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WON OK GIL - Zertretene Ehre PDF Drucken

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 10.10.2010

Die Koreanerin Won Ok Gil wurde in japanischen Militärbordellen zur Prostitution gezwungen. Sie verlangt Entschädigung


BERLIN. Won Ok Gil schließt die Augen. Es dauert eine Weile, bis ihre Antwort kommt. Vielleicht muss sie sich erst die Bilder in Erinnerung rufen. Es ist ja alles mehr als 70 Jahre her. "Ich spielte mit drei Freundinnen auf der Straße", sagt sie schließlich, "da kam eine Frau auf uns zu und sagte, wir könnten in einer Fabrik arbeiten, Geld verdienen, und eine Ausbildung gebe es da auch. Hinter ihr stand ein Mann. Mich wollten sie zuerst nicht mitnehmen, weil ich zu klein war. Aber ich bettelte, bis schließlich auch ich mit durfte. Als ich am Bahnhof den Zug bestieg, hatte ich die anderen drei Mädchen aus den Augen verloren. Ich heulte, wollte zurück zu Mama. Da war es schon zu spät." Zwölf Jahre war sie damals alt. Fünf Jahre sollte der Horror dauern.



Won Ok Gil wuchs mit ihren vier Geschwistern in sehr armen Verhältnissen in Pjöngjang auf, der heutigen Hauptstadt Nordkoreas. Der Vater führte einen Gebrauchtwarenladen, die Mutter verkaufte Fische. Es muss 1939 gewesen sein, vielleicht auch 1940, als sie verschleppt wurde. Die koreanische Halbinsel war seit 1905 eine Provinz Japans. Nun herrschte schon seit zwei Jahren Krieg im Fernen Osten: Japan hatte China überfallen und eroberte ein Land nach dem anderen. In den besetzten Gebieten - in China, Thailand, Birma, Indochina, Indonesien -, aber auch in Korea und in Japan selbst richtete die Armee Hunderte von Militärbordellen ein, die sie "Troststationen" nannte. All dies wusste Won Ok Gil nicht, als sie in Pjöngjang ahnungslos auf der Straße spielte und von der Weltgeschichte eingeholt wurde.

Nach offizieller Lesart sollten die "Troststationen" den Kampfgeist der japanischen Soldaten steigern, sie vor Geschlechtskrankheiten schützen und Massenvergewaltigungen durch die Truppe in den besetzten Gebieten vorbeugen. Mehr als 200 000 Mädchen und Frauen wurden in die Prostitution gezwungen, etwa die Hälfte von ihnen Koreanerinnen. Sie wurden "Trostfrauen" genannt. Won Ok Gil war eine von ihnen.

Zum zweiten Mal verschleppt

Mit 82 Jahren ist sie nun nach Berlin gekommen, um über das Schicksal der Zwangsprostituierten zu berichten. Ihr kleiner Körper verschwindet fast im hellgrünen Hanbok, dem traditionellen koreanischen Kleid, das eine weinrote Schlaufe mit Silberbrosche ziert. Auf ihrer Visitenkarte steht: "Won Ok Gil, a survivor of Military Sexual Slavery." Eine Überlebende der sexuellen Sklaverei der Militärs.

Schätzungen zufolge überlebten nur etwa 30 Prozent der verschleppten Mädchen und Frauen den Krieg. Die allermeisten von ihnen schämten sich, hatten Schuldgefühle und erzählten nicht einmal den engsten Familienangehörigen von ihren schrecklichen Erfahrungen. Auch Won Ok Gil hat fast 60 Jahre lang aus Scham geschwiegen, das Tabu akzeptiert. Jetzt spricht sie.

Haus "Tokiwa" - auf Japanisch: Ewigkeit - hieß das Militärbordell im besetzten China, in das Won Ok Gil zuerst geschickt wurde. Als sie dort eintraf, hatte sie noch nicht einmal die erste Menstruation gehabt. Und als diese nach den ersten Vergewaltigungen einsetzte, war sie ratlos, wusste nicht, was mit ihrem Körper geschah. Eine erwachsene "Trostfrau" klärte sie auf, half ihr. "Aber richtig angefreundet mit den anderen Mädchen habe ich mich nie", sagt Won Ok Gil. "Ich hatte genug mit mir selbst zu tun, mit meinem Körper, mit meinen Schmerzen."

Jede Woche kam ein Militärarzt und kontrollierte die Frauen auf Syphilis und Tripper. Nach einem Jahr wurde Won Ok Gil nach Hause geschickt, weil sie geschlechtskrank war. "Andere wurden einfach getötet, wenn sie sich eine Geschlechtskrankheit geholt hatten. Ich hatte Glück", sagt sie.

"In Pjöngjang entfernte man mir eine Geschwulst und verletzte dabei die Eierstöcke. Nach vier Operationen war ich definitiv unfruchtbar." Won Ok Gil berichtet über ihre Geschichte so ungerührt, als spräche sie über eine andere Person. Vielleicht hat sie alles schon zu oft erzählt.

