Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 19.04.2013
Portugal hat vor zwölf Jahren den Konsum weicher wie
harter Drogen entkriminalisiert - der beachtliche Erfolg
spricht für den Schritt.
LISSABON. Seine Wangen sind
hohl, der Blick unruhig, die Hose zerfetzt. Der junge Mann stellt
seinen Rucksack vor sich hin, bückt sich umständlich und nestelt
die Schnüre auf. Dann kramt er bedächtig Spritzen hervor, zählt: "Eins,
zwei, drei... vierundzwanzig, fünfundzwanzig." 25 gebrauchte Spritzen
wirft er in den Plastikeimer, den ihm Diana hinhält. 25 neue, steril
verpackte Spritzen händigt ihm Telma aus. "Wie geht's, Jorge? Alles in
Ordnung?", fragt sie. "Ja, ja", nuschelt der Angesprochene und
lächelt verlegen, "wie's halt so geht, man hat's nicht leicht." Er
steht da mit offenem Mund und verzieht sein Gesicht zur Grimasse. Sein
Gebiss bedürfte einer Generalüberholung.
Jeden Tag fahren Telma
und Diana mit ihrem weißen Kleinbus auf den großen Parkplatz von Cruz
Vermelha, einem seelenlosen Neubauviertel im Norden Lissabons. Kaum
haben sie die rückseitige Tür des Fahrzeugs geöffnet, wanken schon
die ersten Gestalten heran, einzeln, vor allem Männer, einige kaum 20
Jahre alt, andere über 50. Und alle kommen sie mit einem kleinen
Rucksack. Sie tauschen ihre blutverschmierten Spritzen und verrußten
Alu-Folien gegen sauberes Material aus. Eine Frau bittet um Kondome.
Diana gibt ihr zehn Stück und - nach inständigem Bitten -
schließlich noch mal zehn.
Telma und Diana, 27 und 25 Jahre alt,
tragen knallgelbe Jacken mit der Aufschrift "Equipa da Rua" -
Straßenteam, Streetworker. Sie kennen ihre Kunden, wissen,
wer zu Hause bei Vater und Mutter schläft, wer von seiner Frau
verlassen wurde, wer wieder rückfällig geworden ist, wer Ärger mit
der Polizei hatte. Sie halten mit jedem ein Schwätzchen, scherzen
und ermahnen, keine Spritzen wegzuwerfen. Spielende Kinder könnten sich
verletzen und mit dem HIV-Virus infizieren oder mit Hepatitis C. Einigen
Männern sieht man ihre Sucht kaum an. Die meisten aber sind von der
Drogenabhängigkeit schwer gezeichnet, sehen elend und kaputt aus,
tragen zerschlissene Klamotten, frieren und zittern.
Gekifft,
gekokst und gespritzt wird auch in der Pariser Banlieue und auf
dem Berliner Straßenstrich. Weltweit sind Kohorten von Polizisten im
Einsatz, um Handel und Konsum einzudämmen, Staatsanwälte und
Richter ersticken in Akten. 1972 hat US-Präsident Richard Nixon den "war
on drugs" ausgerufen: "Krieg den Drogen". Portugal aber hat,
weithin unbemerkt, schon vor zwölf Jahren einen anderen Weg
eingeschlagen.
So wie Falschparken
Vor zwölf Jahren trat in
Portugal ein Gesetz in Kraft, das den Konsum von Drogen und den Besitz
von bis zu zehn Tagesdosen für den Eigengebrauch
entkriminalisiert. Zwischen harten Drogen wie Heroin oder Kokain und
weichen wie Marihuana oder Haschisch wird nicht unterschieden. Wer mit
einem Gramm Heroin oder zwei Gramm Kokain oder fünf Gramm Haschisch
oder 25 Gramm Marihuana erwischt wird, geht straffrei aus.
"Damals wurde weithin befürchtet, dass Portugal schon bald zur
Destination eines neuen Drogentourismus werden würde", erinnert sich
Wolfgang Götz, "aber dies war dann eindeutig nicht der Fall." Götz ist
Direktor der Europäischen Behörde für Drogen und Drogensucht (EBDD),
einer Agentur der Europäischen Union mit Sitz in Lissabon. Sein
großes, lichtdurchflutetes Büro im fünften Stock liegt
direkt am Tejo, der hier an seiner Mündung zwei Kilometer breit
ist.
Die EBDD gibt jährlich einen Bericht über den Stand der
Drogenproblematik in Europa heraus. Die Befunde sind wenig erbaulich:
Etwa ein Prozent der erwachsenen Europäer konsumiert täglich Cannabis
in Form von Haschisch ("Shit") oder Marihuana ("Gras"); vier Prozent
aller Todesfälle unter Europäern im Alter zwischen 15 und 39 Jahren
sind drogeninduziert. Etwa eine Million europäische
Drogenabhängige standen 2010 in Kontakt mit Behandlungseinrichtungen,
50000 von ihnen - etwa zur Hälfte Heroinabhängige, zu 16
Prozent Cannabis-Konsumenten - begaben sich in eine stationäre
Behandlung.
