Exodus der Gastarbeiter |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 28.02.2011
FLÜCHTLINGS BIS ZU DEN AUFSTÄNDEN WAREN DIE ÄGYPTER GERN
GESEHENE HELFER IN GADDAFIS LIBYEN.
JETZT FLIEHEN SIE ZU ZEHNTAUSENDEN VOR DER GEWALT, DIE SICH AUCH GEGEN
SIE RICHTET. MANCHE VERLIEREN DABEI ALLES, WAS SIE HABEN.
RASS AJDIR. Nur Männer. Überall nur Männer. Männer in Jeans oder Dschellabah, dem arabischen Männerrock, Männer mit Baseball-Mütze und Männer mit Kefyia, dem um dem Kopf geschlungenen Tuch. Die einen schlafen auf dem steinigen Boden, die andern hasten mit Koffern und schweren Bündeln zu Bussen. In Rass Ajdir, dem tunesisch-libyschen Grenzübergang in der Wüste, sind allein am Sonnabend über 12000 Ägypter eingetroffen, der Hölle Gaddafis entflohen. Abdelkalim Mantawi
sitzt auf einem Mäuerchen, einen schweren Koffer neben sich. Der
beleibte 51-jährige Koch ist vor anderthalb Stunden angekommen. 30 Jahre
hat er in Zauia, einer Stadt 30 Kilometer westlich von Tripolis,
gearbeitet, aber am Sonnabend packte ihn die Angst. Da tauchten
plötzlich Männer auf und machten Jagd auf Tunesier und Ägypter. "Es
waren Schwarze, aus dem Tschad und aus Niger, angeheuert von Gaddafi",
berichtet der Flüchtling, "ich habe sieben Tote gesehen, alle mit
Schusswunden." Von den 5000 Ägyptern in seiner Stadt, vermutet er, sei
höchstens ein Drittel geblieben. Mantawi bestieg mit fünf Koffern
das Auto eines Libyers, der ihn und weitere vier Ägypter zur Grenze
fuhr. Schon bei der ersten Kontrolle am Stadtausgang nahmen ihm die
Polizisten vier Koffer ab. Und sämtliches Geld, immerhin umgerechnet 25
000 Euro. Jetzt sitzt er völlig mittellos hier und will nur noch Hause,
zu seiner Frau und den beiden Töchtern, denen er monatlich Geld
überwiesen hat. Wie alle hier. Die Familien haben sie alle in ihrer
Heimat zurückgelassen. "Viele Libyer hassen die Ägypter" Aber
immerhin muss der Koch nicht hungern. Mitten in dieser riesigen Menge
gestrandeter Menschen haben drei Gymnasiasten einen langen Tisch
aufgestellt. Sie schmieren Brote. Einer schneidet sie auf, der zweite
bestreicht sie mit einer Paste aus Thunfisch und scharfer Harissa und
der dritte verteilt sie. Noureddine Seif-Ennasr, der Schuldirektor, und
ein Lehrer schauen zu. Als sie in Medenine, einer Stadt über hundert
Kilometer entfernt, vom Schicksal der Ägypter erfuhren, haben sie in den
Klassen Geld gesammelt, vierhundert Brote und ein Dutzend Eimer mit
Paste gekauft und sind mit einem Kleinbus losgefahren. "Da musste man
doch helfen", sagt Seif-Ennasr, als wäre es das Selbstverständlichste
der Welt. Auch Nasr Mahrus, 45, steht um ein Brot an. Er
schlottert in seinem dünnen Gewand mit Kapuze. 20 Jahre lang hat er in
Tripolis auf dem Bau gearbeitet. Er gehört der christlichen Minderheit
der Kopten an. "Seit Gaddafis Rede ans Volk", behauptet er, "hassen
viele Libyer die Ägypter." Nachdem fast alle seine Freunde gegangen
waren, kriegte auch Mahrus Angst vor den Spitzeln und Söldnern des
Regimes. Nun wartet er auf einen Bus, der ihn auf die tunesische
Ferieninsel Djerba bringen soll. Dort landen die ersten Flugzeuge aus
Ägypten, die Flüchtlinge umsonst nach Hause fliegen. Aber wie viele
Flugzeuge braucht man für die 12000 Menschen, die allein vorgestern die
Grenze überquert haben? Etwa anderthalb Millionen Ägypter
arbeiteten in Libyen, wo die Löhne doppelt so hoch waren wie in ihrer
Heimat. Die meisten fanden in der Cyrenaika, dem Osten des Landes mit
der Großstadt Bengasi, Arbeit. Viele von ihnen sind über die Grenze ins
benachbarte Ägypten geflüchtet. Wer jedoch in Tripolitanien, dem
Westteil mit der Hauptstadt Tripolis wohnt, dem bleibt zur Zeit nur der
Weg nach Tunesien. Bis Mitte vergangener Woche brauchten Ägypter für die
Einreise in den westlichen Nachbarstaat aber ein Visum. Doch
schließlich einigten sich die beiden Länder, die vor Kurzem erst ihre
autokratischen Herrscher verjagten, die Bürger des anderen Staates für
zehn Tage visumsfrei aufzunehmen. Seither kommen in Rass Ajdir täglich
mehr Ägypter an, Tunesier hingegen kaum mehr. Von den 60000, die in
Libyen arbeiteten, ist die Hälfte geflohen. "Der Weg ist nicht
ungefährlich", sagt Hatem Thabet, der als Grenzpolizist Informationen
über die Lage auf der anderen Seite sammelt, "Zuara, die nächste
libysche Stadt, 60 Kilometer entfernt, ist zwar unter Kontrolle der
Aufständischen, aber die Grenzpolizei, hundert Meter von hier, steht
loyal zu Gaddafi." Irgendwo dazwischen verläuft eine unsichtbare Front.
