Messias und Despot |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 11.12.201
Vor 20 Jahren wählte Haiti den Armenpriester Jean-Bertrand
Aristide zum Präsidenten. Er wurde von der Macht geputscht und wieder
gewählt. Doch das Regime des linken Befreiungstheologen endete in Chaos
und Gewalt
Erdbeben, Cholera, Wirbelstürme, Überschwemmungen - und nun die Unruhen nach den manipulierten Wahlen. Auf Haiti scheint ein Fluch zu lasten. Kein Lichtstreifen am Horizont, keine Hoffnung. Das war nicht immer so. Vor 20 Jahren herrschte im Karibikstaat eine Aufbruchstimmung, die sich Haitianer heute kaum noch vorstellen können. Die meisten Haitianer glaubten, endlich dem Teufelskreis von Gewalt und Elend zu entkommen. Nach 30 Jahren Diktatur von François und Jean-Claude Duvalier - "Papa Doc" und "Baby Doc", während der mindestens 30000 Menschen ermordet wurden, und nach fünf weiteren Jahren Militärherrschaft war der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide bei den ersten freien und fairen Wahlen des Landes am 16. Dezember 1990 mit mehr als 67 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden. Es war eine Zäsur in der Geschichte Haitis. Nach der Herrschaft blutrünstiger Diktatoren, die das Land gnadenlos ausgeplündert und immer nur in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten, versprach sich das Volk vom schmächtigen Salesianerpater so etwas wie blühende Landschaften. Geboren wurde
Aristide 1953 in Port-Salut, einem kleinen Ort im äußersten Südwesten
Haitis. Seine Eltern waren arme Kleinbauern. Er war drei Monate alt, als
sein Vater starb. Mit der Mutter und der älteren Schwester zog er
danach in die Hauptstadt Port-au-Prince, wo er bei den Salesianern in
die Schule ging. 1966 trat er ins Priesterseminar des Ordens ein. Nach
einem einjährigen Noviziat in der benachbarten Dominikanischen Republik
studierte er in Port-au-Prince Philosophie und Psychologie. 1982 erhielt
Aristide die Priesterweihe. Als er in Predigten die Duvalier-Diktatur
angriff, schickte ihn der Orden für drei Jahre ins kanadische Exil. Dort
erwarb er einen Magister in biblischer Theologie. 1985 kehrte auf die
Insel zurück und wurde Pfarrer der Kirche Saint-Jean-Bosco am Rand von
La Saline, einem der trostlosesten Elendsviertel der Hauptstadt. Noch
herrschte "Baby Doc" über das Land. Doch Aristide nahm kein Blatt vor
den Mund. Und so wurde der unerschrockene Priester und mutige Prediger
schon bald zum bekanntesten Vertreter der "ti legliz", wörtlich der
"kleinen Kirche", der Kirche der Armen, die sich an der
Befreiungstheologie orientierte und wesentlich zum Sturz der
Duvalier-Diktatur beitrug. Als "Baby Doc" im Frühjahr 1986 vor
einem Volksaufstand ins Exil floh, übernahm die Armee die Macht. An der
Repression änderte sich wenig. Folter und Mord blieben auf der
Tagesordnung. Jeden Dienstag wurden die Besucher von Aristides
Jugendgottesdienst vor der kleinen Kirche Saint-Jean-Bosco mit einem
Steinhagel empfangen. Oft fielen auch Schüsse. Im Oktober 1988 griffen
