Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.10.2012
Portugal muss sparen, um die Auflagen der EU zu erfüllen. Aber
gerade das Sparen macht das Land kaputt. Deswegen regt sich
Widerstand.
LISSABON. Bougainvilleen leuchten an
jahrhundertealtem grauem Gemäuer. Eine klapprige Straßenbahn
zuckelt den Berg hinauf. Durch das Labyrinth enger Gassen zieht der
Duft gebratener Sardinen. Nirgends ist Lissabon schöner und
romantischer als in der Alfama, dem maurisch geprägten Fischerviertel
über dem Tejo, dem Fluss, der sich hier zum Meeresarm weitet. Es ist
eine verwunschene Welt, von der ein seltsamer Zauber ausgeht, vor
allem am Abend. Dann durchbrechen die klagenden Melodien des
Fado die Stille: Lieder von Sehnsucht und Liebe, von Trauer und der
Weite des Meeres, von verlorenen Welten und dem mühseligen Alltag.
Fado ist das portugiesische Wort für Schicksal, Verhängnis. Der
Grundtenor des Fado-Gesangs ist Schmerz.
Da, wo sich das
Gassengewirr zu einem Plätzchen weitet, auf dem der Wirt einige Stühle
und Tische mit Gedeck aufs Pflaster gestellt hat, steht Nuno, ein
schlanker, junger Mann, und singt mit Inbrunst. Mit seiner
Bügelfaltenhose, weißem Hemd und schwarzer Krawatte wirkt er in
diesem doch ziemlich heruntergekommenen Viertel wie eine
Fehlbesetzung. Zwei Musiker begleiten ihn. Der eine zupft leise an einer
zwölfsaitigen portugiesischen Gitarre, der andere an einer
Viola, wie hier die spanische Gitarre genannt wird. Nuno singt
herzzerreißend, mit geschlossenen Augen. Seine Töne ziehen sich
unendlich in die Länge, bis sie dann leise verhallen. Die Worte -
eine einzige Klage.
Auch nach seinem Auftritt klagt Nuno, unten
in einer Bar am Ufer des Tejo, doch über ganz irdische Dinge. "Seit
zwei Jahren bin ich arbeitslos", sagt er, "ich erhalte vom Staat nicht
einen einzigen Escudo." Seit zehn Jahren bezahlen die Portugiesen in
Euro. Aber Nuno spricht noch immer vom Escudo, der alten Währung.
Vielleicht, weil Euro nach Europa klingt, und auf Europa, an dessen
Tropf Portugal hängt, ist Nuno nicht gut zu sprechen.
Bald wird
er aus Europa verschwinden. Bis es so weit ist, muss er sich irgendwie
über Wasser halten. So singt er jeden Tag viermal eine halbe Stunde
seinen Fado im kleinen Restaurant, das einem Freund eines Freundes
gehört. "Der Fado, den du hier in der Alfama hören kannst", sagt er
abschätzig, "ist kein richtiger Fado, der ist gerade gut genug für euch
Touristen." Und mit echter oder gespielter schlechter Laune fügt er
hinzu: "Ich bin ja auch keine Amßlia Rodrigues." Die berühmteste
Fadistin Portugals, gestorben 1999, ist die einzige Frau, die unter
prominenten Politikern und Poeten im nationalen Pantheon ihre letzte
Ruhe gefunden hat.
Nuno ist kein Musiker. Er ist Architekt. Ein
brotloser Beruf in Zeiten, wo kaum noch jemand bauen will. In drei
Monaten wird er Europa verlassen. Er wird nach Afrika auswandern,
zusammen mit seiner Xuxa, einer Brasilianerin, die er vor einer Woche
geheiratet hat. Eine Baufirma hat ihm einen festen Vertrag angeboten,
mit einem Gehalt, von dem er in Portugal nur träumen konnte, und
vielleicht findet ja auch Xuxa in Luanda, der boomenden Hauptstadt
Angolas, eine Stelle. Hier in Lissabon jedenfalls nicht.
Weit
über 100000 Portugiesen sind seit zwei Jahren, seit die Krise das Land
im Würgegriff hält, allein nach Angola ausgewandert, fast ebenso
viele nach Brasilien, vor allem gut ausgebildete und hoch
qualifizierte Arbeitskräfte. Angola, einst bitterarme
portugiesische Kolonie, ist heute - aufgrund der Ausbeutung der
Ölvorkommen - nach Südafrika und Nigeria die drittstärkste
Wirtschaftsmacht Afrikas. "Die angolanischen Neureichen", sagt Nuno,
"sind heute beliebte Kunden in der Avenida da Liberdade." Dort, im
modernen Zentrum Lissabons, reihen sich Juwelierläden an
Edelboutiquen und Luxushotels.
Vor 40 Jahren ist Nunos Onkel als
Leutnant der portugiesischen Armee im Krieg gegen die angolanische
Guerilla gefallen. Drei Jahre später, 1975, wurde die Kolonie
unabhängig. Nun entflieht der Neffe der Armut der ehemaligen
Kolonialmacht ausgerechnet nach Angola.
