Die Enkel des Löwen der Wüste |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.04.2011
Sie sind jung, todesmutig und unerfahren. Mit wehenden Fahnen
ziehen die Chabab in den Kampf gegen Gaddafis Spezialeinheiten. Viele
von ihnen bezahlen es mit ihrem Leben
BENGASI. So schön kann Revolution sein. Auf dem Hauptplatz von Bengasi, der direkt am Mittelmeer liegt, turnen Kinder auf einem Schützenpanzer herum, einige Hundert Männer beten gemeinsam auf riesigen Teppichen, die auf dem Asphalt liegen. Gleich daneben demonstrieren Frauen für ein freies Libyen. Musik schallt aus den Lautsprechern am Gerichtsgebäude, in dem kein Gericht mehr tagt und niemand mehr verurteilt wird. An einer Stellwand hängen Dutzende Karikaturen von Gaddafi. Der Diktator wird dem Spott preisgegeben. Die Hinterlassenschaften seiner geschlagenen Truppen - Hülsen von Artilleriegeschossen und Patronen, Gewehrmagazine, Stiefel, Helme, aber auch Dattelpakete, Spaghetti und Kekse, ja, sogar eine Puppe - sind wie Trophäen ausgestellt. Hier ist das Zentrum des freien Libyen. Überall lachende Gesichter, überall Fahnen. Auf dem Platz herrscht Feierstimmung. Auf die düstere Seite der jüngeren und jüngsten
Geschichte verweisen an den Mauern des Gerichtsgebäudes Tausende von
Fotos: Bilder jener 1247 Häftlinge, die Gaddafi nach einem Aufstand in
einem Gefängnis bei der Hauptstadt Tripolis 1996 innerhalb von wenigen
Stunden erschießen ließ. Und Bilder von Hunderten, die in den
vergangenen sieben Wochen gefallen sind, Märtyrer der Revolution. Unter
einigen Fotos stehen Telefonnummern. Die Angehörigen bitten um
Nachrichten über ihre vermissten Söhne, Brüder oder Cousins, die
vermutlich auch tot sind. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Heldenkult
um Sarkozy Vor diesen Bildern steht Mustafa. Vor zwei Monaten,
kurz bevor in Bengasi die Revolte begann, die schnell aufs ganze Land
übergriff, ist er 16 Jahre alt geworden. Damals studierte er noch
Gaddafis Grünes Buch, Libyens Bibel, in dem der Machthaber seine
Dschamahirija preist, eine Art Demokratie, in der angeblich das Volk die
Macht direkt ausübt. Heute steht Mustafa vor dem Gerichtsgebäude mit
zwei Fahnen in der Hand, der rot-schwarz-grünen, die unter Gaddafis
Vorgänger, König Idris, gehisst wurde, und der französischen Trikolore.
Präsident Nicolas Sarkozy, der auf die militärische Intervention
gedrängt hat, die vermutlich die Einnahme von Bengasi und somit ein
Massaker in der zweitgrößten Stadt Libyen verhinderte, wird hier überall
als Held gefeiert. Mustafa zückt sein Handy und scrollt. Bild um
Bild erscheint auf dem kleinen Display. "Das ist Ahmed, ich habe sehr um
ihn geweint", sagt er trocken, "das hier ist Omar, er war zu mir wie
ein Bruder, und das hier Abdul, gefallen vor vier Tagen." Elf Fotos hat
Mustafa gespeichert, alles Bilder von Freunden - Halbwüchsige,
erschossen in den vergangenen Wochen. In Privatautos und auf den
Ladeflächen von Kleinlastern sind die Chabab, die Jugendlichen, mit
wehenden Fahnen, alten Gewehren, viel Mut und auch viel Leichtsinn an
die Front gefahren, um gegen Gaddafis mit schwerem Kriegsgerät
ausgerüstete Spezialtruppen zu kämpfen. Die Bilder der Chabab sind
um die Welt gegangen. Auch jene ihrer panischen Flucht, ihres
ungeordneten Rückzugs, wenn die Ersten an der Front fielen und die
Granaten schwerer Artillerie einschlugen. Organisation, Gefechtsordnung,
Kommando - all das kennen die Chabab nicht. Das soll nun anders werden.