In Portugal ist der Verkauf von Drogen generell
verboten. Es gibt, anders als in Holland, keine Coffeeshops, in denen
der Kunde die Wahl zwischen Joints aus afghanischem, libanesischem oder
marokkanischem Cannabis hat. Auch der Konsum von Drogen ist
weiterhin illegal, nur ist er seit zwölf Jahren entkriminalisiert. Er
ist kein Delikt mehr, sondern, ungefähr wie Falschparken, eine
Ordnungswidrigkeit, die allerdings in der Regel nicht bestraft
wird.
"Das wirklich Revolutionäre am portugiesischen Modell ist
nicht die Entkriminalisierung", sagt Brendan Hughes, Analyst bei der
EBDD, "auch andere Länder verzichten auf strafrechtliche Konsequenzen
des Drogenmissbrauchs." Tatsächlich kann - es liegt
im Ermessen der Strafverfolgungsbehörden - auch in
Deutschland seit dem "Cannabis-Beschluss" des Bundesverfassungsgerichts
von 1994 bei Besitz von geringen Mengen des Stoffs von einer
Strafverfolgung abgesehen werden. Welche Mengen für gering erachtet
werden, ist von Land zu Land verschieden, in Berlin dürfen es 15
Gramm Marihuana sein, in Bayern nur sechs. Das Einzigartige am
portugiesischen Modell aber, sagt Hughes, sei sein prinzipieller Ansatz:
Der Konsument von Drogen wird generell nicht als Krimineller,
sondern als Kranker begriffen. Zuständig ist deshalb nicht die
Polizei, nicht das Innenministerium und nicht das Justizministerium,
sondern allein das Gesundheitsministerium. "Portugal hat mit der
Mentalität der Bestrafung von Drogensüchtigen radikal gebrochen", sagt
Hughes, "und es praktiziert eine überzeugende Drogenpolitik,
die Prävention, Therapie und Resozialisierung integriert."
Und die Erfolge sind beachtlich. Unter der Diktatur gab es in
Portugal kaum Drogen, allenfalls Marihuana in den
afrikanischen Kolonien. Aber mit den rapiden gesellschaftlichen
Veränderungen, die auf die Nelkenrevolution von 1974 folgten, hatte
das Land schon bald ein massives Rauschgiftproblem. Mitte der
Neunzigerjahre spritzten sich schätzungsweise 100000
Portugiesen Heroin. Um die Jahrtausendwende hatte Portugal nach
England und Wales mit 0,7 Prozent die zweithöchste Quote Europas an
Bürgern, die einmal in ihrem Leben Heroin konsumiert haben. Zwölf Jahre
nach der Entkriminalisierung des Drogenbesitzes hat sich die Zahl der
Heroinsüchtigen vermutlich halbiert.
Wer bei einer Polizeikontrolle
mit Drogen für den Eigengebrauch erwischt wird, muss innerhalb von
72 Stunden bei einer Kommission zur Bekämpfung der Drogenabhängigkeit
vorsprechen. Es gibt 20 solche Kommissionen in Portugal, in
jedem der 18 Distrikte des Landes eine und weit draußen im Ozean je
eine auf Madeira und den Azoren. Jede der Kommissionen, die direkt dem
Gesundheitsministerium unterstellt sind, besteht aus drei Personen - in
der Regel einem Gesundheitsexperten, einem Psychologen und einem
Juristen.
Nuno Capaz gehört der Kommission für die Region
Lissabon an, bei der etwa ein Drittel der landesweit ungefähr 6000
Fälle abgewickelt werden, mindestens fünf pro Tag, manchmal zehn oder
mehr. "Etwa drei Viertel werden wegen Cannabis-Konsum zu uns
geschickt", sagt der 36-jährige Soziologe, "einige wenige wegen Ecstasy,
der Rest wegen harter Drogen. Wir sagen ihnen nicht, dass sie nicht
mehr rauchen dürfen, nicht mehr spritzen sollen. Wir weisen sie bloß
auf die gesundheitlichen Risiken hin, auf die möglichen juristischen
Folgen, wenn der Konsum mit Beschaffungskriminalität einhergeht.
Viele wollen ja gar nicht aufhören. Sie sind frei zu entscheiden."
Und wenn sie bei der Kommission nicht antraben? "Etwa ein Viertel
müssen wir tatsächlich ein zweites Mal auffordern", räumt Capaz
ein, "und notfalls können wir auch Sanktionen verhängen. Aber
in 90 Prozent der Fälle schließen wir das Dossier ohne Folgen für den
Drogenkonsumenten." Gegen mögliche Sanktionen - Pflicht zum
regelmäßigen Erscheinen vor der Kommission, gemeinnützige
Dienstleistungen wie Reinigung öffentlicher Gebäude oder Versorgung
alter Leute mit Fertiggerichten, kleine Geldbußen,
Führerscheinentzug oder gar Kürzung der Sozialhilfe - können die
Betroffenen bei einem Gericht Beschwerde einlegen. Wer den Sanktionen
nicht nachkommt, bekommt es mit der Justiz zu tun. "Unser
Ansatz ist es, Hilfe anzubieten", sagt Capaz, der schon seit zwölf
Jahren in der Kommission arbeitet, "nicht zu strafen. Bei uns steht der
Drogenkonsument nicht einem Mann in Uniform oder in einer Robe
gegenüber, einem Mann, der die Staatsgewalt verkörpert, sondern
eben einem wie mir, der im einfachen Pullover daherkommt. Und man setzt
sich zusammen an einen Tisch."