rund hundert zivile Schergen des Regimes während eines Gottesdienstes
die Gläubigen an, töteten mit Äxten und Macheten zwölf Personen und
setzten die Kirche in Brand. Aristide blieb unverletzt. Zwei
Monate nach dem Attentat wurde Aristide aus dem Orden der Salesianer
ausgeschlossen - wegen "Aufwiegelung zu Hass und Gewalt und Beschwörung
des Klassenkampfs". Das Verdikt des Generalsuperiors der Salesianer
wurde von der zuständigen vatikanischen Kongregation abgesegnet. Dem
Ansehen des populären Armenpriesters tat dies keinen Abbruch, hatte er
doch schon seit Langem die Kollaboration des hohen Klerus mit der
Diktatur angeprangert. Im Jahr 1990 mussten die Militärs, vor allem
unter dem Druck der USA, Wahlen zulassen. Erst als zwei Monate vor dem
Urnengang eine Duvalieristische Partei gegründet wurde, die Roger
Lafontant, den aus dem Exil zurückgekehrten ehemaligen Innenminister
"Baby Docs", als Präsidentschaftskandidaten aufstellte, schickte die
Linke Aristide ins Rennen. Der Armenpriester erhielt gleich in der
ersten Wahlrunde über zwei Drittel aller Stimmen. Im Februar 1991
trat Aristide sein Amt an. Er erhöhte den Mindestlohn um 50 Prozent auf
sieben US-Dollar täglich, setzte Preissenkungen für wichtige
Lebensmittel durch. Aber ein kohärentes Wirtschaftsprogramm hatte er
nicht. Außerdem blockierte das Parlament die meisten seiner
Gesetzesvorhaben. Die Hoffnung in den Elendsvierteln war groß - groß
aber war auch die Angst der wohlhabenden Wirtschaftselite des Landes,
die sich mit der Diktatur gut arrangiert hatte. Im September 1991
zirkulierte in Haiti ein Video-Film, der die Obsessionen der Oberschicht
unterfütterte. Da ist ein Aristide im weißen Anzug zu sehen, der vor
seinen Anhängern eine feurige Rede hält und "Père Lebrun" huldigt. "Ein
schönes Instrument", sagt er, "es riecht auch so gut." Lebrun ist der
größte Reifenhersteller Haitis, und "Père Lebrun" ist die Form der
Lynchjustiz, bei der dem Opfer ein brennender Autoreifen um den Hals
gelegt wird. Im September lynchten Anhänger Aristides den evangelischen
Pastor Sylvio Claude, einen der historischen Oppositionsführer während
der Duvalier-Diktatur, der zugleich ein scharfer Kritiker des neuen
Präsidenten war. Aristide konnte sich keine acht Monate an der
Macht halten. Ende September 1990 putschten die Militärs erneut. Der
Präsident konnte sich in letzter Minute nach Venezuela absetzen und ging
danach ins Exil in die USA. Vor dem Terror der Diktatur von General
Raoul Cédras, dem über 5000Haitianer zum Opfer fielen, flüchteten
Zehntausende Haitianer in Booten übers offene Meer. Die meisten der
"Boat-People" wurden vor der Küste Floridas abgefangen und auf die
US-Basis Guantßnamo gebracht. Die Massenflucht der unerwünschten
Haitianer war wohl der Hauptgrund für eine von der Uno abgesegnete
militärische Intervention der USA. 1994 landeten 23000 US-Soldaten auf
Haiti und brachten Aristide in sein Amt zurück. Cédras durfte nach
Panama ausreisen. Als erste Amtshandlung löste der zurückgekehrte
Präsident die stets putschbereite Armee auf. Das kam bei den Massen an.