Vilma, 30, ist den
umgekehrten Weg gegangen - von Afrika nach Europa. Geboren wurde sie auf
São Tomé, einer Insel in der Größe Berlins, 200 Kilometer vor der
afrikanischen Küste am Äquator gelegen, die ebenfalls 1975 von
Portugal unabhängig geworden war. Zusammen mit ihrer Mutter, die von
den Kapverden stammt, einer weiteren portugiesischen Ex-Kolonie, zog sie
im Kindesalter nach Lissabon. Nun lebt sie in Arrentela, einem
Industrievorort auf der anderen Seite des Tejo. Schon die Straßennamen
weisen darauf hin, dass es eine neue Stadt ist: Straße der
freiwilligen Feuerwehrleute, Straße der Metallarbeiter, Straße
José Afonso, benannt nach dem Komponisten von "Grandôla Vila Morena",
der Hymne der Nelkenrevolution von 1974.
Vilma ist
alleinerziehende Mutter von drei Kindern, elf, sieben und fünf Jahre
alt. Vom Staat erhält sie monatlich 126 Euro Sozialhilfe, vor einem
Jahr war es noch doppelt so viel. Zudem ist die Mehrwertsteuer
innerhalb von zwei Jahren von elf auf 23 Prozent gestiegen. Im Mai des
vergangenen Jahres hat eine Troika aus Europäischer Kommission,
Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds
dem vor dem Bankrott stehenden Staat eine Finanzhilfe in Höhe von 78
Milliarden Euro gewährt. Im Gegenzug muss Portugal privatisieren,
Steuern erhöhen und vor allem sparen.
Das Land scheint sich
kaputt zu sparen. Sinkende Löhne führen zu sinkendem Konsum und zu
sinkender Nachfrage. Täglich melden in Portugal im Durchschnitt 50
Firmen Konkurs an. Auch in Arrantela, einem Zentrum der Chemie- und
Stahlindustrie, ist die Arbeitslosigkeit rapide gestiegen.
"Als
Schwarze hast du hier auf dem Arbeitsmarkt ohnehin kaum eine
Chance", sagt Vilma, die Portugiesin mit schwarzer Haut, deren mickrige
Sozialhilfe halbiert wurde, weil irgendwelche Finanzhaie und von
niemandem kontrollierte Kräfte entfesselter Märkte ihr Land an den
Rand des Ruins trieben. Aber mit der Opferrolle will sich Vilma nicht
abfinden. Schließlich ist sie nicht nur arbeitslose Mutter, sondern
auch Rapperin. Zusammen mit Anokas und Monika hat sie die Band Red
Chikas - rote Mädels - gegründet. Seit zehn Jahren arbeitet das Trio
nun schon zusammen, von Braga im Norden bis zur Algarve im Süden des
Landes, überall in Portugal sind sie schon aufgetreten. Auch aus
Frankreich haben sie Einladungen erhalten.
Es ist die einzige
ausschließlich weibliche Rap-Gruppe Lissabons, wahrscheinlich
ganz Portugals. Der aggressive Sprechgesang ist weltweit eher
Männersache. Vilma hat drei Jahre auch bei den Red Eyes mitgespielt,
der Gruppe von Chullage, dem berühmtesten Rapper des Landes.
"Chullage ist ein Revolutionär", sagt sie, "er rüttelt auf, ruft zum
Widerstand. Unsere Texte handeln mehr vom Alltag."
"Wir machen
alles zum Thema", sagt Anokas, die mit einer dampfenden Feijoada, einem
schmackhaften, mit Stockfisch angereichertem Bohneneintopf, aus
der Küche kommt, ihr langes blondes Haar nach hinten wirft und ihren
Joint ausdrückt, "wir reden über Gewalt, über Drogen, über
Prostitution, Schwangerschaft und Lesben, über alles, was in den
Köpfen steckt und oft nicht raus kommt, und vor allem über die Nöte des
Alltags." Anokas, 29, Tochter eines Polizisten, gehört zu der kleinen
weißen Minderheit in der vorwiegend schwarzen Welt des Rap. Aber das
kapverdische Kreolisch, eine portugiesisch-afrikanische
Mischsprache, das unter den afrikanischen Einwanderern und ihren
Nachkommen gesprochen wird, beherrscht sie perfekt.
Es gibt
Hunderte Rapper in Lissabon, aber von öffentlichen Auftritten und
dem Verkauf ihrer CDs können nur die Allerwenigsten leben. Anokas
kellnert zweimal die Woche in einem Restaurant, zudem hat sie zu Hause
in einem etwa acht Quadratmeter großen Zimmer einen Schönheitssalon
eingerichtet. Sie bietet Maniküre, Enthaarung und Intimrasur an. Wie auch Vilma textet sie den Rap der Red Chikas. Im neuesten
Gesang schreit sie ihre Empörung über die Gefühlskälte ihrer
Mitmenschen heraus und ihre Frustration über "so viel Streit, Dummheit
und verlorenes Leben", um dann festzustellen, dass, "wenn es einem
schlecht geht, es immer noch jemanden gibt, dem es noch schlechter
geht".