In Camps am Rand von Bengasi werden die kriegswilligen Jugendlichen und
Männer rudimentär ausgebildet. Pensionierte Offiziere erklären ihnen,
wie man Gewehre, Flakgeschütze, Raketenwerfer bedient, und wie man mit
Handgranaten umgeht. Sie bringen den künftigen Soldaten der Revolution
aber auch einige grundsätzliche Überlebensregeln ein: Bei Beschuss
sollte man sich hinwerfen und lieber Deckung suchen, statt dem Feind
ungezielt entgegenzuballern. Vorbei an wuchernden
Trabantenstädten, die wohl sobald nicht fertiggestellt werden, weil
Zehntausende chinesische Bauarbeiter in den letzten Wochen aus dem Land
geflüchtet sind, vorbei an einem Dutzend Wracks von Panzern, außer
Gefecht gesetzt von französischen Kampffliegern, vorbei an Skeletten
ausgebrannter Autos, erreicht man die Außenstelle des Camps. Hier
erhalten die jungen Männer den letzten Schliff, bevor sie an die
Verteidigungslinien oder an die Front gehen. Geschützdonner und
Explosionen erschüttern das kleine Lager mit einem Dutzend Zelten in der
Halbwüste. Zwei Jugendliche rösten Kartoffeln am offenen Feuer:
Pfadfinderstimmung, Soldatenleben. Weiter hinten stehen etwa
dreißig Männer in Reih und Glied. Nur wenige von ihnen tragen
Uniformstücke, entweder Jacke oder Hose - niemals beides. Die meisten
von ihnen sind zivil gekleidet: Jeans, Baseballmützen, Anoraks. Ein
Ausbilder schreit eine Parole. Recht martialisch bellen sie im Chor
zurück: "Freiheit für Libyen! Allahu akbar!" - Gott ist groß! Nein, es
sind keine Islamisten, nur fromme oder weniger fromme Muslime. Kahani
ist der Jüngste unter ihnen, kein stämmiger Bursche wie so mancher
hier, sondern von eher kleinem Wuchs und schmächtig gebaut. Das Gewehr
baumelt wie ein Fremdkörper an seiner Schulter. Der 17-Jährige ist erst
vor vier Jahren aus der Schweiz, wo er aufgewachsen ist, ins Land
gekommen. "Die Schweiz ist schön", sagt er in unüberhörbar helvetisch
gefärbtem Deutsch, "aber meine Heimat ist hier." Und nun wolle er eben
für ein freies Libyen kämpfen. Die Schulen seien ja ohnehin alle
geschlossen. Kahani will an die Front. Hat er denn keine Angst? "Nein,
überhaupt nicht", behauptet er, "wer Angst hat, sollte besser zu Hause
bleiben." Er sagt es mit gespielter Verachtung in der Stimme. Dann kommt
der Vater, ein Ingenieur, um seinen Sprössling zu besuchen. Er ist
sichtlich stolz auf ihn, aber doch auch besorgt. Ist er gekommen, um
sich zu verabschieden? Sieht er seinen Sohn vielleicht zum letzten Mal? "Die
Jungen wollen alle ganz vorne sein", sagt der Vizekommandant des Camps,
ein Ingenieur, der - wie er es formuliert - sein Laptop gegen das
Gewehr getauscht hat. Auch sein Vorgesetzter sei ein Zivilist, erklärt
er. "Die zur Revolution übergelaufenen Offiziere und Soldaten werden an
der Front gebraucht." Dann mustert er seine kleine Truppe, die sich
inzwischen vor einem Kleinlaster versammelt hat, auf dessen Ladefläche
ein Raketenwerfer montiert ist. Ein recht archaisches Bild. "Bis acht
Kilometer weit fliegen die Geschosse bei günstigem Wind", sagt Mohamed,
mit 30 Jahren der älteste der Rekruten. Die modernen Waffen der
Artillerie von Gaddafis Spezialtruppen haben eine Reichweite von 25bis
30 Kilometern. So sind die Verhältnisse. Die schwarzen Söldner Mohamed
trägt völlig verdreckte Jeans und spricht ein ausgezeichnetes Englisch.
In seinem früheren Leben war er Angestellter der libyschen Botschaft in
Stockholm. Vor sechs Jahren quittierte er den Dienst. "Man forderte von
mir, Exillibyer zu bespitzeln und regelmäßig über sie Berichte
abzuliefern", sagt er, "dazu war ich nicht bereit, es widersprach meinen
moralischen Vorstellungen zutiefst." An Gaddafis Dschamahirija hat er
nie geglaubt. Über das Grüne Buch habe man nur Witze gemacht. Aber das
Angebot, ins Ausland zu gehen, wollte er dann doch nicht ausschlagen. Nach
seiner Rückkehr nahm Mohamed ein Studium auf und arbeitete als
Handelskaufmann in der Automobil- und in der Nahrungsmittelbranche.