Das ist wörtlich gemeint. António,
ein 19-jähriger Abiturient, wird hereingeführt. Der junge Mann
sieht gut aus, ist adrett gekleidet, reicht den Anwesenden freundlich
die Hand, benimmt sich wie bei einem Vorstellungsgespräch - ganz Typ
Wunschschwiegersohn. Capaz bittet ihn, am Tisch Platz zu nehmen, setzt
sich selbst hin und überfliegt das Dossier, das ihm die Polizei hat
zukommen lassen.
António wurde in einem öffentlichen Park mit
5,8 Gramm Haschisch aufgegriffen - 0,8 Gramm mehr als die tolerierte
Dosis für zehn Tage. Deshalb kam er direkt vor Gericht. Aber ein
verständnisvoller Richter verzichtete auf eine Anklage. Er
schickte ihn zur Kommission. Capaz sagt, was er - in Variationen -
zehnmal am Tag sagt. Er hat Routine. António hört sich alles
schweigend an, nickt ab und zu zustimmend oder vielleicht auch nur
Zustimmung heuchelnd, zeichnet ein Blatt ab, womit er bestätigt,
dass er informiert, belehrt, ermahnt worden ist. Capaz wird ihm in
einer E-Mail bestätigen, dass sein Fall abgeschlossen ist. Wird der
Abiturient schon bald seinen nächsten Joint drehen? Capaz zuckt mit
den Schultern. Die ganze Prozedur hat fünf Minuten gedauert.
Engel mit knallgelben Jacken
Aber António war eben auch der eher harmlose Fall. Haschisch ist zwar
nicht ungefährlich, aber doch eine weiche Droge und mit deutlich
weniger Suchtpotenzial als etwa Alkohol, zudem relativ
billig und für die Beschaffungskriminalität deshalb ein
zweitrangiger Faktor. Mit Heroinsüchtigen hingegen dauern Capaz'
Gespräche oft länger. Viele Fixer können sich das Geld für den Stoff
nur auf kriminellem Weg besorgen. Wer eine Handtasche stiehlt oder eine
alten Mann überfällt, kriegt es - wegen Diebstahl, Raub oder
Körperverletzung - auch in Portugal mit der Justiz zu tun, ob er nun
Vegetarier oder Drogenabhängiger ist. Und viele Heroinsüchtige stecken
sich mit Hepatitis oder gar Aids an, weil sie keine sauberen Spritzen
verwenden. Ihnen rät Capaz dann oft, mit Taipas Verbindung
aufzunehmen.
Taipas ist der Name eines Zentrums für Betreuung
von Drogenabhängigen, das auf dem Areal eines großen Lissabonner
Krankenhauses Schwerstabhängige versorgt - in der Regel ambulant. Zur
Zeit nehmen 1500 Suchtpatienten die Dienste von Taipas in Anspruch.
Etwa 15 besonders schwere Fälle können ein oder zwei Wochen lang
stationär behandelt werden. Taipas bietet Psycho- und
Beschäftigungstherapien an und hilft Patienten - im Bemühen um ihre
Wiedereingliederung in die Gesellschaft - bei der Suche nach Arbeit
und Unterkunft.
Vor dem grauen Pavillon von Taipas bildet sich
jeden Morgen um neun eine lange Schlange von Menschen, denen die Sucht
ins Gesicht geschrieben steht. Sie kommen, um für eine oder zwei
Wochen Methadon zu fassen, eine Ersatzdroge für Heroin und Kokain, aber
weit weniger gesundheitsschädlich. 470 Drogenabhängige
sind im Substitutionsprogramm. "Im Schnitt dauert dieses zwei bis
drei Jahre", sagt Miguel Vasconcelos, der als Psychiater im Taipas
arbeitet, "15 Prozent sind HIV-positiv und über die Hälfte hat
Hepatitis C." Angesteckt haben sie sich über unsaubere Spritzen oder
Geschlechtsverkehr.
Einige der Patienten, die vor dem Pavillon
von Taipas um Methadon stehen, haben vermutlich Diana und Telma, den
beiden jungen Frauen, die mit ihrem Kleinbus täglich ins Lissabonner
Viertel Cruz Vermelha fahren und blutverschmierte Spritzen und verrußte
Alu-Folien einsammeln, ihr Leben zu verdanken. Doch jetzt, wo sie
die Hölle des Entzugs durchmachen, haben sich die Engel mit ihren
knallgelben Jacken längst im Nebel einer fernen Vergangenheit
aufgelöst. "Wir wissen nicht, was wir mit unserer Arbeit tatsächlich
erreichen", hatte Telma gesagt, "es gibt keine Ergebniskontrolle. Aber
wenn wir nur ein einziges Leben gerettet haben, hat sich die Arbeit
gelohnt."
Es klang, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.
©Berliner Zeitung
|