Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.04.2013
In einem afrikanischen Viertel in Lissabon will eine
Bürgerinitiative zeigen, dass ein anderes Leben möglich ist.
COVA DA MOURA. Es ist ein bunter
Flecken inmitten grauer Vorstadtsiedlungen. In der engen Gasse brät
eine Frau über einem Gaskocher Sardinen. Sie ist in ein farbiges
afrikanisches Gewand gehüllt. Auf dem kleinen Holztisch vor ihr türmen
sich Mangofrüchte und Maniokwurzeln. Ein junger Mann mit Dreadlocks
lehnt lässig an der Mauer und zieht an einem Joint - auch er von
schwarzer Hautfarbe wie auch die Kinder, die da, wo sich die Gasse zu
einem kleinen Platz erweitert, Fußball spielen.
Über dem mit
Lappen markierten Tor zeigt ein riesiges Wandgemälde einen Mann mit
akkurat gestutztem Bart
und Brille. Es ist Amilcar Cabral, der
Gründer und Führer der Unabhängigkeitsbewegung von Guinea-Bissau und Kap
Verde. Den Rückzug der portugiesischen Kolonialmacht nach der
Nelkenrevolution von 1974 hat er nicht mehr erlebt. Er wurde ein Jahr
zuvor ermordet.
Mit mütterlichem Charme
Hier in
Cova da Moura, einer Siedlung auf einem Hügel am Nordrand Lissabons,
kennt seinen Namen jeder. Drei Viertel der rund 6000 Einwohner
stammen von den Kapverdischen Inseln, die restlichen stammen aus
Angola, Mosambik und Portugal. In jüngster Zeit sind auch einige
Osteuropäer hierhergezogen.
In Cova da Moura standen bis in die
70er-Jahre bloß einige Baracken von Landarbeitern. Nach der
Nelkenrevolution, die einem halben Jahrhundert Diktatur ein
Ende setzte und den Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreichs
besiegelte, verließen Hunderttausende weiße Siedler Angola und
Mosambik. Rückkehrer errichteten in Cova da Moura die ersten Häuser, und
schon bald kamen Afrikaner aus den ehemaligen Kolonien, vor allem aus
Kap Verde, auf der Suche nach einem besseren Leben. Man spricht
auf dem Hügel bis heute vom "europäischen Viertel", wo die etwas
besseren Häuser stehen, und vom "afrikanischen Viertel", wo die
Gassen enger und die Häuser kleiner sind. Cova da Moura ist einer der
ärmsten Vororte Lissabons - ein Problemviertel, wie es in der Sprache
der Soziologen heißt. Ihm geht der Ruf voraus, ein Nest von
Drogenhändlern und Kriminellen zu sein.
"Wir sind gewiss nicht alle
Engel", sagt Godelieve Meersschaert, "natürlich gibt es hier auch
Probleme, aber die Medien übertreiben maßlos, ohne jede Scham, ohne
wirklich hinzuschauen." Der Ärger ist verständlich, denn Lieve, wie
die 68-jährige Rentnerin im Viertel genannt wird, hat viel dafür
getan, dass Cova da Moura seinen schlechten Ruf loswird. Was es
heute auf dem Hügel an Nachbarschaftshilfe, an sozialen
Projekten, an solidarischer Gemeinschaft gibt, ist vor allem ihr
Verdienst. Kaum jemand kennt das Viertel so gut wie sie. Schon seit 30
Jahren lebt sie hier.
Hinter dem mütterlichen Charme, den Lieve
ausstrahlt, verbirgt sich eine kämpferische Natur. Nach Portugal
kam die Belgierin, um in Braga, im Norden des Landes, eine Hilfsaktion
für Arbeiterinnen zu organisieren, die eine holländische
Textilfirma entlassen hatte. 1978 zog sie nach Lissabon um, wo sie
mithalf, eine Gewerkschaft der Hausangestellten zu gründen, bei der sie
drei Jahre lang arbeitete. Schließlich ließ sie sich mit ihrem
portugiesischen Mann in Cova da Moura nieder. Das war 1982. "Wir waren
damals 900 Personen, die sich eine Wasserstelle teilen mussten",
erzählt sie, "am 1. November 1984, dem Tag der Allerheiligen, taten
wir uns zum ersten Mal zusammen, um die Versorgung unserer Häuser
mit fließendem Wasser zu fordern."