Dass Zuara als erste Stadt Tripolitaniens von Gaddafi abfiel, erstaunt
Thabet nicht. "In Zuara wohnen fast nur Berber, kaum Araber, und die
Berber, vernachlässigt vom Regime, waren schon immer gegen die
Zentralregierung in Tripolis." An der Grenze kümmert sich vor
allem die tunesische Armee um die Ägypter. Sie ist hier sehr beliebt,
weil sie in den entscheidenden Tagen der Jasmin-Revolution Mitte Januar
den Schießbefehl verweigert und dieser damit den Sieg gesichert hat.
Soldaten haben in einer riesigen Zollhalle ein Matratzenlager
eingerichtet. Hunderte von Flüchtlingen erholen sich hier von den
Strapazen und vom Stress der Flucht. Viele schlafen. Auf dem Weg nach
Ben Guerdane, der ersten Stadt auf der tunesischen Seite, werden alle
Ägypter in einem Militärcamp von Armeeärzten untersucht. Für den
Transport vom Grenzübergang vorbei an weidenden Dromedaren nach Ben
Guerdane sorgt das lokale Revolutionskomitee der Stadt, das sich nach
der Flucht des ins Exil gejagten Präsidenten Zine El-Abidine Ben Ali
gebildet hat. Es hat sein Büro im Kulturzentrum. Dort sind auch 441
Ägypter untergebracht. Das Komitee verteilt die Flüchtlinge auf sechs
weitere Aufnahmezentren: das Jugendzentrum, den Sportpalast und Schulen.
"In den letzten Tagen kamen täglich etwa 2000 Ägypter in der Stadt an,
Tendenz steigend", berichtet der Telefontechniker Miledi Bechir, der dem
Revolutionskomitee angehört, "und wir versuchen, sie möglichst schnell
nach Djerba zu bringen, wo schon die ersten Flugzeuge aus Ägypten
landen." Private Busgesellschaften stellen ihre Fahrzeuge zur Verfügung.
Ärzte und Krankenschwestern kümmern sich um Kranke. Auf der Bühne des
Theatersaals werden Thunfisch- und Käsesandwiches verteilt. Alles
kostenlos. Die Einwohner der Stadt bringen täglich Mineralwasser, Milch,
Brote, Käse, Harissa vorbei. Einer schwimmt gegen den Strom Bloß
4000 Seelen zählt Ben Guerdane. Und nun sind noch halb so viele
Flüchtlinge hinzugekommen. Zehntausend weitere warten an der Grenze.
"Jeder hilft, wie er kann", sagt Bechir, "die ganze Stadt zeigt ihre
Solidarität mit den Ägyptern." Dabei haben es die Menschen hier nicht
leicht. Die Stadt lebt vom Handel. Überall sind kleine Märkte. Fast
alles stammt aus Libyen: Tomaten, Käse, Schuhe, Handys, Benzin. Aber der
Grenzhandel ist zusammengebrochen. Dutzende von Geldwechslern sitzen
einsam in ihren Ständen, die die Hauptstraße säumen. Und das Benzin, das
vor einer Woche noch am Straßenrand überall in Plastikflaschen für 17
Dinar (85 Cents) pro Liter angeboten wurde, kostet nun 27 Dinar und
liegt damit knapp unter dem staatlich festgesetzten Preis. Alle
hier warten auf eine Beruhigung der Lage. Auch ein Mann, der seit fünf
Tagen schon täglich zehn Stunden im Internetcafé sitzt und vor allem die
Nachrichten durchforstet. Seinen Namen will er nicht nennen. Er ist
Libyer und will dahin, wo vorgestern 12000 hergekommen sind - in seine
Heimat. Er wolle den Sturz des Tyrannen vor Ort erleben, sagt er. Aber
noch ist ihm die Einreise zu gefährlich. |