Europas Mitschuld |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 17.01.2011 Am Schluss ging alles schneller als gedacht, und die Tunesier rieben sich täglich die Augen. Am Donnerstag verkündete ihr Präsident, der 23 Jahre an der Macht war, er wolle nicht lebenslänglich, sondern nur bis 2014 im Amt bleiben. Am Freitag flüchtete er ins Ausland. Am Samstag wurde sein Nachfolger, keine 24 Stunden im Amt, schon wieder durch einen neuen Mann ersetzt. Vieles erinnert - bei allen evidenten Unterschieden - an den Untergang der DDR vor über 20 Jahren. Die Menschen hatten die Angst und damit auch jeden Respekt vor der etablierten Macht verloren. Jedes Zugeständnis, mit dem der diskreditierte Potentat die Proteste eindämmen wollte, hätte vor einem Monat noch seine Position gestärkt, bewies nun aber nur noch seine Schwäche. Jeder Schritt, den er tat, kam zu spät. Jetzt mahnen die
Spitzenpolitiker in Brüssel, Berlin und Paris plötzlich alle Reformen
an. Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert zur Einführung einer
"wirklichen Demokratie" auf, und Frankreichs Staatspräsident Nicolas
Sarkozy will den "demokratischen Willen" der Tunesier unterstützen.
Welch erbärmlicher Opportunismus! Weshalb erst jetzt? Doch in der
Politik ist nun mal Moral oft eine taktische Größe. Natürlich wusste
Merkel, dass das Touristenparadies ein Polizeistaat ist ohne
Pressefreiheit, mit systematischer Folter und mit einer
parlamentarischen Opposition von Blockflöten. Selbstredend war Sarkozy
nicht entgangen, dass die Politmafia um den Präsidenten Zine El Abidine
Ben Ali sich die Reichtümer des Landes gesetzeswidrig unter den Nagel
gerissen hat. Trotzdem hat Tunesien als erstes Land südlich des
Mittelmeeres mit der EU 1995 ein Assoziationsabkommen geschlossen. Und
Ben Ali durfte mit gutem Grund hoffen, dass sein Land bald den Status
eines sogenannten fortgeschrittenen Partners und damit wirtschaftliche
und politische Vergünstigungen erhalten würde. Voraussetzung dafür sind
eigentlich Fortschritte in Sachen Demokratie und Einhaltung der
Menschenrechte. Aber die EU - die traditionell nach der französischen
Pfeife tanzt, wenn es um den Maghreb geht - hat beide Augen geschlossen. Für
die Unterstützung der Diktatur sprach ein starkes Argument: Im
Gegensatz zu Algerien und Marokko spielen die militanten Islamisten im
Polizeistaat Tunesien keine Rolle. Sie sind im Gefängnis oder im Exil.
Die islamistische Gefahr scheint gebannt. Aber es gibt keinen
Grund zur Annahme, dass eine Diktatur besser geeignet ist, die
islamistische Gefahr im Zaum zu halten, als eine streitbare Demokratie.
Im Gegenteil: Ein Blick auf Algerien oder Ägypten zeigt, dass der
Islamismus oft da stark wird, wo autokratische Regimes demokratische
Regungen unterdrücken und damit just jene gesellschaftliche Erstarrung
erzeugen, von der der Islamismus profitiert. Wenn die Islamisten in
Tunesien trotz den für sie insofern günstigen Voraussetzungen politisch
keine Rolle spielen, ist dies vor allem der in der Gesellschaft
verankerten laizistischen Tradition zu verdanken. Diese ist allerdings
nicht Ben Alis Verdienst, sondern das seines Vorgängers Habib Bourguiba,
der das Land von 1956 bis 1987 regierte. Sollten die Hoffnungen
auf Demokratie, die den tunesischen Unruhen zugrunde liegen, enttäuscht
werden, könnten allerdings auch in Tunesien islamistische Kräfte Aufwind
bekommen. Deshalb ist es wichtig, dass nun ein schneller Übergang von
der Diktatur zur Demokratie gelingt. Ben Ali hat es geschafft, den einen
Teil der politischen Opposition in sein Machtsystem zu integrieren und
den andern zu marginalisieren. So hat er eine politische Wüste
hinterlassen. Die Opposition konnte sich nur aus der Gesellschaft selbst
neu formieren und nahm unter diktatorischen Verhältnissen zwangsläufig
die Form einer Revolte an. Der neue Übergangspräsident Foued
Mebazaa hat eine Koalitionsregierung und Wahlen innerhalb von zwei
Monaten versprochen. Das ist gut, aber reicht nicht. Es muss nun ein
nationaler Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte beginnen, die sich auf
die demokratischen Prinzipien verpflichten - dazu gehören neben
Parteien auch NGOs, Gewerkschaften, Industrieverbände,
Menschenrechtsorganisationen. Tunesien braucht einen Runden Tisch. Die
Aufgabe ist gewaltig. Es geht darum, eine demokratisch legitimierte
Macht aufzubauen und die um den Clan von Ben Ali entstandene
Wirtschaftsmafia zu zerschlagen. Es gibt viele Leute, die dabei vieles
zu verlieren haben. Sie schüren in diesen Tagen Gewalt und Angst vor dem
Chaos. Die Angst der anderen aber war schon immer die stärkste Waffe
der Despoten. |