Aus dem Kampf ums Wasser
entstand eine Bürgerinitiative, die nach und nach das Viertel
veränderte. Als erstes sorgte sie für eine Jugendbibliothek, später
kamen eine Kinderkrippe, schließlich ein Kindergarten hinzu, in dem
die Eltern für 70 Euro im Monat ihren Nachwuchs von sechs Uhr früh bis
neun Uhr abends pädagogisch geschultem Personal überlassen können.
"Früher haben 20 Prozent nicht bezahlt, heute sind es 40 Prozent",
sagt Lieve, "man merkt die Krise schon."
Die Bürgerinitiative
bietet auch Nachhilfeunterricht an sowie Computer- und Internetkurse.
Sie unterhält ein Büro, das sich um die Vermittlung von
Arbeitsplätzen kümmert, und bemüht sich um die Reintegration von
entlassenen Häftlingen. Für Touristen organisiert sie
Spaziergänge, um ihnen Kunst und Küche des Viertels, beide stark
kapverdisch gefärbt, nahezubringen. Einige der Projekte werden
finanziell vom Staat unterstützt, andere von der EU. Heute ist die
Bürgerinitiative, bei der 85 Personen aus dem Viertel eine bezahlte
Vollzeitbeschäftigung gefunden haben, der größte Arbeitgeber von Cova da
Moura.
Aber trotz des Elans der Bürgerinitiative,
trotz aller Projekte, ist Cova da Moura eben doch ein
Problemviertel geblieben. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Es gibt
Gewalt und Drogen. Wie in andern ärmeren Vierteln der Lissaboner
Peripherie auch. Bloß ist dies hier alles zum Thema einer öffentlichen
Debatte geworden. Unter professioneller Anleitung drehten
Einwohner von Cova da Moura sechs kurze Dokumentarfilme, die das
staatliche Fernsehen ausstrahlte. Ein Film handelt von den Bemühungen,
entlassene Häftlinge zu reintegrieren, die dann oft doch wieder
straffällig werden. Ein anderer diskutiert die Probleme Jugendlicher,
die vorzeitig die Schule abbrechen, und wieder ein anderer hat
sich des sensibelsten Themas im Viertel angenommen: die Staatsgewalt und
die Gewalt von Jugendlichen. Bei polizeilichen Übergriffen wie bei
Übergriffen auf die Polizei kam es schon zu Toten. Auf beiden Seiten
herrscht Angst - eine schlechte Voraussetzung für sozialen Frieden.
Es wäre viel geholfen, so die Botschaft des Kurzfilms, wenn jede
Seite merken würde, dass die andere Seite auch Angst hat.
Seit
Jahren wollen die Behörden von Amadora, der Vorstadt von Lissabon, zu
der Cova da Moura gehört, das Viertel abreißen. Auf dem stadtnahen Hügel
ließe sich mit dem Bau einer modernen Wohnsiedlung prächtig Geld
verdienen. Die Einwohner von Cova da Moura wehren sich gegen den
geplanten Abriss. Gewiss, viele Gebäude sind etwas heruntergekommen,
einiges bedarf der Reparatur.
"Die Hoffnung ist da"
Aber es
ist ein lebendiges, für den Fremden ein pittoreskes Viertel. Aus zwei
Dutzend kleinen Restaurants steigen afrikanische Düfte. Am Abend hallen
dumpfe Rap-Rhythmen durch die Gassen. Die Bürgerinitiative steht in
permanenten Verhandlungen mit den Behörden. "Inzwischen wollen
sie nur noch 40 Prozent abreißen", sagt Lieve.
"Eine andere
Welt ist möglich, wenn die Leute nur wollen", heißt es in großen
Lettern an der Mauer des Kulturzentrums der Bürgerinitiative,
und auf einer andern wird der portugiesische Nationaldichter Fernando
Pessoa zitiert: "Gott will, dass der Mensch träumt." Hat Cova da Moura
eine Chance? Gibt es ein gutes Leben im schlechten, das von Armut und
Ausgrenzung gekennzeichnet ist? Der portugiesische Filmer
Joaquim Leitão hat einen Film im afrikanischsten Viertel von
Lissabon gedreht. Er trägt den Titel: "Die Hoffnung ist da, wo man sie
am wenigsten erwartet."
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