Studium und Job hat er erst mal an den Nagel gehängt. "Jetzt geht es
darum, das Regime Gaddafi zu beseitigen", sagt er, "wir wollen ganz
Libyen befreien." Bislang kontrolliert die Opposition vor allem den
Ostteil des Landes, im Wesentlichen die historische Cyreneika, in der
der größere Teil der Erdölfelder liegt. Der Westteil, Tripolitanien
genannt, ist mit Ausnahme von zwei belagerten oppositionellen Exklaven
in der Hand der Truppen Gaddafis. Das sind vor allem zwei
Spezialbrigaden, die beide von Söhnen des Diktators kommandiert werden,
sowie das gefürchtete Afrika-Korps, eine Truppe von schwarzen Söldnern
aus den südlichen Nachbarstaaten. Aber hat denn Gaddafi
tatsächlich im Ausland Söldner angeworben? Es wurde oft bestritten. Doch
für Mohamed ist es keine Frage. "Als ich im Hauptcamp war", behauptet
er, "habe ich mindestens zwölf schwarze Gefangene gesehen." Im Verhör
hätten sie angegeben, Gaddafi habe ihnen tausend Dollar pro Tag
Kriegseinsatz versprochen. Mohamed meint, militärisch sei der
Kampf gegen Gaddafi nicht zu gewinnen. Trotzdem wird er in drei Tagen
seinen Kriegsdienst antreten, nicht an der Front, sondern beim Ausbau
der Verteidigungslinien. Schon zweimal sind die Rebellen bis zu 250
Kilometer über die aktuelle Frontlinie hinaus vorgestoßen, konnten dann
aber den Geländegewinn nicht halten, weil es mit der Logistik nicht
klappte, kein Nachschub kam und es den Chabab wichtiger war, weiter
Richtung Tripolis vorzustoßen, als das eroberte Terrain abzusichern. Letztlich
gehe es darum, sagt Mohamed, den befreiten Teil zu verteidigen und den
militärischen Druck aufrechtzuerhalten, bis Gaddafi aufgibt - und das
nicht, weil die Rebellen sein Beduinenzelt beschießen würden, sondern
weil noch mehr Teile seiner Truppen desertieren, weil ihm wie der
Außenminister, der Innenminister und der Justizminister noch mehr
Personen aus seiner Entourage die Loyalität aufkündigen. "Die letzte
Schlacht wird in Tripolis geschlagen", vermutet Mohamed, "zwischen
abfallenden Truppen und solchen, die bis zuletzt kämpfen." Dann
könnte es in der Hauptstadt an vielen Orten so aussehen wie am Rand der
Innenstadt von Bengasi. Dort liegt oder, besser gesagt, lag die Katiba,
ein weitläufiges Gelände, einige Quadratkilometer groß. Hier residierte
Gaddafi, wenn er nach Bengasi kam, hier waren auch die Unterkünfte
seiner weiblichen Leibgarde und der Spezialtruppen, die das ganze Jahr
über in der Stadt stationiert waren. Die Katiba ist eine riesige Kaserne
mit einem Palast und einer Tribüne für die Auftritte Gaddafis, die
jetzt zertrümmert ist wie alles an diesem Ort. Überall
rußgeschwärzte Mauern, Löcher statt Fenstern, die Gebäude sind alle
abgebrannt. Dutzende verkohlte Autos stehen herum. Der Palast selbst ist
komplett zerstört. Was noch brauchbar war, wurde weggeschafft, der Rest
kurz und klein geschlagen. Nur noch einige Fayencen in den Ruinen,
etwas Goldverzierung an der Außenmauer und ein Whirlpool künden von der
einstigen Pracht. Mitten auf dem freien Gelände der Katiba gibt es zwei
große unterirdische Räume, die durch schwere Eisentüren verschlossen
sind. Luft kommt durch zwei vergitterte Öffnungen herein. Nach dem Abzug
der Spezialtruppen seien hier 37 Gefangene befreit und drei Leichen
geborgen worden, behauptet Hashemi, ein alter Mann, dessen
Italienischkenntnisse noch aus der Zeit von Mussolinis Besetzung des
Landes stammen. Wie zur Zeit der Faschisten Drei Tage haben
die erbitterten Kämpfe um die ummauerte Katiba gedauert. Auf der einen
Seite desertierte Armeetruppen und die todesmutigen Chabab, auf der
andern Seite die gut ausgebildeten Spezialeinheiten Gaddafis. In den
Häusern außerhalb der Mauern der zerstörten Kaserne sind überall
Einschüsse zu sehen. "Sie haben aus der Katiba heraus auf die
Bevölkerung geschossen", sagt Hashemi, der in der unmittelbaren Umgebung
wohnt und alles mit eigenen Augen gesehen hat, "es war schrecklich, wie
zu Zeiten der Faschisten." Und dann fragt er: "Kennen Sie Omar
Mukhtar?" Der "Löwe der Wüste" war der Anführer des Widerstands gegen
die italienische Besatzung, 1931 wurde er gefangen genommen, zum Tode
verurteilt und in Bengasi öffentlich hingerichtet. "Die Chabab setzen
das Werk Omar Mukhtars fort", sagt, mit großem Respekt vor dieser
Jugend, der alte Hashemi, dessen Vater von Mussolinis Soldaten
erschossen wurde. Auch viele jener Männer, die bei der Eroberung
der Katiba fielen, werden auf dem großen Platz im Zentrum Bengasis
geehrt. Die Porträts dieser Märtyrer, wie sie hier genannt werden,
zieren die Mauern des Gerichtsgebäudes. Es sind die Gesichter junger
Männer, wie man sie überall trifft. Einige blicken den Betrachter streng
an, andere etwas verkniffen, die meisten jedoch strahlen Lebensfreude
und Zukunftsgewissheit aus - wie die Chabab, die an die Front ziehen,
und von denen viele ihr Leben für eine bessere Zukunft der anderen
lassen. Die Verehrung der Märtyrer mag den Ausländer befremden. Hier
scheint sie selbstverständlich. "Sie gehören zu uns", sagte Mustafa, der
Junge, der die Bilder seiner toten Freunde im Handy gespeichert hat,
"sie sind für uns gestorben, sie leben in uns, wir werden sie nie
vergessen." Er sagte es ohne jedes Pathos. |