
sei aus Angst oder Pflichtgefühl gekommen, glaubt Khalifa, aber eben nur
die Hälfte. Die anderen Hälfte habe ihre Unterstützung bekunden wollen.
"Ich war auch ein Anhänger Gaddafis", gesteht der Chefkoch ein, "bis
vor zwanzig Tagen. Er sagte uns ja, die USA und die Europäer würden
intervenieren, um wie im Irak die Kontrolle über das Öl
zurückzugewinnen. "Vor drei Wochen erst ist mir klar geworden, dass er
lügt." Nun ist Khalifa für die Opposition. Hundertprozentig.
In
Bab al-Asisija stand auch die alte Residenz Gaddafis. Sie wurde 1986
von den Amerikanern bombardiert, als Vergeltung für den Anschlag auf die
Westberliner Diskothek La Belle, bei der ein US-Soldat starb. Vor die
Ruine hat Gaddafi ein Denkmal stellen lassen: eine große goldene Faust,
die einen amerikanischen Kampfbomber zerquetscht. Ruine und Denkmal sind
den Menschen in Libyen gut bekannt, aus dem Fernsehen: Sie bildeten die
Kulisse für die Reden des Diktators. jetzt sind sie mit Graffiti
beschmiert. Hinter dem Denkmal steht das Krankenhaus -
ausschließlich für Gaddafi und seine Familie gebaut, behaupten die
Rebellen. Die Zahnklinik, die ophthalmologische Abteilung, der Gebärsaal
- alles ist mit hochmodernen Instrumenten ausgerüstet,
Computertomographie inklusive. Doch die meisten Räume sind verwüstet und
geplündert. Man stolpert über Schutt und zerbrochene Fenster. Auch
die eigentliche Residenz der Familie sieht aus, als hätten gerade
Einbrecher einen Besuch abgestattet. Im Zimmer der Tochter Hana liegen
Fotos auf dem Boden, eines zeigt sie mit ihrem Vater in seinem braunen
Beduinengewand, ein anderes, wie sie in einem Swimmingpool mit Delphinen
spielt. Im Zimmer ihres einen Bruders liegen europäische Markenhemden,
im Zimmer eines anderen ein Stadtplan von Wien, eine Karte der Schweiz
und eine drei Jahre alte "Bild"-Zeitung. Dort, wo es zu den
Privatgemächern Gaddafis geht, steht Feisal Zaalouk, eine Kalaschnikow
in der Hand. Niemand dürfe hinein, sagt er. Zu viele Besucher schon
hätten etwas aus den Zimmern mitgenommen. Vielleicht, weil sie glauben,
Gegenstände aus dem Privatbesitz des Diktators ließen sich verkaufen,
vielleicht, weil sie das Gefühl haben, ihn auch jetzt noch, da er sich
vermutlich in irgendeinem Loch versteckt, exorzieren zu müssen. "Wir
wollen hier eines Tages vielleicht ein Museum über die Gaddafi-Diktatur
eröffnen", sagt Feisal Zaalouk. Er erzählt, dass er am "Tag des
Zorns" vor einem halben Jahr nicht dabei sein konnte. Am 17. Februar saß
er wieder einmal im Gefängnis seiner Heimatstadt Misrata - wegen
Drogengeschichten. Noch am selben Tag seien Agenten des Regimes zu ihm
in die Zelle gekommen und hätten ihm eine Waffe angeboten. Die sollte er
benutzen, um um die protestierenden Jugendlichen zu bekämpfen. Er habe
die Pistole genommen, das Gefängnis verlassen und sich schon am nächsten
Tag den Rebellen angeschlossen. Doch jetzt interessieren Waffen Feisal
Zaalouk nicht mehr. "Ich will studieren", sagt er, "und danach ein ganz
normales Leben führen - ohne Angst, ohne Drogen, ohne Haschisch." Die
neue Zeit ist zum Greifen nahe, begonnen hat sie für ihn noch nicht -
das wird sie erst, sagt er, wenn Gaddafi gefasst und in Handschellen
abgeführt wird. Feisal Zaalouk zeigt auf ein viereckiges Loch im
Rasen. Unweit der Stelle, wo einst Gaddafis legendäres Beduinenzelt
stand, wo er Staatsgäste empfing, beginnt ein Schacht. Steigt man hinab,
soll man in ein Tunnelsystem gelangen, das angeblich aus der Stadt
führt, 30 Kilometer weit. So behaupten jedenfalls die Leute hier. Ist
Gaddafi, den die Eroberer von Bab al-Asisija auf dem weitläufigen
Gelände vergeblich suchten, auf diese Weise entkommen? Nur einige
hundert Meter entfernt vom Schacht kommt wieder penetrant süßlicher
Gestank auf. Drei Leichen liegen in der Hitze. Es sind Schwarzafrikaner,
vermutlich Söldner Gaddafis, erschossen bei der Eroberung seiner
Residenz. Sie liegen schon seit mindestens vier Tagen hier. Niemand hat
sie weggebracht, niemand hat sie beerdigt. Wahrscheinlich ist einfach
niemand zuständig. Den libyschen Staat gibt es nicht mehr. Und die
Familien der drei Toten leben vermutlich jenseits der Sahara und wissen
von nichts. |