Als sie geheilt war, fand sie Arbeit in einer japanischen Munitionsfabrik. "Ich hatte erst wenige Tage gearbeitet, da schrie einer: 'Hanako!' Es war der japanische Namen, den man mir im Haus Tokiwa gegeben hatte." Der Mann, der sie erkannt hatte, war derselbe, der sie nach Hause begleitet hatte. Zum zweiten Mal wurde sie verschleppt, wieder in ein Soldatenbordell, wieder nach China. Won Ok Gil war inzwischen 13 Jahre alt. Von ihren Eltern konnte sie sich nicht mehr verabschieden. Sie hat sie nie wieder gesehen.

Im neuen "Trosthaus" ging es weit brutaler zu. Won Ok Gil beugt den Kopf und zeigt die Narben in der Schädeldecke unter ihrem ergrauten Haar. Auch ihre Beine sind von Narben übersät. Mit dem Säbel zerschnitten die Soldaten ihre Kleider, wenn sie sich nicht schnell genug auszog. Täglich wurde Won Ok Gil von zehn, zwanzig und manchmal wohl auch noch mehr Männern vergewaltigt.

Die alte Frau erzählt vom Grauen in einem nüchternen Ton. Es liegt alles weit zurück, sehr weit. Aber auch heute noch kämpft sie mit den physischen und psychischen Folgen. Sie nimmt täglich Tabletten, hat Albträume.

Im August 1945, eine Woche nach dem Abwurf der US-Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, sprach der japanische Kaiser Hirohito, dessen Stimme zuvor in der Öffentlichkeit nie vernommen worden war, im Radio, um seine Untertanen auf die bevorstehende Kapitulation einzustimmen. Um des Friedens willen müssten die Japaner "das Unerträgliche ertragen", sagte er. Won Ok Gil, damals 18 Jahre alt, hat diese Worte nicht gehört. Sie wären ihr wie der reine Hohn vorgekommen.

Als kurz darauf die eine Million Mann starke japanische China-Armee die Waffen streckte, "waren die Soldaten von einem Tag auf den andern weg, und wir 'Trostfrauen' waren unter uns", erinnert sich Won Ok Gil. "Nach einigen Wochen hörten wir von einem Schiff, das nach Korea fahre. Wir eilten zum Hafen."

In Incheon betrat Won Ok Gil im Herbst 1945 wieder heimatlichen Boden. Zur Familie zurückkehren mochte sie nicht. Eine Ausbildung hatte sie nicht. So schlug sie sich mit dem Verkauf von Obst, Gemüse und Stoffen durchs Leben. Und sie adoptierte einen Säugling, den ihr eine Marktfrau gleich nach der Abnabelung hingelegt hatte. Geheiratet hat sie nie - "ich hatte ja immer Schmerzen". Aber auf ihren Adoptivsohn, der heute 52 Jahre alt ist und als evangelischer Pfarrer arbeitet, ist sie stolz. Um ihm das Studium zu ermöglichen, hat sie oft nur einmal am Tag gegessen.

Alles abgegolten

Über ihre leidvolle Vergangenheit aber erzählte sie auch ihm nichts. Das Schicksal der "Trostfrauen" war absolut tabu, sowohl in Japan als auch in Korea. Die Opfer behielten ihren Schmerz für sich. Erst 1991 brach eine ehemalige Zwangsprostituierte das Schweigen. In einer vom Fernsehen übertragenen Pressekonferenz berichtete die Südkoreanerin Kim Hak Soon über ihr Leben als "Trostfrau" in einem Bordell der japanischen Armee.

Seit 1992 demonstrieren die Opfer und ihre Angehörigen jeden Mittwoch vor der japanischen Botschaft in Seoul und verlangen, dass die Regierung in Tokio die "Trostfrauen" endlich entschädigt. Won Ok Gil zögerte noch bis 2003, ehe sie zum ersten Mal zu der Kundgebung ging und sich damit outete.

Wie sie haben allein in Südkorea seit der Pressekonferenz von Kim Hak Soon 233 Frauen ihre Leidensgeschichte öffentlich gemacht. Heute leben noch 83 von ihnen. "Lieber Herr Außenminister", schrieben sie in diesem Frühjahr an Japans obersten Diplomaten, "wir kämpfen weiter darum, jeden Tag zu überstehen, um unsere zertretene Ehre wiederzuerlangen. Das kann nur durch die Öffnung aller Archive, durch eine offizielle Entschuldigung und Entschädigung geschehen."

Eine Antwort erhielten sie nicht. Japans Regierung stellt sich auf den Standpunkt, dass mit dem 1965 mit Südkorea abgeschlossenen Reparationsabkommen sämtliche Ansprüche abgegolten seien. Von der Zwangsprostitution ist in dem Vertrag nirgends die Rede.

Zwei der Verfasserinnen des Briefes sind inzwischen gestorben. Die Überlebenden sind alle über 80 Jahre alt. Es scheint, dass Japan auf eine biologische Lösung setzt.

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Der Blick in die Welt, Thomas Schmid