Die Red Chikas sind um die 30 Jahre alt. Natürlich wollen
sie alle drei weiter arbeiten, weiter produzieren, sich
professionalisieren. Vielleicht haben sie einmal von einem großen
Durchbruch geträumt. Inzwischen aber sind sie realistisch
genug, um zu wissen, dass ihr Sprechgesang sie nie ernähren wird.
"Für mich bedeutet Rap eben einfach auch, aus dem Alltag auszubrechen,
das Elend ein paar Stunden zu vergessen", gesteht Vilma ein. Täglich
wird sie von Neuem in die triste Realität zurückgeholt.
Schließlich ist
sie nicht nur Rapperin, sondern auch dreifache Mutter und
arbeitslos dazu. Also geht sie putzen, schwarz natürlich, um ihre Kinder
durchzubringen. Oder sie findet über eine
Zeitarbeitsagentur irgendeinen Job. Zuletzt hat sie in einem Call Center
gearbeitet - "auf grüne Quittung", wie sie sagt.
Von den
knapp über fünf Millionen Erwerbstätigen Portugals arbeiten
vermutlich mindestens eine Million "auf grüne Quittung" - das heißt in
zeitlich befristetem Vertrag, sozialabgabepflichtig (die
Leistungen werden auf grünem Zettel quittiert), aber ohne Anrecht auf
Urlaub, auf Arbeitslosengeld und mit Recht auf Krankengeld erst nach 30
Tagen. Der Arbeitgeber bezahlt für sie keine Sozialabgaben und kann sie
faktisch von heute auf morgen entlassen. Und wer auf "grüne Quittung"
arbeitet, ist meistens unterbezahlt und muss einen höheren Prozentsatz
an Abgaben entrichten als der regulär Beschäftigte. "Es ist ein
riesiger Skandal", sagt Tiago. In der Tat ist in der Europäischen
Union Portugal das Land mit dem höchsten Anteil an prekär
Beschäftigten.
Tiago, Agronom mit
Hochschulabschluss, ist 34 Jahre alt, ein Mann mit kantigem Gesicht und
markanten Augenbrauen. Ein bisschen sieht er aus wie Rudi
Dutschke. Den Gesprächspartner fixiert er mit durchdringendem
Blick. Vor fünf Jahren hat er die "Précarios inflexíveis" gegründet,
die "Unbeugsamen Prekären", ein Wortspiel, denn "inflexíveis"
heißt im Portugiesischen auch "Inflexible", solche also, die sich der
Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen widersetzen wollen. "Vor
wenigen Jahren noch kannte kaum ein Portugiese das Wort ,prekär'", sagt
Tiago, "heute ist es in aller Munde."
Spätestens seit dem 15.
September. Da stand das Wort tausendfach auf Transparenten. Da sind
landesweit etwa 500000 Portugiesen auf die Straße gegangen,
vielleicht auch doppelt so viele, um gegen eine Entscheidung der
konservativen Regierungskoalition zu demonstrieren. Diese hatte
beschlossen, den Anteil der Sozialabgaben der Arbeitgeber von 23,75
Prozent auf 18 Prozent zu senken und jenen der Arbeitnehmer von elf
auf 18 Prozent zu erhöhen. Viele empfanden dies als
Transferleistung der Armen an die Reichen. Zur Demonstration hatten
vor allem die Aktivisten der "Unbeugsamen Prekären" aufgerufen. Die
Forderung: "Wir wollen unser Leben zurück."
Die massive
Beteiligung an der Demonstration, für die über Facebook mobilisiert
wurde, hat alle überrascht, auch die "Unbeugsamen Prekären". "Der Bann
ist gebrochen", sagt Tiago, "nichts ist mehr wie vorher." Glaubt
er tatsächlich daran, dass es gelingt, die von der EU geforderte
Sparpolitik zu kippen, eine Alternative durchzusetzen? "Ich bin ein
optimistischer Skeptiker", sagt er etwas kryptisch zum Abschied.
Werden die Portugiesen, denen eine große Leidensfähigkeit
nachgesagt wird, sich tatsächlich wehren?
"Ich bin nichts. Ich
werde nie etwas sein. Ich kann nicht einmal etwas sein wollen. Abgesehen
davon trage ich in mir alle Träume der Welt", verkündet ein
Graffiti in der Alfama, dem pittoresken Altstadtviertel von
Lissabon, wenige Häuser oberhalb des Restaurants, in dem Nuno mit seinem
Fado die Herzen der Touristen erweicht. Es ist der Anfang des
"Tabakladen", des bekanntesten Gedichts von Fernando Pessoa. In
Portugal kennt es jeder.
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