Ein verlorenes Jahr |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 12.01.2011 Der Goudou-Goudou, wie die Haitianer das Erdbeben in ihrer kreolischen Landessprache lautmalerisch nennen, dauerte 37 Sekunden. Dann lag Port-au-Prince in Trümmern. Der Nationalpalast, die Kathedrale, der Justizpalast, die Nationalbank, die Universität, das Hauptquartier der UN-Mission, 180 Regierungsgebäude und 105000 Häuser - alles Ruinen, unter ihnen begraben 230000 Menschen. Es ist heute ein Jahr her. Keine
leichte Aufgabe, eine dermaßen zerstörte Stadt wieder aufzubauen - erst
recht nicht für Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Doch
die Zerstörung bot auch die Chance, ein neues, anderes Haiti aufzubauen.
Sie wurde vertan. 2010 war ein verlorenes Jahr. Noch leben mehr
als eine Million Haitianer in Zelten, die sie in Camps, auf öffentlichen
Plätzen, zwischen den Ruinen, auf intakten Häusern oder dem Bürgersteig
aufgeschlagen haben. Erst fünf Prozent der Trümmer sind abgetragen. Nur
15000 Wohneinheiten sind gebaut worden. An Geld mangelt es nicht. Fast
zehn Milliarden Dollar hat die internationale Gemeinschaft für den
Wiederaufbau zugesagt, davon 2,1 Milliarden Dollar für das vergangene
Jahr. Davon sind zwar nicht einmal zwei Drittel tatsächlich geflossen.
Aber das Problem liegt anderswo. Es gibt in Haiti keinen
funktionierenden Staat, und es gibt keinen Masterplan für den Aufbau.
Weil der als korrupt verschrienen Regierung niemand Milliarden Dollar
anvertrauen wollte, aber Haiti an der Entscheidung über die Verwendung
der Hilfsgelder doch beteiligt werden sollte, wurde das Interimskomitee
für den Wiederaufbau Haitis gegründet, paritätisch besetzt mit
Ausländern und Einheimischen, geleitet vom früheren US-Präsidenten Bill
Clinton und dem haitianischen Premierminister Jean-Max Bellerive. Bei
diesem Komitee können Gelder beantragt werden. Bislang haben dies vor
allem Ministerien getan, um Vorhaben zu verwirklichen, die sie von ihrem
kargen Budget niemals finanzieren könnten. Dies führte zu einem
Wildwuchs von Projekten. Klare Prioritäten, feste Termine, präzise
Vorgaben, Regeln - all das gibt es nicht. Die Beteiligung der
Zivilgesellschaft am Wiederaufbau wurde nicht gesucht und war nicht
gewollt, obwohl haitianische Soziologen, Raumplaner, Stadtforscher und
Architekten, die sich auch organisierten, sehr bedenkenswerte Vorschläge
präsentierten. Sie drängten darauf, zunächst die zerstörten Städte in
der Provinz aufzubauen, dort gezielt landwirtschaftliche, industrielle
oder touristische Entwicklungspole zu schaffen und so eine Dynamik der
Dezentralisierung auszulösen. Von den 600000 Personen, die nach der
Katastrophe aufs Land flohen, kehrten vier Fünftel inzwischen wieder in
die Hauptstadt zurück, weil sie dort mehr Arbeitsmöglichkeiten erhoffen.
Eine vertane Chance. Vom Staat haben die Haitianer bislang wenig
Hilfe erhalten, umso mehr aber von den über 3000 NGOs: karitativen
Organisationen und kirchlichen Vereinen, von denen nur 500 im Land
überhaupt registriert sind. Sie arbeiten weitgehend unkoordiniert und
stellen für den Wiederaufbau staatlicher Strukturen bereits heute ein
Problem dar. Die wenigen haitianischen Ärzte und Fachleute, die nicht in
die USA oder nach Frankreich ausgewandert sind, arbeiten oft lieber
unter dem Dach einer NGO als in staatlichen Institutionen, wo sie nur
halb so viel verdienen. Schon mussten aus diesem Grund ganze Stationen
staatlicher Krankenhäuser schließen, weil ihnen das Personal weglief. Die
NGOs, die in Haiti wohl 150000 Arbeitsplätze - Fachkräfte, Fahrer,
Übersetzer, Wach- und Reinigungspersonal - geschaffen haben und über
Hilfsgelder in Höhe von zwei Milliarden Dollar verfügen, waren für die
Nothilfe unabdingbar. Doch nur wenige haben sich - im Rahmen einer Hilfe
für Selbsthilfe - um den Aufbau von Strukturen gekümmert, die sie
selbst überflüssig machen könnten. Der Staat seinerseits, dessen
Aufgaben die Nichtstaatlichen übernommen haben, ist weitgehend absent.
Die UN-Mission hat es nicht geschafft, funktionierende Behörden
aufzubauen. Auch die Durchführung fairer und freier Wahlen, auf denen
vor allem die internationale Gemeinschaft bestand, um mit einer
demokratisch legitimierten Regierung verhandeln zu können, ist gründlich
misslungen. Der zweite Wahlgang, der am kommenden Sonntag hätte
stattfinden sollen, wurde verschoben, weil die Regierung bei der ersten
Runde Ende November ihren Kandidaten wohl nur dank grober Fälschungen in
die zweite brachte. Offenbar haben auch viele Leichen mitgestimmt.
Heute erst, ein Jahr nach dem Goudou-Goudou, will die Regierung
beginnen, ein Register mit den Namen aller Toten anzulegen. |