Die Unvollendete |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 22.01.2011 Der Diktator ist im Exil. 33 Mitglieder seiner Entourage, die sich die halbe Wirtschaft des Landes unter den Nagel gerissen hat, sitzen in Haft. Die vor Kurzem noch omnipräsente Staatspartei schmilzt wie Schnee in der Sonne. Die Jasmin-Revolution hat gesiegt. Tunesien ist frei, freier denn je, seit es vor 55 Jahren die Kolonialherrschaft abschüttelte. Lenin, von Beruf Revolutionär, meinte einst, zu
einer Revolution komme es, "wenn die oben nicht mehr können und die
unten nicht mehr wollen". Das war in Tunesien ungefähr der Fall.
Ungefähr, denn man muss auch diejenigen, die dazwischen sind, erwähnen. Anders
als die anderen Mahgreb-Staaten hat Tunesien eine relativ große
Mittelschicht, und gerade deren Sprösslinge, gut ausgebildete
Jugendliche, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt war und die,
anders als die Generation ihrer Väter, nicht mehr auswandern konnten,
standen im Zentrum der Revolte. Selbst Teile der begüterten Oberschicht
waren mit dem Regime unzufrieden, weil sich der Familienclan des
geflüchteten Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali schamlos Banken,
Fluglinien, Importlizenzen für Autos und was auch immer nach lukrativen
Geschäften roch, gesetzeswidrig angeeignet hatte. Es war eine
Revolution der Straße, organisiert über Facebook und Twitter,
unterstützt von lokalen Gewerkschaftssektionen. Entscheidend war
zuletzt, dass sich die Armee gegen Ben Ali stellte. Das Finale fand im
Präsidentenpalast in Carthage, beim antiken Karthago, statt. Dort
entmachteten Soldaten nach Schießereien die 3000 Mann starke
Präsidialgarde. Man sieht heute in Tunis Bilder wie in Portugal
während der Nelkenrevolution 1974. Dankbare Menschen umarmen Soldaten
und stecken Blumen in die Kanonrohre der Panzer. Die Armee, seit Ben
Alis Machtübernahme 1987 nie in die Repression verwickelt, ist durchaus
populär. Ihr Chef, General Rachid Ammar, hat sich dem Schießbefehl
widersetzt, wurde zwei Tage vor Ben Alis Flucht gefeuert, übernahm
danach aber sofort wieder den Oberbefehl und rettete die Revolution der
Straße. Ben Ali hat der Armee nie getraut und sie klein gehalten -
sie zählt nur rund 35000 Soldaten. Sein Regime stützte sich auf das
Heer von 180000 Polizisten und auf Milizen der Partei. Die allermeisten
Polizisten haben die Fahne nach dem Wind gerichtet und sich wohl auf die
Seite der Sieger gestellt. Das ist normal: Man will den Job behalten,
hat eine Familie zu ernähren, und der Chef hat sich schließlich ins
Ausland abgesetzt. Gefahr geht nun allenfalls von den bewaffneten
Anhängern der Partei aus, aber je schneller diese erodiert, desto
geringer wird auch die Gefahr. Die Revolution hat gesiegt, aber
noch ist alles offen. Noch ist sie längst nicht vollendet. Im Kabinett
dominiert die alte Riege. Dass Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi, der
zwölf Jahre in derselben Position dem Diktator gedient hat, im Amt
bleibt, ist schlicht eine Provokation. Nur zwei von mehr als 20
Ministern gehören der Opposition an. Ein solches Kabinett werden jene,
die auf der Straße ihr Leben riskiert haben, zu recht nicht akzeptieren.
Zwar mag es - nach der Ausschaltung der Präsidialgarde und der
Domestizierung der Polizei - zahnlos sein. Aber es wird zum Risiko, wenn
es den alten Kräften gelingt, ein Chaos zu erzeugen, und der Ruf nach
Ordnung laut wird. Der Diktator hat eine politische Wüste
hinterlassen. Die Dissidenten und Rückkehrer verdienen hohen Respekt,
aber Verwaltungserfahrung haben sie nicht. Deshalb wird ein
Übergangskabinett von Technokraten gebraucht, geleitet von einer
unabhängigen Persönlichkeit. In der zweiten Reihe wird man auf erfahrene
Verwaltungsbeamte aus dem alten Apparat zurückgreifen müssen. Aber
zumindest in den für die Sicherheitslage relevanten Ministerien muss die
alte Garde abtreten. Die wichtigste Aufgabe eines
Übergangskabinetts wird sein, die zivile Gesellschaft - dazu gehören
auch islamistische Kräfte - in einen nationalen Dialog über die Zukunft
des Landes einzubinden und Wahlen vorzubereiten, die einer künftigen
Macht demokratische Legitimität verleihen. Aus diesem Prozess halten
sich die europäischen Politiker am besten heraus. Die EU hat Ben
Ali in schamloser Weise gestützt. Frankreichs Außenministerin hat ihm
sogar noch drei Tage vor der Flucht Hilfe angeboten, um die Proteste
unter Kontrolle zu bekommen. Kein deutscher Regierungspolitiker hat sie
in die Schranken gewiesen. Die EU-Politik gegenüber Tunesien war seit
Jahrzehnten erbärmlich und verlogen. Wenn Sarkozy, Merkel und Konsorten
nun den Tunesiern wohlfeile Ratschläge in Sachen Demokratie erteilen,
ist das schlicht ein Skandal. |