Die Türken als Helfer |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 15.05.2010 Noch weiß niemand, ob die 110 Milliarden Euro aus dem Westen Griechenland aus der Misere führen. Nachhaltige Hilfe aber könnte nun von Osten her kommen, ausgerechnet vom sogenannten Erzfeind Türkei. Gestern ist Premier Recep Tayyip Erdogan mit zehn Ministern und hundert Unternehmern in Athen gelandet. Er verkündete eine neue Ära in den türkisch-griechischen Beziehungen. Große Worte. Aber diesem Besuch könnte tatsächlich historische Bedeutung zukommen. Die Geschichte
lastet schwer auf dem Verhältnis zwischen den beiden Völkern. Fast 400
Jahre lang lebten die Griechen unter türkischer Herrschaft. Nach dem
Zerfall des multiethnischen Osmanischen Reiches am Ende des Ersten
Weltkrieges landeten griechische Truppen in Kleinasien und besetzten
Smyrna (Izmir). Nach der Rückeroberung metzelten die Soldaten Kemal
Atatürks allein in dieser Stadt 40 000 griechische Einwohner hin. Der
vierjährige Krieg zwischen den beiden Mittelmeeranrainern fand mit dem
Vertrag von Lausanne sein formales Ende: 1,25 Millionen Griechen wurden
aus Kleinasien nach Griechenland zwangsumgesiedelt und 500 000 Türken
aus dem europäischen Westthrakien in die neu gegründete türkische
Republik. Es war eine gigantische "ethnische Säuberung", abgesegnet von
der internationalen Diplomatie. Die Trennung der Völker galt als Lösung
eines uralten Problems. Doch die Lösung, geboren aus einem
völkischen Geist, gab dem Nationalismus auf beiden Seiten mächtig
Auftrieb und belastet das Verhältnis der beiden Staaten bis heute. So
blockieren türkische wie griechische Nationalisten jede Einigung im
Konflikt um Zypern. Seit 1964 sind Blauhelme auf der Insel stationiert.
Eine Lösung ist nicht in Sicht. Vielleicht aber doch. Erdogan will
für Entspannung sorgen. 21 Abkommen in den Bereichen Handel, Tourismus,
Umweltschutz und Industrie werden angestrebt. Unternehmer aus der
Türkei, die in diesem Jahr mit 3,5 Prozent Wirtschaftswachstum rechnet,
drängt es zu Investitionen in Griechenland. Die National Bank of Greece,
die größte Bank im klammen Staat, will in diesem Jahr in der Türkei 75
neue Filialen eröffnen. Sie machte im vergangenen Jahr im Nachbarland
mehr Gewinne als im eigenen Land. Vor allem aber drängt Erdogan
auf Abrüstung. Fast täglich kommt es im Himmel über der Ägäis zu
dramatischen Szenen. Türkische Kampfflugzeuge dringen in den
griechischen Luftraum ein und werden von griechischen Abfangjägern
vertrieben. Es geht um die Besitzrechte am Festlandsockel vor
griechischen Inseln. Der bizarre Konflikt zwischen zwei Nato-Staaten
führte in den letzten Jahrzehnten zu einem absurden Wettrüsten, das nun
möglicherweise zu Ende geht. Vom Waffenkauf profitierten vor allem
Deutschland und Frankreich. Die Türkei ist bis dato der wichtigste
Abnehmer deutscher Waffen, Griechenland der zweitwichtigste. Die Türkei
hat unter den Nato-Staaten nach den USA die zweitgrößte Armee.
Griechenland gibt 4,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die
Verteidigung aus, mehr als jeder andere Nato-Staat, abgesehen von den
USA. Trotz Krise will Griechenland beim französischen
Armaris-Konsortium für 2,5 Milliarden Euro sechs Fregatten kaufen. Die
170 Leopard-Panzer, die die deutsche Krauss-Maffei-Wegmann an
Griechenland geliefert hat, kosten 1,7 Milliarden Euro, die noch nicht
vollständig abbezahlt sind. Ein beträchtlicher Teil der Finanzhilfe für
Athen dient zumindest in diesem Jahr noch dazu, das Land in die Lage zu
versetzen, französische und deutsche Waffen zu kaufen. Auch das muss
jeder wissen, der Griechenlands Rückzahlungsfähigkeit anzweifelt wie
Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. Unter dem Druck der scharfen
Verschuldungskrise wird auch das Rüstungsbudget schrumpfen - Athen plant
eine radikale Kürzung ab 2011. Dass Erdogan Griechenland, dem
eifrigsten Verfechter eines EU-Beitritts der Türkei, nun mit einer
Charmeoffensive entgegenkommt, lässt hoffen, dass die Krise auf beiden
Seiten als Chance begriffen wird. Gefahr für eine historische
Aussöhnung kommt vor allem von den türkischen Generälen, die auf Rüstung
drängen und ihre Kampfflieger in den Himmel über der Ägäis schicken. Im
Sommer wird das türkische Volk über eine Verfassungsänderung abstimmen,
die die politische Macht der Armee entscheidend beschneiden soll.
Gewinnt Erdogan das Referendum, eröffnen sich neue Perspektiven. Dann
steht selbst der Abzug der 40 000 türkischen Soldaten in Nordzypern zur
Debatte. Noch hält ein Nato-Staat einen Teil eines EU-Staates besetzt. |