Doch der populäre Staatschef entpuppte sich immer mehr als Populist. Der
Staat war für ihn wie eine große Kirchengemeinde. Da stand er, der
Priester oder Präsident, und dort das Volk, das ihn wie einen Messias
verehrte. Dazwischen nichts. Aristide liebte den direkten Draht zu den
Massen. Von Instanzen und Institutionen, von Parteien und Parlament, die
sich zwischen ihn und das Volk drängten, hielt er nichts. Anderthalb
Jahre nach seiner triumphalen Rückkehr lief sein Mandat ab, und er
überließ seinem Zögling René Préval das Ruder. Im November 2000
kandidierte Aristide erneut fürs Präsidentenamt. Er gewann 92 Prozent
der Stimmen - bei einer Wahlbeteiligung von vermutlich rund fünf
Prozent. Die Opposition, die seine Rückkehr aus dem Exil betrieben
hatte, hatte zum Boykott aufgerufen, nachdem ein halbes Jahr zuvor die
Parlamentswahlen vom Aristide-Lager so grob gefälscht worden waren, dass
sich der 78-jährige Präsident der Wahlkommission in die USA absetzte
und aus dem sicheren Exil erklärte, er weigere sich, die Resultate des
betrügerischen Urnengangs bekanntzugeben. In den Elendsvierteln aber
hatte Aristide weiterhin eine solide Basis. Dass sich der ehemalige
Armenpriester am Stadtrand eine luxuriöse Villa gebaut hatte, nahm ihm
seine Gefolgschaft nicht übel. Auch nicht, dass er das Priesteramt gegen
den Ehering eingetauscht hatte. Mehr Murren verursachte hingegen, dass
er im Exil ausgerechnet eine Mulattin geheiratet hatte. Die Mulatten
bilden in Haiti traditionell die begüterte Oberschicht, gegen die
Aristide einst die Armen mobilisiert hatte. Dieser Oberschicht war
der schwarze Präsident schlicht ein Gräuel. Aber auch die politische
Opposition wehrte sich nun entschieden gegen Aristides selbstherrlichen
Regierungsstil. Der Präsident reagierte, wie es in Haiti üble Tradition
ist - mit Einschüchterung und Repression. Er setzte seine "Chimären"
ein, bewaffnete Gangs von Jugendlichen, hervorgegangen in der Regel aus
den "Volksorganisationen" von "Lavalas" ("Erdrutsch"), der amorphen
sozialen Bewegung, die einst Aristide an die Macht gespült hatte. Die
vom Regime bewaffneten Habenichtse aus den Elendsvierteln sprengten
Demonstrationen, setzten Häuser von Oppositionellen in Brand und
verbreiteten Terror, wo sich Widerstand regte. Die Gangs trugen
furchterregende Namen wie "Armee der Eisensäge", "Armee Al Kaida" oder
"Armee der spanischen Wespen". Auch die "Armee der Kannibalen", die in
Gonaives, der drittgrößten Stadt des Landes, zu Hause war, verstand sich
als Stoßtrupp des Präsidenten. Doch dann wurde im September 2003
die grausam verstümmelte Leiche von Amiot Métayer, dem Führer der
"Kannibalen", aufgefunden. Die Amerikaner hatten auf seiner Auslieferung
bestanden. Vermutlich hatte er gedroht, im Fall einer Festnahme sein
Wissen über die Bewaffnung der Chimären und die Verstrickung der
Entourage Aristides in den Drogenhandel preiszugeben und war vom Regime
zum Schweigen gebracht worden. Die "Kannibalen" waren empört, kündigten
Aristide die Gefolgschaft auf und brannten in Gonaives das Büro seiner
Partei und die Polizeistation nieder. Auch in Port-au-Prince machte sich
unter einigen Gangs Unzufriedenheit breit. Immer häufiger bekämpften
sich die Banden gegenseitig, machten sich das Terrain streitig und auch
die Kontrolle des Drogenhandels. Im zentralen Hochland Haitis
tauchten zudem Ende 2003 uniformierte Soldaten der neun Jahre zuvor
aufgelösten Armee auf. Ihr Anführer, Guy Philippe, war unter Aristide
einst Polizeichef in Cap Haitien, der zweitgrößten Stadt des Landes,
gewesen. Die zu Beginn nur etwa hundert Mann starke Truppe nahm nun
Stadt nach Stadt ein, wurde von Tag zu Tag größer. Als sie vor den Toren
von Port-au-Prince stand, gab Aristide auf, unterzeichnete eine
Rücktrittserklärung, bestieg ein US-Flugzeug und ließ sich in die
Zentralafrikanische Republik ausfliegen. Heute lebt er mit seiner Frau
und den beiden Töchtern in Südafrika. |